Innenleben

 

Der junge Mann, der in die Empfangshalle stürmte, war ziemlich außer Atem. Er stützte sich erst einmal auf das Empfangspult und schnaufte kräftig. Dann holte er tief Luft.

"Ich hoffe, ich komme nicht zu spät."

Die Dame hinter dem Empfang schien erst jetzt auf den Mann aufmerksam geworden zu sein. Ihr Gesicht war ungewöhnlich schmal, ohne jedoch mager zu wirken. Sie blickte den Neuankömmling aus ihren großen, saphirgrünen Augen an.

"Besser spät als nie" erwiderte die Schönheit. Das Schild an ihrer weißen Bluse kennzeichnete sie als Sheela. "Was kann ich für sie tun?"

Ein verwirrter Ausdruck machte sich auf dem Gesicht des jungen Mannes breit.

"Äh, gute Frage. Nun, wissen sie, da ist dieses Mädchen, und ich hatte das Gefühl, es ist an der Zeit, etwas zu tun. Also kam ich hierher."

Die junge Frau blätterte durch einen Stoß von Akten, fischte eine heraus, öffnete sie. "Der Name des Mädchens ist ... Hm, ich verstehe." Dann, wieder an den Mann gewand: "Was wünschen sie sich eigentlich von diesem Mädchen?"

Langsam beruhigte sich der Atem des Mannes. Jetzt, von nahem gesehen und genauer betrachtet, war er wohl kaum älter als 20, eher jünger. Die Verwirrung übernahm immer deutlicher die Kontrolle über seine Züge.

"Was ich mir von ihr wünsche? Also... Nähe, Zuneigung, ein wenig Liebe, ein wenig Licht..."

"Glauben sie, daß diese Beziehung von Dauer sein wird?" Auf einmal war da ein silberner Kugelschreiber in Sheelas Hand, ein Blatt Papier mit vielen Spalten lag vor ihr.

"Nun, ich hoffe es. Ich meine, vorher weiß man das nie so genau."

Kreuz in einer der Spalten.

"Könnten sie sich vorstellen, mit ihr zusammenzuziehen?"

Erwartungsvolle, grüne Augen ruhten auf ihm.

"Äh, Moment, langsam. Ich kenne sie jetzt knapp zwei Monate, über so etwas habe ich noch nicht nachgedacht."

Kreuz, eine Spalte tiefer.

"Was erwarten sie in körperlicher, oder soll ich sagen fleischlicher Ebene von ihr?"

Der Ausdruck in Sheelas Augen blieb unverändert.

Langsam wurde der junge Mann nervös. "Das Geht jetzt wirklich zu weit. Ich meine, wenn ich so an die Sache herangehe, kann sich doch nie etwas entwickeln. Ich wünsche mir eine natürliche, gewachsene Beziehung. Kein Hoppla-di-hopp."

Der Stift kratze leise über das Papier, für jeden Querstrich ein kleines Knirschen. Wieder ein Kreuz.

"Wie oft wollen sie sie sehen?"

Die Frau schien nicht begriffen zu haben. "Verstehen sie nicht, äh, Sheela?! Es soll sich ergeben. Entweder, es paßt, oder nicht. Man kann eine Beziehung doch nicht planen!"

Sheela begann zu lächeln, und jetzt glomm ein Leuchten in ihren Augen auf.

"Was tun sie dann hier?"

Der junge Mann wurde bleich. Er blickte sich um, so, als bemerke er erst jetzt, wo er war. Glasklare, kristallerne Wände, die das Licht in tausend Arten brachen. Kristallklarer Verstand.

"Ist es schon so weit gekommen?" Es war mehr ein Murmeln an sich selbst gerichtet. Zu der Frau gewand, erwiderte er: "Tut mir leid, daß ich sie gestört habe, ich muß wohl ein paar Etagen tiefer." und stürmte hinaus.

Sheela lächelte immer noch, und räumte schnell den Platz, bevor Logik aus der Mittagspause zurückkam. Schutzengel hatten schon manchmal seltsame Aufgaben. Liebe und Zuneigung würden den jungen Mann schon gut beraten. Sie beschloß, sicherheitshalber eine Rose zu organisieren, die ihn daran erinnern sollte, was zu tun war. So trabte sie hinaus in die andere Welt, und ihr einzelnes Horn glänzte im Licht des Kindes.

 

 

© “Der NachtPoet” Stefan Brinkmann, Dezember 1994

 

 

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