Jahreszeiten

 

 

I Frühling

 

Das Tal sonnte sich friedlich in der aufgehenden Sonne, die ersten Lichtstrahlen des neuen Tages tauchten die Welt in ein verlockendes Gold. Irgendwo begrüßten hunderte von Vogelkehlen den Morgen mit einem fröhlichen Lied, und die Tiere des Waldes begannen mit ihrem Tagewerk.

Das Einhorn schnaubte leise, als das Sonnenlicht sein Horn berührte und es aufleuchten ließ. Sheela betrachtete fasziniert dieses Schauspiel, daß sie nun schon an die tausend mal gesehen hatte und doch nie seinen Zauber verlor. Sie drückte sich eng an den langen, schlanken Hals des magischen Tieres und streichelte seine Mähne.

„Guten Morgen, mein Freund. Möge dieser Tag so vollkommen werden wie all die vorhergehenden.“

Das Einhorn schnaubte noch einmal und stupste sie leicht mit der Nase an.

„Ja doch, ist ja gut.“ Sheela lächelte sanft und schwang sich auf den Rücken des Einhorns. Im wilden Galopp fegten sie hinunter ins Tal.

 

Das Einhorn graste gemütlich auf einer sonnigen Lichtung. Sheela blickte immer wieder von dem Blumenkranz in ihren Händen auf, um ihm zuzusehen. Die Hände hatten sich längst an das Spiel der Blumen gewöhnt, webten automatisch die schönsten Geflechte. Doch ihre Augen mochten das Wunder des Einhorns immer noch nicht begreifen. Wie lange zog es nun schon mit diesem Leib gewordenen Traum durch die Welten? Sie wußte es nicht zu sagen. Zeit hatte für das Einhorn keine Bedeutung, und auch nicht für jene, die es sich als Begleiter erwählte. Wie so oft in letzter Zeit blickte sie an ihrem jugendlichen Körper herab, der all die Jahre und Jahrzehnte leugnete, die nun schon vergangen waren. Ihre Hände fanden weitere Blumen und fügten sie dem Kranz hinzu. Auch dieser würde blühen und gedeihen, so lange sie ihn trug, obwohl er eigentlich der Zeit und dem Tod gehörte. Doch der Zauber des Einhorns bewahrte ihn davor. Nur, wenn sie ihn wieder ablegen sollte, würde er in Sekunden zu Staub zerfallen So, wie sie nicht mehr ohne das Einhorn sein konnte. Ihr Leben war auf alle Zeit mit dem seinen verbunden. Verbunden... nicht mehr und nicht weniger, und das schmerzte sie. Dieses Wesen war so schön und rein, daß es ihr gar nicht möglich sein konnte, ihm nahe genug zu sein. Allein sein Anblick ließ ihr Herz vor Freude fast zerspringen, und es war ein unfaßbar schönes Gefühl, das weiche Fell zu streicheln und in die tiefgrünen Augen zu blicken. Doch es schmerzte auch jedesmal ein wenig, denn sie wußte, auf seine Weise war ihr das Einhorn so fremd und unerreichbar wie irgend möglich. Und dieser Schmerz wurde von mal zu mal größer, unmerklich fast, und doch, jetzt nach all den Jahren, unmöglich zu ignorieren. Der Schmerz war es, an dem sie die Zeit maß, denn wo immer das Einhorn war, da war auch der Sommer.

Die letzte Blume fügte sich wie von selbst in den Kranz, und sie setzte ihn auf. Er war sofort wie ein Teil von ihr, ganz so, als ob sie ihn schon immer getragen hätte. Noch ein Geheimnis des Einhorns. Seine Gegenwart löschte alle Erinnerungen an das aus, wie es ohne Es gewesen war. Sie wußte nicht zu sagen, wie vor der Zeit mit dem Fabelwesen gelebt hatte, noch, wie und warum es sie auserwählt hatte. Es war einfach da, und das war mehr als genug.

Und doch... sie wurde müde. Es war, als ob ihr Körper zwar der Zeit entkommen war, ihr Geist jedoch in ihr gefangen. Der Schmerz ihrer Liebe zu diesem Geschöpf war wohl ein Grund dieser Erschöpfung, aber sicher nicht der einzige. Seufzend erhob sie sich und ging zu ihrem Freund, legte ihm den Arm um den Hals und drückte ihr Gesicht fest in das weiche Fell.

Das Einhorn verharrte regungslos und schnaubte leise. Eine einzelne Träne fiel zu Boden.

 

Er sah zu, wie sie sich wieder auf den Rücken des Einhorns schwang. Es bäumte sich einmal kurz auf und stieß ein kristallklares Wiehern aus, dann ritt es mit atemberaubender Eleganz in den Wald und war verschwunden. Für Estephan war es schon immer so gewesen, als ob Es nicht über den Boden trabte, sondern vielmehr schwebte, durch die Realität schwamm wie durch eine plötzliche Welle. Und wieder dieses Gefühl: Es gehörte nicht hierher.

Oh ja, auch er war fasziniert von der Schönheit des Einhorns, seinem Anmut und seiner Grazie. Doch es war eine kalte Faszination, eine Ehrfurcht, die an der schwelle der Angst lebte. Dieses Wesen machte ihm seine eigene Unzulänglichkeit, seine Fehler und Schwächen so überdeutlich klar, und dafür haßte er es. Und noch mehr, da es noch etwas besaß, daß er mehr begehrte als alles andere in der Welt:

Sheela.

Er hatte dieses seltsame Paar eines Tages bei der Jagd entdeckt, und war seitdem nie wieder von deren Fährte abgekommen. Es hieß, es sei unmöglich, der Spur eines Einhorns zu folgen, aber ihm gelang es nun schon seit über...

Er trat aus seinem Versteck, und seine Stirn legte sich in tiefe Falten. Er wußte es nicht. Es war sicher mehr als ein Jahr, aber in der Gegenwart dieses Wundertieres schien es keinen Winter zu geben.

Ein Schaudern ließ ihn sich schütteln, und er strich unbewußt über den Bogen, der an seiner Schulter hing. Er hatte ihn ernährt, seit er diese wahnwitzige Verfolgung aufgenommen hatte, und er vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Estephan wußte, das Silber ein Einhorn töten konnte. Und er hatte sich aus seinen letzten Silbermünzen einen ganz besonderen Pfeil gemacht...

Nicht, daß er sich vorstellen konnte, auf dieses wundervolle Geschöpf zu schießen... aber eine flüsternde Stimme sagte ihm, daß er vielleicht eines fernen Tages diese Meinung ändern würde, und dann vielleicht nicht mehr die Zeit hatte, einen solchen Pfeil zu fertigen.

Seine Augen erfaßten einen Punkt am Rande der Lichtung. Irgend etwas lag an der Stelle, an der das Einhorn in den Wald eingetaucht war. Mit schnellen Schritten ging er hin und fand den Blumenkranz, den das Mädchen auf der Wiese geflochten hatte. Aber wie war das möglich? Hatte sie ihn verloren? Das konnte er sich nicht vorstellen. Er hatte fest in ihren Haaren gelegen, fast wie angegossen, und sie saß ruhiger auf dem Rücken des Fabelwesens als manch ein altes Mütterchen in ihrem Schaukelstuhl. Konnte es sein... sein Herz schlug ihm bis zum Hals bei dem Gedanken, sie könnte ihn absichtlich für ihn zurückgelassen haben. Es war vom ersten Moment an sie verloren gewesen. Sie hatte sich an einem kleinen Wasserfall gewaschen und dabei leise vor sich hin gesungen. Das Einhorn lag am Rande des Wassers und hatte direkt in seine Richtung geblickt. Vor Schreck wie gelähmt war er unfähig gewesen, sich zu rühren, überzeugt davon, das Einhorn hätte ihn entdeckt und würde ihm im nächsten Moment für diese Freveltat mit seinem Horn durchbohren. Doch es achtete nicht weiter auf ihn, sondern schnaubte nur leise und zeigte dem Mädchen mit einem Nicken an, daß es Zeit sei, weiter zu reiten.

Als er sich endlich getraut hatte, hervorzutreten, waren die beiden schon lange verschwunden gewesen. Ohne große Hoffnung hatte er nach Spuren gesucht, die ihm zeigen konnten, daß das alles kein Traum gewesen war, und er hatte sie zu seiner größten Überraschung gefunden. Die Fährte des Einhorns lag für seine geschulten Augen gut lesbar vor ihm.

Doch nie seit dieser Zeit hatten die beiden etwas greifbares zurückgelassen. Bis jetzt. Mit zitternden Knien bückte er sich, um den Kranz aufzuheben.

Und erstarrte.

Die Blumen waren ganz welk und verblüht, ganz so, als läge der Kranz schon viele Tage hier und nicht erst seit ein paar Momenten.

Ungläubig starrte er auf die sterbenden Blumen in seinen Händen. Ein regen von bräunlich aussehenden Blütenblättern ging vor seinen Füßen nieder. Die Blumen starben schnell. Zu schnell.

Ein Teil von ihm begriff, was das bedeutete, für ihn, für Sheela. Doch er wollte, konnte es nicht wahrhaben, daß sie für ihn verloren sein sollte. Wut stieg in ihm auf, und mit einer ärgerlichen Handbewegung schleuderte er die Blumen zurück in das Gras. Er hatte schon immer gewußt, daß dieses Wesen nur Tod und verderben brachte. Das alles war Täuschung, Illusion. Doch er hatte es nun durchschaut. Und er würde sich holen, was ihm rechtmäßig zustand.

Entschlossen eilte er dem ungleichen und doch unzertrennlichen Paar nach. Der Köcher mit dem Silberpfeil drückte sich hart gegen seine Rippen.

 

II Sommer

 

Sie jagten über die Wiesen und Felder, in einer Atemberaubenden Geschwindigkeit. Tag und Nacht flogen im ewigen Wechsel an ihnen vorbei, und Sheela sah all die Wunder dieser Welt. Sie besuchten die Vögel der Wälder, die Wolfsrudel und die Wiege eines Neugeborenen Kindes. Sie ritten durch Wasserfälle und über den großen See, zu den Sternen und in die Wolken hinein. Sheela wußte die meiste Zeit kaum, wie ihr geschah. Sie sah die Wunder und Zauber kaum mit ihren Augen, so schnell flogen sie vorbei, doch ihr Herz bewahrte sie alle auf, und in ihren Träumen würde sie all das erlebte wieder und wieder verzaubern.

Manchmal meinte sie, einen jungen Mann zu sehen, der sich in den Büschen und hinter den Felsen versteckte. Einmal glaubte sie sogar, er hielte einen Bogen in den Händen, ein Pfeil auf der gespannten Sehne, und die Spitze funkelte kalt in Licht der untergehenden Sonne... aber dann war das Bild schon wieder verschwunden, und ein Schwarm von Schmetterlingen umtanzte das Einhorn und seine Reiterin.

Irgendwann kamen sie zur Ruhe, und Sheela schlief erschöpft an der Seite des Fabeltieres ein. Es war ein Traumreicher Schlaf, tausende Bilder umtanzten das Eine des Fremden, und ein Schatten lag auf seinem Gesicht.

Das Einhorn schlief nicht in dieser Nacht. Seine Augen waren weit geöffnet und schimmerten feucht. Es war fast Zeit.

 

Er hatte sie verloren.

Es war sinnlos, es noch länger zu leugnen. Drei Tage und drei Nächte irrte er nun schon durch die Gegend, und er hatte auch nicht die kleinste Spur von dem Einhorn oder Sheela gefunden. Seit er den verdorrten Blumenkranz gefunden hatte, waren die beiden spurlos verschwunden. Das Einhorn mußte gemerkt haben, daß er Es durchschaut hatte, und war mit Sheela geflüchtet. War sie etwa seine Gefangene...? Aber nein, sie hatte nie so ausgesehen, als ob sie gegen ihren Willen bei dem Einhorn bleiben würde. Obwohl... hatte er manchesmal, wenn er sich bis auf wenige Schritte an das Lager der Beiden herangewagt hatte, diesen Schmerz in ihren Augen gesehen? Er hatte es für eine Täuschung gehalten, aber vielleicht war dieser Schmerz inmitten all der Illusionen das einzig reale...

Nun, es hatte keinen Zweck mehr, sich darüber Gedanken zu machen. Er hatte seine Chance vertan, es war vorbei. Das Einhorn war verschwunden, und mit ihm Sheela. Was sollte er nun tun? Der Schmerz erwachte erst, und er war jetzt schon fast unerträglich. Konnte er, nach all dem, was er erlebt hatte, zurück in sein altes Leben? Estephan schüttelte den Kopf. Nein. Seine alte Welt war ihm zu klein geworden, und die Leere in ihm zu groß. Es gab keinen Weg zurück.

Erschöpft ließ er sich auf einen umgestürzten Baum sinken. Es war kühl, und das erste mal seit vielen Monden fror der junge Jäger wieder. Doch selbst bei glühender Hitze hätte er gezittert, denn die Kälte in ihm kam direkt aus seinem Herzen. Regungslos blieb er sitzen, bemerkte kaum, wie die bunten Blätter lustig um ihn herum tanzten und mit dem Herbstwind spielten.

 

III Herbst

 

Es war kalt. Sheela fror und drückte sich noch enger an den weichen Leib des Einhorns. Doch auch das Fell ihres Freundes wollte ihr keine Wärme spenden. Der Rückweg in das Land ihrer Träume blieb ihr verwehrt, und so wachte sie auf.

Ihr Körper war übersät von vertrockneten Blättern. Ein eisiger Wind fuhr durch ihr dünnes Kleid. Sie zitterte. Bisher hatte sie nie wärmere Kleidung gebraucht. Die Magie des Einhorns hatte sie von sämtlichen Unsäglichkeiten des Wetters geschützt.

Das Einhorn...

Es lag immer noch an ihrer Seite. Das Fell... es war so kalt. Sheela strich sanft über den Leib des Fabeltieres, zuckte zurück. Der Brustkorb bewegte sich kaum, das sonst so kräftig schlagende Herz war nur schwach zu spüren.

„Was ist mit dir?“ Sheelas Stimme zitterte. Sie fühlte sich verloren, hilflos. Etwas stimmte nicht mit dem Einhorn. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Und sie konnte doch nichts tun. Das Einhorn war mächtig und weise, sie war nur ein Mensch, dem die Gunst zugekommen war, dieses Wesen zu begleiten. Und nun...

Das Einhorn hob leicht den Kopf. Es schnaufte, und es klang wie ein Seufzen. Die Augen waren halb geöffnet, doch sie glühten nicht in dem magischen Licht, daß selbst in die dunkelsten Herzen leuchten konnte. Sie waren stumpf, matt, fast ohne Leben.

„Nein. NEIN!“ Sheela stürzte vorwärts, warf sich dem Tier um den schlanken Hals, drückte es fest an sich. „Das kannst du mir nicht antun. Das lasse ich nicht zu.“ Die Kälte war vergessen. Sie war ein Nichts gegen die Eisspeere, die sich in das Herz des Mädchens bohrten.

 

„Nein. NEIN!“

Estephan fuhr hoch. Diese Stimme... aber das konnte nicht sein. Er hatte die beiden doch verloren. Welch Ironie wäre es, wenn er so kurz vor dem Ziel resigniert hätte.

„Das kannst du mir nicht antun. Das lasse ich nicht zu.“

Ohne Zweifel, das war Sheela. Selten hatte er ihre Stimme gehört, doch die wenigen Male hatten sie unauslöschlich in sein Herz eingebrannt. Nun war sie voll Angst, Schmerz und Verzweiflung. Die Liebe seines Herzens brauchte seine Hilfe, und er stand hier herum um sinnierte über den seltsamen Humor der Götter.

Estephan rannte los, seinem Schicksal entgegen. Seine Faust war so fest um den Bogen geschlossen, daß die Knöchel weiß hervortraten.

 

Wieder schnaufte das Einhorn, doch dieses mal wirkte es beruhigend auf das Schluchzende Mädchen. Sie hob ihr Gesicht aus der weiß gleißenden Mähne des Einhorns und blickte es fragend an.

Mühsam erhob sich das Fabeltier. Fast sah es so aus, als käme es nicht mehr auf die Beine, und Sheela fragte sich, wie solch unerschöpfliche Kraft so schnell vergehen konnte. Sie dachte an die Blumenkränze, und wie schnell sie verdorrten, wenn die Magie des Einhorns nicht mehr wirkte. Aber wo war sie geblieben, diese zauberhafte Kraft?

Zweimal knickten dem Tier die Beine weg, und es brach zwischen dem verdorrten Laub zusammen. Beim dritten Anlauf jedoch blieb es stehen, zittrig zwar wie ein junger Baum im Wind, aber es stand, und etwas von dem alten Licht war in die Augen zurückgekehrt.

Auch Sheela erhob sich, und nun stand sie Auge in Auge mit ihrem Begleiter. Wieder fragte sie sich, wieviel Zeit sie mit dem Einhorn verbracht hatte, wie viele Winter um sie herum ins Land gegangen waren. Ihr altes Leben war unter einer Ewigkeit begraben, und sie wußte nicht, was sie ohne das Einhorn noch anfangen sollte. Angst hielt ihr Herz in seinen eisernen Klauen. Eine verirrte Träne suchte ihren Weg an ihrer Wange hinab.

Das Einhorn schnaufte wieder und machte zwei wackelige Schritte auf Sheela zu. Nun war es nahe genug, um Sheelas Stirn vorsichtig mit seinem Horn zu berühren. Das Mädchen ließ es gewähren.

Ein Feuerstrahl bohrte sich in ihren Kopf. Sheela schrie auf, mehr vor Schock als vor Schmerz. Dann verstand sie, erkannte den Feuerstrahl als Bilderstrom, der er war. Doch es waren so viele. Zu viele, zu schnell.

Das Einhorn schien ihre Verwirrung zu spüren, denn der Strom der Bilder verlangsamte sich. Langsam begann Sheela zu verstehen. Neue Tränen rannen ihr Gesicht hinunter. Endlich verstand sie wirklich.

 

Estephan hörte den Schrei. Er kam von rechts, und er war sehr nahe. Ohne es zu merken, glitt seine rechte Hand zu seinem Köcher. Während er sich vorsichtig durch die Büsche zu seiner rechten arbeitete, griff sie zielsicher den Pfeil mit der Silberspitze und legte ihn auf die Sehne seines Bogens.

 

Der Strom der Bilder versiegte, und Sheela machte zwei vorsichtige Schritte zurück. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie starrte das Einhorn verwundert an. Es war fast so, als würde sie das Wundertier in diesem Moment das erste mal wirklich sehen. Fragen und Antworten umtanzten einander in ihrem Kopf, fanden zueinander und gebaren neue Fragen, neue Antworten, neue Gefühle. Und im Zentrum von allem die Möglichkeit. Sie konnte sich ihren Traum erfüllen, ihren größten Wunsch. Sprachlos starrte sie auf das Einhorn, auf ihre Zukunft.

Das Einhorn schnaubte leise. Es war ein fragendes, drängendes Schnauben, und Sheela verstand. Sie nickte. Ihr Körper streckte sich, sie breitete ihre Arme aus und blickte dem Einhorn fest in die Augen.

Das Einhorn senkte seinen Kopf leicht, so daß sein Horn auf Sheelas Brust deutete. Es machte drei Schritte zurück. Dann, mit letzter Kraft, katapultierte es seinen Körper nach vorne und...

 

... brach durch die Büsche. Er sah gerade noch, wie das Horn die Brust des Mädchens durchbohrte, genau über dem Herzen...

Seine Hände hoben wie von selbst den Bogen

... wie Sheela aufschrie, und ihr ganzer Körper zu leuchten begann...

Seine rechte Hand zog den Pfeil mit der Silberspitze zurück

... wie die Gestalt von Sheela verschwamm, und da waren ganz viele Umrisse, ein Baby, ein Kind, ein junges Mädchen, Sheela, wie er sie kannte, eine ältere Frau, deren Schönheit mit der Zeit an Charakter gewonnen hatte, eine alte Frau, deren Leben langsam versiegte, und sie alle lagen übereinander, ineinander, durchdrangen einander, so wie das Horn sie alle durchdrang...

Seine rechte Hand ließ den Pfeil an Punkt der höchsten Spannung los

... wie das Licht, das einst Sheela war, von dem Horn aufgesaugt wurde und sich der Körper des Einhorns straffte, es seinen Kopf wendete und dem Jäger direkt in die Augen blickte...

Die Silberspitze blinkte kurz auf, bevor sie das so makellose Fell des Einhorns durchbohrte und frisches Blut das strahlende weiß rot färbte

... wie das Einhorn lautlos fiel. Ein Schrei verschluckte das dumpfe Geräsch des Aufpralls. Es war Estephan, der ihn ausgestoßen hatte. Der Pfeil ragte wie ein zweites Horn aus seiner Seite. Er hatte das Herz des Einhorns getroffen. Doch es war ihm, als steckte der Pfeil in seinem eigenen Herzen. Der Schmerz war unerträglich. Sheela war verloren, und er hatte das Einhorn getötet. Nur Tod und Zerstörung und Leid. Er rannte auf die Lichtung, und seine Füße wirbelten das trockene Laub auf.

Es begann zu schneien.

 

IV Winter

 

Das Einhorn lag flach atmend inmitten der Lichtung, ein weißer Fleck umrahmt von dem Rot und Orange des Herbstlaubes. Der rote Fleck um den Pfeil herum wuchs langsam an.

Der Jäger stand über dem Einhorn, sein Blick war voller Haß und Schmerz. Er wollte zusehen, wie diese Mißgeburt der Magie starb, wollte dem Mörder von Sheela dabei in die Augen sehen.

Das Schneetreiben wurde dichter, langsam deckte eine weiße Decke alles zu, auch den Blutfleck auf dem Fell des Einhorns. Es war fast, als wollte der Winter alles ungeschehen machen. Die dicken Flocken tanzten vor Estephans Augen, machten es ihm schwer, etwas zu erkennen. Atmete das Einhorn noch? Was würde geschehen, wenn es tot war? Würde es sich auflösen wie Sheela?

Der Pfeil in seinem Herzen drehte sich, bohrte seine Spitze noch tiefer, bis in seine Seele. Schweigend kniete er vor dem Untier nieder, starrte ihm direkt in das ihm zugewendete Auge. Er konnte das Lebenslicht in der Pupille sehen, konnte erkennen, wie es flackerte und langsam erlosch. Es konnte nicht mehr lange dauern. Ein bitteres Lächeln bildete sich auf Estephans Lippen. Es sah aus wie das Zähnefletschen eines Wolfes. Bald würden diese Augen für immer brechen.

Diese Augen...

Da war etwas in diesen Augen, etwas vertrautes. Seine Gedanken flohen durch die Zeit zurück, zu dem Tag, als er Sheela das erste mal erblickte, unter dem Wasserfall. Ihm war so gewesen, als hätten sich ihre Blicke kurz getroffen. Der Ausdruck in ihren Augen, dieser tiefe Frieden, gepaart mit der unendlichen Neugierde und tiefen Einsamkeit...

Das Einhorn schnaubte, und eine einzelne Träne verließ das Auge, berührte den Schnee und schmolz sich ihren Weg zur Erde. Das Auge, es hatte den gleichen Ausdruck wie das von Sheela, die gleiche unbekümmerte Unschuld, die gleiche energische Zartheit.

„Bei allen Göttern.“

Doch es war nicht nur Sheela. Hinter den Auge des Einhorns lagen noch viele andere Seelen verborgen, feine und wilde, grobe und zarte, junge, alte, und solche ohne Alter. Ihnen allen war eines gemeinsam. Sie waren voller Friede, ganz so, als hätten sie nach langer Zeit endlich gefunden, was sie gesucht hatten.

Und sie waren tief betrübt über die Tat des Jägers. Kein Zorn, kein Haß, nur verständnislose Trauer.

Estephan schüttelte seinen Kopf, erst langsam, dann immer schneller und heftiger. „Nein. Nein. NEIN!“ Aber er konnte es nicht mehr leugnen. Sheela war nicht tot, zumindest noch nicht, und nicht das Einhorn hatte sie getötet, sondern er. Verzweifelt griff er nach dem Pfeil, der immer noch in der Seite des Einhorn steckte, und riß ihn heraus. Wie durch ein Wunder brach die Spitze nicht ab. Anders bei dem Pfeil, der in seiner Seele steckte. Die Spitze blieb zurück, nur der Schaft schnellte heraus in Form eines haltlosen Schreies.

„SHEELA!!!“

Dann brach er über seinem Opfer zusammen, und Tränen rannen in die offene Wunde.

 

V Frühling

 

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne weckten Estephan. Er lag mit dem Gesicht zuerst im feuchten Gras einer Frühlingswiese. Das Einhorn war verschwunden.

Das Einhorn. Sheela. Langsam kehrten die Erinnerungen wieder, und mit ihnen die Schmerzen. Langsam stand er auf. Was sollte er nun tun? All seine Ziele, seine Ideale, sein Weltbild waren zu Staub zerfallen. Er...

Etwas schnaubte neben seinem linken Ohr. Etwas kühles bohrte sich in seinen Nacken.

Mit einem Aufschrei sprang er zur Seite, stolperte und rollte sich im Gras ab.

Ein wiehern ertönte. Es klang wie ein Lachen. Über ihm stand das Einhorn, strahlend weiß und makellos wie eh und je. Es scharrte mit dem Vorderhuf ungeduldig im Gras.

„Du lebst?!“

Estephan konnte es nicht fassen. Wieder wieherte das Einhorn, beugte seinen Kopf zu ihm herab und stupste ihn leicht mit der Schnauze an.

„Du lebst tatsächlich.“ Eine Träne entkam seinem Auge. Das ärgerte ihn, und so stand er wieder auf und wischte sie sich dabei unauffällig weg. Dabei blickte er dem Einhorn fest in die Augen. Sheela blickte von innen zurück.

„Du lebst.“ Als er den Satz zum dritten mal flüsterte, meinte er nicht das Einhorn, oder nicht nur. Er schlang seine Arme um den schlanken Hals, und jetzt weinte er hemmungslos und die Mähne hinein. Das Einhorn ließ ihn gewähren.

Später schwang er sich auf den Rücken des Einhorns, und wie selbstverständlich trabte das Fabelwesen mit seinem neuen Begleiter los. Ein neues Jahr hatte begonnen, und es würde ein langes Jahr werden. Estephan war glücklich. Das erste mal in seinem Leben verstand er, was Glück wirklich war. Und doch... er spürte einen Hauch von Einsamkeit in seinem Herzen, eine alte Wunde, die nicht heilen wollte. Er ignorierte sie. Das hatte Zeit. Viel Zeit.

Und so trabten sie dem neuen Tag entgegen...

„Sag mal, stört es dich, wenn ich dich Sheela nenne?“

... dem neuen Jahr ...

Ein Schnauben, belustigt, aber nicht unfreundlich

... zum Rand der Lichtung...

„Ich weiß, aber ich kannte nur die eine.“

... dorthin, wo ihnen keiner folgen kann.

Außer, er wünscht es sich durch seine Zweifel hindurch.

 

 

© “Der NachtPoet” Stefan Brinkmann, Sonntag, 30. März 1997, 20:30 Uhr

 

 

 

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