Drachenträume

 

Der Drache träumt...

 

... von der Jagd. Dem Flug. Dem Wind unter seinen Schwingen. Pfeilschnell durch die Lüfte gleiten, durch die Wolken schneiden, immer die Beute im Auge.

Die Beute. Wie sie läuft. Haken schlägt, um seinem feurigen Atem auszuweichen, seinen Krallen zu entkommen. Sich versteckt, im Wald, unter den Wipfeln der Bäume, die im nächsten Moment nur noch Asche sind. Wie sie schreit und weint und um Hilfe ruft.

Er spielt mit ihr, wie die Katze mit der Maus. Genießt die Jagd. Genießt ihre Angst. Fährt über sie hinweg, so nah, dass er die Angst riechen kann, und der Wind seiner Schwingen sie zu Boden drückt. Zögert es hinaus, so lange er kann, bis der Hunger den Rausch der Jagd übertrumpft, und er hinabstößt, ein letztes mal, und seine Krallen...

 

... sich um eine Zuccini schließen. Er schüttelt den Kopf, verwirrt. Woher dieser plötzliche Hunger nach Fleisch? Er hat davon gehört, von anderen Vegetariern. Manchmal passiert das, sagen sie. Einfach ignorieren. Manche gehen dann auch zum nächsten McDonalds, und stopfen sich einen Burger rein, und kotzen ihn gleich wieder aus. Aber ihm ist nicht nach Burger. Ihm ist nach Steak. Nach saftigem, blutigem Steak. Wenn Sandra das wüsste. Sie würde ausflippen. Veggie seit frühester Kindheit. Aus Überzeugung. Er liebt sie. Er liebt sie wirklich. Aber wenn er jetzt, in diesem Moment, die Wahl hätte, zwischen ihr und einem saftigen Steak...

Kopfschütteln, ein zweites Mal. Wie lange steht er hier jetzt schon, wie ein kompletter Idiot, eine Zuccini in der Hand, auf die er starrt wie hypnotisiert? Sekunden? Minuten? Ein Leben lang...

Er wirft sie achtlos in den Einkaufswagen. Wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären. Höllisch brennende Schmerzen, knapp hinter den Schläfen. Pochend wie riesige lederne Schwingen, als ob eine gigantische Fledermaus in seinem Kopf nistet. Seit drei Monaten geht das nun schon so. Seit er angefangen hat, auf Fleisch zu verzichten. Und dazu diese Träume...

 

... sie jagen ihn. Schon seit Tagen. In ihren eisernen Rüstungen, ihren spitzen Lanzen, ihren Bögen und Armbrüsten. Haben ihn aus seiner Höhle vertrieben. Er hat viele getötet. Unzählige. Aber es kommen immer mehr. Früher war es anders. Sie waren weniger, schlechter ausgerüstet. Hatten Angst, nein, Ehrfurcht vor den Königen der Lüfte. Aber jetzt, jetzt kannten sie keinen Respekt mehr, keine Gnade. So wie ihm ging es vielen seiner Artgenossen. Immer weiter drängten sie die Drachen in die Berge, auf die kalten, eisigen, unwirtlichen Gipfel. Und wenn sie ausgehungert und halb erfroren in die Täler flogen, um Wild zu jagen, dann warteten sie schon.

Ein Surren, dann reißt der Bolzen ein Loch in seinen rechten Flügel. Der Schmerz überwältigt ihn. Er brüllt, taumelt, windet sich in der Luft, versucht höher zu steigen, aus ihrer Reichweite. Ein Pfeil prallt wirkungslos von seinen Schuppen ab, nur eine Krallenbreite neben dem ungeschützten, weichen Fleisch an seinem Hals. Sie haben dazu gelernt. Oh ja, sie lernen schnell. Sein Volk hatte sie unterschätzt, wie Vieh behandelt. Ein Fehler. Ein dummer, tödlicher Fehler.

Er dreht sich in der Luft, wenig elegant, ergießt seinen feurigen Odem über seine Jäger. Pferde scheuen, metallerne Gestalten prallen scheppernd auf den Boden, aber nicht alle, nicht genug. Schon schwirrt der nächste Pfeilhagel heran. Aber es hat gereicht, gerade so, um hoch genug zu steigen. Weit unter sich sich hört er das Drachenhorn, sein klagendes, grelles...

 

... Hupen. Ein Benz zieht gefährlich knapp rechts an ihm vorbei und schehrt kaum eine Armeslänge vor ihm wieder auf seine Spur. Er tritt hart auf die Bremse, zu hart, und der Golf hinter ihm schafft es gerade so, ihm auszuweichen. Mehr Hupen, die heulend an ihm vorbei ziehen.

Er schwitzt wie ein Schwein. Die Einkaufstüte auf dem Beifahrersitz hat ihren Inhalt auf den Boden erbrochen. Irgendwo läuft gluckernd Milch aus.

Er flucht, tritt wieder aufs Gas. Die Fledermaus in seinem Kopf läuft Amok. Sandra wird ausflippen. Sie hasst es, wenn er Tüten auf den Beifahrersitz stellt. Immer wieder schimpft sie ihn deswegen, und er sagt dann, schau, ich bin ein vorsichtiger Fahrer, da passiert nichts. Und stellt sie erst recht dort ab, und freut sich wie ein kleiner Junge, wenn er sie unbeschadet nach Hause bringt. Es sind diese kleinen Triumphe im Leben, die er braucht. Rebellion im Goldfischglas.

Nur mit Mühe widersteht er dem Impuls, mit beiden Händen seine Schläfen zu massieren. Statt dessen umklammert er das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel bleich hervortreten. Wie kleine, weiße Krallen. Gestutzt vom Leben.

Unnötig heftig tritt er wieder das Gaspedal durch. Die Milch schwappt fröhlich gluckernd über fleischlose Kost. Wie schön es jetzt wäre, die Augen zu schließen, und einfach allem zu...

 

... entkommen. Endgültig. Die Welpen wollen kämpfen, wollen sich aufbäumen gegen die Wogen der Menschheit. Aber dafür ist es zu spät. Es sind zu viele. Sie sind überall. Es ist ihre Zeit, sagt der Rat. Ihre Welt. Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen.

Lieber Kämpfen und sterben, als sich ewig zu verkriechen, sagen die Welpen. Ihr Blut fließt noch heiß, wie pulsierende Lava. Aber die Alten sind müde, und vielleicht ein wenig weiser. Und in der Überzahl.

Sein Blick schweift durch die riesige Höhle. Es fällt ihm schwer, sich an das letzte Treffen seines Volkes zu erinnern. Es liegt ewig zurück, begraben unter der Zeit. Aber die wenigen Bilder, die ihm davon geblieben sind, lassen die kümmerliche Anzahl der Versammelten hilflos und verloren erscheinen. Bei allen Vulkanen, denkt er, wie konnten die Menschen so viele töten, in so kurzer Zeit?

Vielleicht hätten sie eine Chance, wenn sie sich zusammen täten. Gemeinsam zurück schlügen, gezielt und erbarmungslos. Aber sie waren von Natur aus Einzelgänger. Stecke zehn Drachen über einen Mond in eine Höhle, und du hast am Ende einen sehr satten Drachen. Und selbst wenn es ihnen gelänge, ihre Kräfte zu bündeln, so war ihre Zahl doch so lächerlich gering gegen die Übermacht der Menschen, deren Menge den Sternen konkurrenz machte.

Nein, es macht mehr Sinn, sich zwischen ihnen zu verbergen, als einer der ihren. Eine Handvoll Unsterbliche im gigantischen Schwarm dieser Eintagsfliegen. Sie werden es nie bemerken.

Und so stimmt er für die Flucht, das Versteckspiel, den ewigen Traum. Auch wenn jeder Faser in ihm sich dagegen auflehnt. Nur, er lebt schon zu lange, um den Tod zu wählen. Er will leben. Egal wie.

Das Ergebnis ist so eindeutig wie unvermeidlich. Genau wie die Reaktion der Welpen. Sie sind...

 

... wütend. Schreit ihn an. Ihre schrille Stimme macht die Fledermaus wahnsinnig. Sandra hatte ihn noch nie angeschrien. War nicht einmal laut geworden. Immer überlegt, immer sachlich. So gesehen ist ihr Ausbruch fast eine Erleichterung, wie ein Gewitter nach zu vielen heißen Tagen. Aber er ist viel zu heftig, so heftig, dass er es kaum erträgt. Dass er sich zusammenkrümmt und zurückweicht, die Hände schützend zwischen sich und ihre Stimme stemmt. Und sie schreit weiter, schreit die ganze Nachbarschaft an die hübsch beblümten Fenster, wirft die milchgetränkte Zuccini nach him, und die aufgeplatzte Milchtüte hinterher.

Und er weicht immer noch zurück, Schritt um Schritt, milchgetränkt wie der Rest der Einkäufe, gedemütigt. Entfernt sich von ihr, von ihrem gemeinsamen Leben, von sich selbst. Die Fledermaus protestiert, bäumte sich auf, schreit zurück, aber ihr gelleder Ruf prallt zurück an...

 

... dem Zauber, der sich immer enger um ihn zieht, wie das Netz eines Drachenjägers. Seine Seele, die frei sein will, und fliegen, und jagen, am Boden fesselt, und einschnürt, und klein macht, so klein wie seine Beute. Er sieht, wie seine Schuppen verkümmern und verschwinden, wie sein stolzes Fleisch kraftlos und weich und rosa wird, wie seine scharfen Krallen zu wehrlosen Händen zusammenschrumpfen. Nein, will er schreien. Nicht so. Nicht das. Ich wußte doch nicht, wie das ist. Schlimmer, viel schlimmer, als der Tod.

Dann kommt der Schlaf, der endlose Traum, verschluckt alles, was von ihm übrig ist. Und ein Teil von ihm denkt noch, kein Wunder, dass die Menschen sich so furchtlos in den Kampf stürzen. Sie haben nichts zu...

 

... verlieren. Mit aller Kraft klammert er sich daran. Er will sie nicht aufgeben. Er muss sich beherrschen. Zusammenreißen. Steht auf der Straße, vor seinem Haus. Ihr Gekeife mischt sich in das brüllen der stählernen Raubtiere, die heulend und hupend an ihm vorbeirasen. Drachenhörner. Unzählige. Sie jagen ihn. Dabei ist er der Jäger. Er!

Eines streift ihn, wirft ihn nach vorne. Sein Kopf prallt hart auf den Asphalt. Zerschmettert den Käfig. Die Fledermaus heult auf, Jahrtausende alter Schmerz bahnt sich den Weg durch sein Fleisch, zerreißt das weiche Gewebe, den alten Zauber. Nur, es ist keine Fledermaus. Es ist mehr, unendlich viel mehr.

Und es ist frei. Triumphgebrüll lässt die Fenster vibrieren, verschluckt das ängstliche Wimmern der Beute.

 

Der Drache erwacht...

 

© 2008 Stefan Brinkmann 

 

 

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