Himmelsturm - Epilog - Der Tod

 

Als der Tod zum letzten mal zur Sarva kam, war er nicht allein. Das Mädchen ging ihm voran.

Die Tür zur Hütte der alten Hexe war schon lange aus den Angeln gefallen, lag im Gras, wo einst die Rosen blühten, von Unkraut überwuchert.

Das Mädchen trat ein.

Sarva saß in ihrem Sessel. Zumindest das, was von der alten Hexe noch übrig war. Und es fiel dem Mädchen schwer zu sagen, wo der Sessel aufhörte und das schwarze, verfaulende Etwas anfing, in dem wenigen schummrigen Licht, dass sich durch die verdreckten Fenster kämpfte.

Sarva grinste sie an. Konnte nicht anders, denn Insekten hatten wohl ihre Lippen gefressen, wie auch ihre Augen, und ihre Zunge, und alles andere, was irgendwann noch weich und saftig war.

“’er ‘euch hie ha’e ‘Ara?” krächzte das Ding. Doch das Mädchen verstand es auch ohne Worte.

“Ich bin es. Du hast mir das Geschenk des Vergessens gegeben und einen Turm gebaut. Vor langer Zeit.”

“’a ‘ähe’, ‘a ‘hih ehe o’e?”

Das Mädchen, das nichts essen wollte… es musste schmunzeln bei diesem Gedanken. Wie unschuldig und naiv sie damals gewesen war. Gemessen an ihrem ganzen Leben kaum einen Wimpernschlag her. Und doch hatte sie in dieser Zeit mehr gelernt und begriffen als in all der Unendlichkeit davor.

“Ja,” sagte es, “das bin ich. Du erinnerst Dich also?”

“Ih e’hire ‘ih a’ a’eh.”

Das Mädchen nickte, mehr zu sich selbst, denn Sarva konnte es wohl kaum noch sehen.

“Ja, ich erinnere mich auch wieder an alles.”

“’ah ‘ihh’ uh’?”

“Nein”, sagte das Mädchen. “Ich will nichts. Ganz im Gegenteil. Ich bringe Dir ein Geschenk.”

“Eih ‘ehek?” Selbst in dem formlosen Krächzen war so etwas wie Erstaunen zu hören.

“Ja.” Das Mädchen trat näher an den Sessel heran. Ging neben dem Ding in die Hocke, und flüsterte dorthin, wo einst wohl die Ohren waren.

“Eigentlich zwei Geschenke. Denn ich muss dir danken. Wie entsetzlich das auch war, was du mir angetan hast, so hat es mir doch eines gelehrt. Dankbarkeit. Und aus Dankbarkeit möchte ich dir nun davon erzählen. Von all dem, was durch deine Selbstsucht passiert ist. Vom Mädchen, dem Jungen, dem Ritter, dem Wind und, ja, auch der Hexe.

Stell Dir vor, es ist Dunkel…”

Das Mädchen erzählte. Es wurde Abend, und es wurde Nacht, und es wurde wieder Morgen, als das Mädchen ihre Geschichte zu Ende brachte. Die Sonne erlebte eine neue Geburt, und das Mädchen war dankbar, als die ersten Strahlen sich zaghaft durch die Tür trauten. Dankbar um dieses Wunder, dass für es nichts mehr alltägliches an sich hatte. Es wusste nun, dass jede Sonne die erste war, und die letzte, immer aufs neue.

Sarva war keine dankbare Zuhörerin gewesen. Sie hatte gewimmert, und gekrächzt, und in unverständlichen Worten geflucht. Nun, da ihr Herz ihr wieder so nahe war, begann sie seit einer Ewigkeit aufs neue zu fühlen. Und da das Herz immer noch in der Brust des Mädchens verweilte, fühlte sie alles, was dieses Gefühlt hatte und ihr nun erzählte, Wort für Schmerz für Schrecken. Doch was für sie noch schlimmer sein musste, sie spürte auch die Liebe. Der Liebe der Seelen zu dem Mädchen, vor allem der Einen, die anders war, mehr Selbst als die Anderen, und selbstlos. Den Moment, als das Mädchen zum ersten Mal das Bild des Ritters sah, damals noch ein Neugeborenes, und sich in seine Augen verliebte. Ein Gefühl, für das Mädchen so neu wie für Sarvas Herz. Und wie es wuchs, mit jedem Bild, bis hin zu dieser einen letzten Nacht im Turm, als der Eine aus dem Wind den Traum des Ritters in ihr Zimmer brachte, genau im Augenblick des Erinnerns.

Er hatte sie gefragt, ob sie frei sein wollte. Ob er sie befreien soll. Musste es aus ihrem Munde hören.

Nichts war ihr jemals so schwer gefallen, denn sie spürte die Bedeutung seiner Worte, ohne sie zu verstehen. Nichts hatte ihr je solche Angst gemacht, nicht der Moment, als Sarva ihr das schwarze Herz in die Brust rammte. Nicht einmal das Sterben der Sonne. Denn das Mädchen wusste in diesem Augenblick, dass Frei sein auch hieß, den Ritter zu verlieren.

Sie hatte ja gesagt.

All das erzählte das Mädchen dem Ding, das einmal Sarva war, Sarva die Alte, Sarva die Mächtige. Sarva die Arme, denn sie hatte niemals gelernt, was es hieß, wahrhaftig zu fühlen. Hatte ihr Herz verkümmern lassen, zerrissen und am Ende aufgegeben.

“Und das,” schloss das Mädchen ihre Geschichte, “ist mein erstes Geschenkt.”

Sarva schluchzte und röchelte wie ein verendendes Tier.

“Und mein zweites Geschenk”, setzte des Mädchen an,

BIN ICH.

“’eih!”

DOCH.

“ih hah ih ‘ehieh’!”

DU HAST NUR DICH SELBST BESIEGT, SARVA, UND DIR ALLES GENOMMEN. SEI DANKBAR FÜR DIESES GESCHENK; DASS SIE DIR GEBEN WILL.

“Hieharh!”

NIEMALS IST EIN GROSSES WORT, KLEINE SARVA. UND HIER VÖLLIG UNANGEBRACHT.

Tod wandte sich dem Mädchen zu.

BIST DU DIR SICHER? ICH KANN DAS NUR TUN, WENN DU AUS FREIEN STÜCKEN EINWILLIGST.

Das Mädchen hatte Angst. Es dachte an den Ritter, und den Moment, als er ihr eine ganz ähnliche Frage stellte. Dachte an die Sonne, und wie sie immer wieder entglitt. Dachte an all die Dinge, die es gesehen hatte, die ihr zuviel geworden waren und nun kaum mehr reichen wollten. Nein, es wollte nicht. Wollte niemals. Nie!

Doch dann fiel ihr Blick auf Sarva. Auf das, was dieses Nie aus ihr gemacht hatte.

“Ich habe gelebt, dank ihr. Es ist ein Teil des Lebens. Der einzige Weg.”

Es sah Tod tief in die rot glühenden Augenhöhlen. Wie zwei sterbende Sonnen, dachte es noch.

“Ja,” sagte es, mit fester Stimme. “Ich bin sicher.”

Tod nickte. Zärtlich wie der Wind strich er mit seinen Fingern über ihre Wange. Nahm ihr all das Leben, und das von Sarva, die beide unzertrennlich miteinander verflochten waren.

Und ging.

 

Ich bleibe zurück, und sehe dem Tod nach. Wache über das, was von Mädchens und Hexe zurück blieb. Was nicht viel ist. Beide zerfielen fast Augenblicklich zu Staub, als Tod das Mädchen berührte und ihrer beiden Leben nahm. Fast, als wäre keiner von ihnen jemals bestimmt gewesen, so lange zu überdauern.

Wache über das Ende der Geschichte. Und frage mich, wessen Geschichte es eigentlich war. Nicht meine, soviel ist klar. Auch wenn ich eine nicht unbedeutende Rolle gespielt habe. Ich führte den Ritter und befreite so das Mädchen. Gab ihr dann all die Bilder, um ihr zu zeigen, was alles geschehen war, in der langen, langen Zeit des Turms. Meine Geschichte. Die des Sturms.

Und, vor allem, Sarvas Schicksal.

 

Ich hatte schon immer geahnt, dass sie hinter all dem steckte. Ihre Hütte steht nicht weit vom Turm. Als ich sie das erste mal durchstreifte nach Bildern für unsere Herrin, fand ich Sarva, die Faulende, in ihrem Sessel. Kein schöner Anblick, wahrlich, aber was mich viel tiefer erschütterte:

Etwas von diesem lebenden Leichnam war tief verwurzelt mit unserer Herrin.

Diese Erkenntnis war mein Moment des Erwachens. Wie konnte diese Abscheulichkeit verbunden sein mit einem so perfekten Wesen wie dem Mädchen? Es war falsch, FALSCH, auf so viele Arten, dass es mich in den Wahnsinn zu treiben drohte.

Ich floh, voller Abscheu und Wut, zurück zum Turm, zum Sturm, zur Einheit. Sie würden wissen, was es mit diesem Ding in der Hütte auf sich hatte. Sie würden mir sagen, was zu tun sei. Sie würden mir helfen, ja.

Wie sehr ich da irrte.

Natürlich kannten sie die Hütte, und das Wesen, das in ihr vegetierte, sie waren fast alle weit älter als ich, viel länger schon Wächter des Mädchens. Nur, es kümmerte sie nicht. Das ist kein guter Ort, sagten sie, keine Bilder, die für unsere Herrin angebracht sind. Vergiss ihn.

Ich brauste auf, erzählte ihnen von der seltsamen Verbindung, die ich gespürt hatte, zwischen dem Ding und dem Mädchen

Der Sturm lachte nur.

Was für eine absurde Vorstellung. Lächerlich. Undenkbar. Vergiss. Meide die Hütte, und vergiss.

Ich spürte die grenzenlose Wut des Sturms, der knapp hinter dem Lachen lauerte, und schwieg.

Doch ich vergaß nicht. Konnte nicht vergessen. Ich musste wissen, was es damit auf sich hatte. Musste verstehen, das Rätsel lösen. Immer wieder suchte ich die Hütte auf, heimlich, unbemerkt von den Anderen. Und so begann ich mich zu lösen. War nicht mehr eins mit ihnen. Wurde mit jedem Besuch, jedem Geheimnis, jeder Lüge darüber, wo ich gewesen war, ein wenig mehr Ich.

Das schwarze, verwesende Ding saß immer in diesem Sessel, mit dem sie schon wie verwachsen war. Rührte sich nicht. War wie tot und doch am Leben. Ich betrachtete es, stundenlang, suchte nach einer Erklärung, einem Hinweis. Und fand nichts.

Bis sie eines Tages zu sprechen begann. Unverständliche Laute, die da aus ihrem lippen- und zungenlosen Loch drangen, aber nun, ich hatte schon lange keine Ohren mehr, hörte vielmehr den Gedanken, der dem Sprechen voran geht.

Was willst du von Sarva, kleiner Geist? Du nervst. Verschwinde!

Ich hatte nie auch nur vermutet, dass dieses Ding noch so viel Klarheit besaß. Und klar waren sie, ihre Gedanken. Getränkt vom Wahnsinn, und seltsam kalt, ohne jedes Gefühl, aber klar und schneidend wie Kristall.

Was bist du? verlangte ich zu wissen.

Ich bin Sarva, sagte das Ding, Sarva die Unsterbliche. Und jetzt verschwinde.

Unsterblich? fragte ich, und sie: Ja. Hab dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Jetzt verschwinde endlich.

Aber ich ließ nicht locker, stellte Frage um Frage, und sie gab Antwort, jedesmal, und ein "Verschwinde" obendrauf.

So lernte ich Sarvas Geschichte, und in ihr, die Geschichte des Mädchens, dass nichts essen wollte, und nichts trinken. Nur vergessen. Und am Ende das Opfer wurde von Sarvas größtem Trick.

Eine schreckliche Geschichte, die nicht besser wurde durchs Sarvas Gleichgültigkeit bei allem, was sie erzählte. Keine Reue. Kein Mitleid. Nicht einmal Freude an ihrem Triumph. Und dieses Frage und Antwort-Spiel, es ließ viele Lücken. Manche ihrer Antworten machten zunächst keinen Sinn.

Ist ein Kreis, dachte sie einmal. Mein Herz lebt im Mädchen. Das Mädchen im Turm. Der Turm durch den Baum. Und der Baum wurzelt in meinem Herz. Kein entkommen. Immer rundherum. Verschwinde jetzt.

Doch jede Antwort, so wirr sie auch schien, gab mir ein neues Teil des Puzzels, und in manchem machte ich die Ecken aus. Am Ende hatte ich ein Bild, klar und deutlich, und maßlos erschütternd.

Ist ein Kreis, hatte Sarva gesagt. Kein Entkommen. Sie hatte Recht.

Jeder Tag des Mädchens war ein Kreis aus Erwachen, Angst, Erkennen, Freude, Entzücken, Verlust und Wahnsinn. War in sich gleich, in sich gefangen, egal, wie sehr wir uns auch bemühten.

Was konnte ich tun? Den Sturm fragen kam nicht in Frage, er hätte mich in der Luft zerrissen für den Frevel, mich ihm zu widersetzen. Und auch Sarva war irgendwann keine Hilfe mehr. Ihre Antworten wiederholten sich, wurden immer kürzer, bestanden irgendwann nur noch aus dem „Verschwinde!“

Und so ging ich, um viele Antworten reicher, und doch keinen Schritt weiter.

Verschwindest du endlich? rief sie mir nach.

Ja, sagte ich nur.

Kommst du wieder?

Ich blieb ihr die Antwort schuldig.

 

Der Kreis drehte sich. Die Sonne kam und ging, viele Male, und ließ mich immer ratlos zurück. Ich wollte nur eins, das Mädchen befreien. Aber wie? Wie nur. Ich zog wieder los, weil ich nichts anderes wusste, sammelte Bilder und brachte sie dem Mädchen, hoffte, vielleicht da draußen eine Antwort zu finden. Vergebens.

Bis eines Tages ein Bild den Kreis durchbrach.

Das Bild eines Kindes, mit Augen so klar und rein und weit und tief wie die Augen des Mädchens.

Der Sturm war außer sich, als dich das Mädchen für einen Moment in diesen Augen verlor. Und ich sah meine Chance. Ihre Chance. Etwas war anders an diesem Moment, und vielleicht konnte er alles verändern.

Ich löste mich wie so oft von den Anderen, berührte das Mädchen und gab ihr ein Bild, dass ich schon so lange voller Hoffnung in mir trug.

Wie der Turm in sich zusammen stürzt, und sie frei gibt.

Nur baute ich in dieses Bild einen jungen Mann ein, mit den Augen dieses Kindes und einem Schwert, so groß wie ein Baum, mit dem er den Turm fällte.

Hab Geduld, flüsterte ich ihr zu, ich will dir von ihm berichten. Wenn er älter ist. In sieben Jahren.

Sie nickte nur, lächelte, tauchte wieder auf, und der Sturm beruhigte sich.

So nahm die Geschichte ihren Lauf, und der Kreis zerbrach.

 

Nun sind wir an seinem Ende angekommen. Die Nacht bricht herein, und ich frage mich, warum Tod nicht auch mich mit sich genommen hat, so wie all die anderen, deren Pfade unweigerlich in ihm enden mussten.

Nur ich bin übrig, und kenne die ganze Geschichte. Vom Mädchen, dem Jungen, dem Ritter, dem Sturm, der Hexe und dem Tod.

…vielleicht ist es das.

Es mag nicht meine Geschichte sein, aber sie ist es wert, erzählt zu werden. Und auch, wenn ich keine Stimme mehr habe, mag ich vielleicht einen da draußen finden, der mich hören kann, und sie fest hält, an meiner statt.

Gleich morgen, wenn die Sonne aufgeht, werde ich mich aufmachen.

Vielleicht schließt sich dann auch mein Kreis.

 

© “Der NachtPoet” Stefan Brinkmann, 09.07.2007, 18:32 Uhr

<--- Himmelsturm IV - Die Hexe

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