Das letzte Einhorn

 

Es steht dort oben, irgendwo, und schaut zu uns herab. Seine tiefblauen Augen sind voller Schmerz und Kummer. Es heißt Abschied nehmen von einer Welt, in dem es einen teuren Freund gefunden hat. Das Kind. Wieviel Spaß hat es gehabt mit diesem Wesen, dem keine Schuld bewußt ist, die Welt noch so sehen kann, wie sie wirklich ist. Doch es ist zu spät. Das Kind ist verschwunden.

Hör auf damit. Das ist doch schrecklich kindisch. Wann wirst du endlich erwachsen?

Viel ist passiert in all der Zeit. Die Menschen dieser Welt haben sich in ihrem Fortschritt verloren und schreiten so dem Natürlichen immer weiter davon. Die Welt ist kalt und grau geworden, die Farben sind verblaßt, Liebe ist zur Zweckmäßigkeit verkommen, Freundschaft existiert nur noch auf dem Papier. Das Kind ist schon so lange einsam gewesen. Viel zu lange.

Romantik? So etwas Kitschiges. Das ist doch alles nur Zeitverschwendung. Wer braucht so etwas heute denn noch?

Gefühle sind unwichtig geworden. Geld regiert die Welt. Erfolg zählt, sonst nichts. Ethik und Menschlichkeit werden praktiziert, ja, aber nur, wenn es Ruhm und Reichtum einbringt. Tränen sickern langsam in Seine Augen. Auf der Welt beginnt der Regen. Die Menschen flüchten in ihre Häuser. Irgendwo spielen Kinder auf der nassen Straße. Ihnen macht der Regen nichts aus. Dann kommt ihre Mutter, schimpft, und holt auch sie ins sichere, trockene Heim. Langsam läßt Es den Kopf hängen. Der Schmerz ist groß in Seinem Herzen. Wo ist das Kind geblieben. Ist es wirklich tot? Ist diese Welt, die Es so lieb gewonnen hatte, wirklich dazu verdammt, ihm zu folgen? Es kann und will so etwas nicht glauben.

Du Schlampe! Ich bringe dich um. Du hast mich das letzte Mal hintergangen.

Es schreit auf vor Schmerz. Ein leuchtend heller Blitz geht auf die Welt nieder, gefolgt von einem dunkel grollenden Donner. Was war geschehen? Was hat diese Welt so verändert? Es hat keine Antwort. Gibt es denn keine Hoffnung?

Von der Vergänglichkeit bedroht. Die Zeit, die du für deine Rose geopfert, sie macht deine Rose wertvoll.

Es steht irgendwo auf einer Plakatwand am Rande einer Stadt. Anstelle der Zweite "Rose" war da die Pflanze gezeichnet, die über die Zeit hinaus das stärkste und schönste aller Gefühle symbolisiert hat. Ein letzter Gruß des Kindes, als will es Ihm sagen:" Ich bin nicht tot. Ich lebe, versteckt und geschützt im Verborgenen. Ich komme wieder. Die Welt wird nicht sterben, sie wird nur neu geboren. Meine Zeit kommt wieder. Vergiß mich nicht."

Langsam wendet Es sich ab. Nein, Es wird seinen Freund, das Kind, niemals vergessen. Und auch Es selber wird zurückkehren, wenn die Zeit gekommen ist, wenn Träume wieder leben können. Die Wolken ziehen weiter. Ein farbenfroher Regenbogen erstreckt sich über das Land. Sein Geschenk an das Kind. Von weither hört Es sein Lachen, kristallklar und voller Unschuld. Es lächelt. Und geht. Nicht weit. Aber zu weit für irgendeinen von uns, um ihm zu folgen. Nur das Kind in uns wird Es immer in Erinnerung behalten. Das letzte Einhorn stirbt.

 

 

© “Der NachtPoet” Stefan Brinkmann, November 1993

 

 

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