Onkel Sams Drachengeschichte

Onkel Sam war ein toller Geschichtenerzähler. Er wußte, wie man wahre Geschichten erzählt, denn er war Journalist. Und er wußte, wie man sie professionell vortrug, denn er war ein Schriftsteller, und dazu noch ein ziemlich berühmter. Natürlich schrieb er unter einem Synonym, denn er hatte Sorge, die Leute könnten von seiner Arbeit Rückschlüsse auf seine andere Passion schließen und umgekehrt. Nur wenige wußten, daß diese beiden Wahrheiten in ihm schlummerten. Denn er glaubte an all seine Geschichten. „Daniel, pflegte er immer zu mir zu sagen, „nur, wer selbst an seine Geschichten glaubt, kann sie auch glaubhaft erzählen. Und das konnte er. Wenn er von Einhörnern erzählte, meinte ich, ihre Hörner in der Dunkelheit meines Zimmers leuchten zu sehen. Formte er mit seinen Worten schreckliche Monster mit drei Reihen spitzer Zähne, so mußte er immer meine Schränke durchsuchen und unter meinem Bett nachsehen, bevor er mein Zimmer verlassen durfte.
Ihr seht schon, seine Geschichten waren keine normalen Gutenachtgeschichten. Aber er betonte auch immer, daß ich kein gewöhnliches Kind sei. „Daniel, du kannst die Welten hinter der Welt sehen. Das ist ein großes Talent. Und deshalb lasse ich dich an meinen Geschichten teilhaben.
„Aber Onkel Sam, warf ich dann ein, „deine Geschichten werden in 17 Sprachen übersetzt. Millionen lesen sie.
Und jedesmal erwiderte er das Gleiche: „Daniel, die Geschichten, welche ich dir erzähle, wurden nie auf Papier gebannt. Manchmal muß man sie niederschreiben, und manchmal muß man sie frei lassen. Die Geschichten, welche ich dir erzählen, leben nur in dir weiter. Das ist wichtig, denn sie sind lebendig.
Ich verstand nicht genau, was er damit meinte, aber es erfüllte mich jedesmal mit Stolz. Bis, eines Abends, es war der letzte, an dem ich ihn sah, er mir eine ganz spezielle Geschichte erzählte.

Ich hatte ihn seit gut einem Jahr nicht mehr gesehen. Sein Beruf als Journalist ließ ihn viel reisen. Manchmal hörten wir lange Zeit nichts von ihm, und dann stand er wieder vor unserer Tür, unangemeldet und oft unrasiert, ganz so, als wäre er vom Flughafen direkt zu uns gekommen. So war Onkel Sam. Irgendwie schien er sich bei uns mehr zu hause zu fühlen als in seiner eigenen Wohnung.
An diesem Abend lag ich schon im Bett. Ich war schon halb eingeschlafen, als ich die Türklingel hörte. Während ich mich noch aus des Schlafes Grube nach oben kämpfte, drang die Stimmen meiner Mutter gedämpft in meine schwindenden Träume.
„Der Junge schläft schon. Sam, wie du wieder aussiehst! Außerdem, ist er nicht langsam zu alt für Gutenachtgeschichten? Er ist fast fünfzehn.
Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er sie wortlos beiseite schob. Sekunden später öffnete sich meine Tür, und ein Strahl von Licht ergoß sich in mein Zimmer. Seine dunkle Silhouette so in dem erleuchteten Quadrat der Tür zu sehen, ließ meinen noch halb träumenden Verstand an ein Ufo denken. „Sei mir gegrüßt, Besucher einer Fremden Welt, murmelte ich verschlafen.
Onkel Sam schloß die Tür, und die Dunkelheit schnellte zurück wie ein überspanntes Gummiband. Einen Moment überkam mich das Bedürfnis, mich zurückzulehnen, mich in das Reich der Träume zu flüchten. Manchmal ängstigten mich seine Geschichten schon, so sehr ich sie auch liebte. Doch dann ging ein Ruck durch mein Bett, als er sich an den Rand setzte, und ich war wach.
„Hallo, Daniel, begann er mit seiner sanften, rauchigen Stimme, leicht schleppend, aber immer ein wenig schneller als die Bilder, welche sie erschuf. Fast entschuldigend fügte er hinzu: „Deine Mutter meinte, du wärest zu alt für meine Geschichten...
„Um so älter ich werde, erwiderte ich, um so besser kann ich sie verstehen.
Im schwachen Licht des noch fast ungeborenen Mondes glaubte ich, ein Nicken zu erkennen. „Vielleicht hast du da recht. Vielleicht mußt du noch viel älter werden, älter noch als ich. Verständnis ist manchmal eine häßliche Sache.

Er strich mir durch mein Haar. Seine Hand roch streng, nach Regen und Schlamm und Schweiß, nach Gras und Rauch und Schwefel. „Weißt du, wo ich war? fragte er mich.
„Im Dschungel, irgendwo, die weißen Flecken auf den Landkarten erforschen. Das hatte mir Mutter erzählt.
Wieder dieses Nicken, bedächtig, nachdenklich. „Ja. Ich und ein paar Forscher. Ein Zoologe, falls wir auf neue Tierrassen treffen, ein Archäologe, für den Fall, daß wir so was wie Inka -Tempel finden. Ein Psychologe und Sprachexperte, wegen den Eingeborenen, und falls uns die Einsamkeit nicht bekommt. Tja, und noch den Piloten der kleinen Propellermaschine. Ein studierter Ingenieur, der Mann. Konnte alles zusammenflicken, durch dessen Adern Öl floß. Und natürlich ein Vermessungsteam, ein paar ortskundige Schwarze, das übliche halt. Ich muß sie dir sicher nicht alle aufzählen, hast gewiß genug Tarzan-Filme gesehen.
Er stockte, senkte den Kopf, blickte wohl auf seine Hände.
„Daniel, du wirst nie erraten, was wir gefunden haben.
Ich dachte an den Geruch seiner Hand. „Einen Drachen? riet ich.
Überrascht holte Onkel Sam Luft. „Du bist wirklich groß geworden. Das ist richtig. Bist ein kluger Junge. Ja. Er lag in einem alten steinernen Tempel. Über fünftausend Jahre alt, der Tempel, meinte unser Archäologe,. Nichtsahnend betraten wir ihn durch dieses riesige Tor, und da lag er, mitten auf einem gigantischen Haufen Gold und Diamanten du kannst dir nicht vorstellen, wie groß dieser Drache war. Seine Krallen waren größer als mein Kopf, seine Augen leuchteten golden auf uns herab wie zwei kleine Sonnen. Seine Schuppen schillerten in allen erdenklichen Farben und ein paar, die noch kein Menschenauge gesehen hatte und sicherlich Wahnsinn erzeugen in denen, die sie zu lange betrachten. Er hatte seinen Kopf auf seine Pranken gelegt und beobachtete uns neugierig.
Wie du dir sicher denken kannst, flohen die Einheimischen mit lautem Geschrei, dicht gefolgt von unserem Vermessungsteam. Nur die Wissenschaftler blieben ruhig stehen und starrten fassungslos auf die lebende Widerlegung all ihres Glaubens. Auch ich war wie erstarrt. Ich hatte immer davon geträumt, mal einem Drachen zu begegnen. Doch nun, da ich vor ihm stand...
Onkel Sams Stimme brach ab. Er schwieg eine Sekunde. „Weißt du, Daniel, fuhr er dann fort, „Es ist eine Sache, an etwas zu glauben, und eine andere, den leibhaftigen Beweis vor sich zu sehen. Glaube ist für einen wie mich essentiell, aber wie kann ich an etwas glauben, von dem ich weiß, das es existiert?
Aber du willst sicher wissen, was dann passierte. Der Drache hob seinen Kopf von seinen Pranken und streckte ihn uns entgegen an seinem langen Hals. Einem nach dem anderen beschnupperte er, als letztes mich. Es war, als würde ein Lastwagen auf mich zu rasen um im letzten Moment abzubremsen. Ich hörte das Zischen der Luft, als sie durch die gulligroßen Nasenlöcher gesogen wurde, roch den Gestank des Schwefels. Dann zog der Drache den Kopf zurück, und zum ersten Mal hörten wir die Stimme in unseren Köpfen.
Ihr seid seltsame Menschen. Ich rieche keine Angst bei euch. Wut, Haß, Unglauben und Traurigkeit, aber keine Angst.
Der Drache erhob sich, streckte sich wie ein großer Hund und maschierte dann auf uns zu, dem Ausgang entgegen. So schnell wir konnten, wichen wir zurück ins Freie, um nicht von den gigantischen Pranken zerdrückt zu werden.
Draußen setzte sich der Drache, und die Erschütterung ließ die Erde erbeben.
Nun, ihr Menschen, sprach die Stimme in unseren Köpfen, sagt mir einen Grund, warum ich euch nicht fressen sollte.
Es war unser Psychologe, der sich zu Wort meldete.
Faszinierend, sagte er auf seine immer trockene Art. Eine Gruppenhalluzination. Ich weiß allerdings wirklich nicht, warum wir uns ausgerechnet einen Drachen einbilden.
Drachen sind ein uralter Mythos und tauchen in vielen verschiedenen Legenden auf, meinte der Archäologe. Vielleicht haben wir in dem Tempel irgendwo Bilder von Drachen gesehen, und wurden dann einem Gas ausgesetzt, daß Halluzinationen auslöst. Viele alte Tempel wurden mit so etwas ausgerüstet.
Der Drache legte sich gemächlich vor uns hin. Ich spürte deutlich, wie die Erde unter seinem Gewicht erzitterte.
Ihr denkt also, ich bin nur eine Illusion? Wahrlich seltsame Menschlein seit ihr. Respektlos und ignorant.
Natürlich existiert er nur in unserer Einbildung, betonte der Psychologe, wobei er demonstrativ am Drachen vorbei zum Rest unserer Truppe sprach. Und ich sage Dir, Daniel, das war ein echtes Kunststück, an eine solchen Masse an Drachen vorbeizusprechen. Das zeigt alleine schon, fuhr er mit Vortragsstimme fort, daß er telepatisch mit uns kommuniziert. Telepathie in dieser Form ist unvorstellbar. Dafür erzeugt unser Gehirn einfach keine ausreichend starken elektronischen Impulse.
Nunja, erwiderte der Pilot, welcher auch Ingenieur war, sein Gehirn ist vielleicht viel größer als unseres..:
Sehr unwahrscheinlich, erwiderte der Biologe. Er ähnelt in seinem Aufbau doch sehr den urzeitlichen Dinosauriern. Und die hatten zum Großteil nur apfelgroße Gehirne. Elektronische Impulse, die für solch eine Gedankenübertragung notwendig wären, würden es einfach kurzschließen.
Genau, setzte der Psychologe mit überlegener Selbstsicherheit nach. Und dann, endlich an den Drachen gewandt, stellte er mit dem Brustton der Überzeugung fest: Siehst du, du kannst gar nicht existieren.
Und dann, Daniel, dann kam das Pfeifen. Kennst du das, wenn du ein Pfeifen im Ohr hast?
Ich nickte.
„Natürlich kennst du das, jeder kennt das. Aber ein solches Pfeifen, wie da mit einem mal in unseren Ohren erklang, das kannst du dir nicht vorstellen. Es wurde lauter und schriller und greller, und wir alle preßten wie synchron gesteuerte Marionetten unsere Hände an die Ohren. Das half natürlich wenig, denn wie du dir sicher denken kannst, war das Pfeifen in unseren Ohren. Und doch klang es so, als käme es von weit, weit her, als würden wir nur ein Echo von dem eigentlichen Pfeifen hören. Doch es reichte, um uns halb wahnsinnig zu machen. Und dann, dann sah ich zwei Sachen, fast gleichzeitig. Zum einen war da der Psychologe. Er hatte den Mund weit aufgerissen, so, als würde er schreien, aber ich konnte nichts hören außer dieses gräßliche Pfeifen. Zwischen den Fingern seiner Hände, die er so fest auf seine Ohren preßte, als wolle er seinen Kopf zerquetschen wie eine überreife Melone, zwischen den Fingern also rann Blut hervor, ein kleiner Rinnsal, der an seinen nackten Unterarmen herunterlief und...
„Onkel Sam! Willst du, daß ich heute Nacht wieder nicht schlafen kann? Ich konnte das Blut fast an meinen eigenen Händen spüren.
„Was denn, ich dachte, ihr jungen Leute seht so was jeden Tag im Fernsehen.
„Was hast du denn noch gesehen? wollte ich wissen, um schnell das Thema zu wechseln.
„Nagut, wie du meinst. Also, ich war wie wahnsinnig von diesem schrecklichen Ton, und der Psychologe war wirklich kein schöner Anblick. Deshalb wendete ich meinen Blick ab und sah so gezwungenerweise auf den Drachen. Ich weiß nicht, ob das möglich ist für ein Reptil, denn so etwas wie eine Echse schien dieses Wesen ja zu sein, aber ich schwöre dir, Daniel, der Drache grinste. Ein gigantisches Grinsen, quer über sein riesiges Maul, und ich blickte ungehindert auf die armlangen Zähne. Für ein paar unendlich lange Augenblicke schaute ich auf diese Zähne, dann sah ich aus dem Augenwinkel, wie der Psychologe umfiel. Sofort hörte das Pfeifen auf.
Wir alle brauchten ein paar Momente, um uns zu erholen, schüttelten unsere Köpfe, um sie wieder frei zu bekommen. Der Drache wartete geduldig. Der Psychologe blieb regungslos liegen. Sobald er wieder bei klarem Verstand war, stürzte der Biologe zu ihm, um ihn zu untersuchen. Sein Blick verriet uns, was wir schon alle wußten. Der Psychologe hatte sein Verfallsdatum überschritten.
„Du meinst, er war tot? Ich wollte nicht fragen, denn es klang dumm in meinen Ohren, aber ich konnte nicht anders. Die Vorstellung, durch einen Ton getötet zu werden, erschreckte mich zutiefst.
„Ja, antwortete mein Onkel, „Er war mausetot. Der Biologe blickte uns verzweifelt an. Doch dann stand er auf und verkündete mit fester Stimme: Freunde, ich fürchte, das Gas bewirkt nicht nur Halluzinationen. Vielleicht ist es auch ein Pilz, oder ein Virus. Jedenfalls hat es den armen Kerl erwischt.
Er war, fügte der Archäologe hinzu, am längsten von uns in dem Tempel. Ich weiß nicht, ob das stimmte, aber es klang vernünftig, beruhigend.
Da begann der Drache zu Lachen. Ein Lachen, das tief in unseren Gedanken entsprang und in unseren Seelen widerhallte.
Ihr seid so verliebt in euer Wissen. Ihr alle wißt, was wirklich geschehen ist, aber es paßt nicht in eure Welt, und so verleugnet ihr es sogar im Angesicht des Todes.
Oh, komm schon. Diesmal war es der Archäologe, der sich zu Wort meldete. „Wenn es Drachen gäbe, dann hätten wir mit Sicherheit Knochen von ihnen gefunden. Außerdem hätte man sie mit Hilfe der Satelliten schon längst entdeckt. Unvorstellbar, daß sie sich bis heute im Verborgenen hätten halten können. Es läßt sich mit Sicherheit nachweisen, daß es nie Wesen gegeben hat oder gibt, die dir auch nur im geringsten...
Der Drache biß ihm das Wort im Halse ab und verschluckte diesen mitsamt dem Kopf. Noch bevor der restliche Körper umkippen konnte, zuckte der riesige Echsenkopf vor und packte ihn, schleuderte ihn wie eine abstruse Erdnuß in die Luft und ließ ihn sich in sein weit geöffnetes Maul fallen. Noch während er genüßlich kaute, ertönte wieder diese tiefe und weiche Stimme in unseren Köpfen.
Schwätzer. Damit hätte er nicht einmal einen Kobold überzeugt.
Das ist doch lächerlich. Der Biologe war deutlich grüner im Gesicht als vorher, aber in seinen Augen leuchtete dieses fanatische Feuer, das nie etwas gutes besagte. Es heißt doch, Drachen spucken Feuer. Richtig? RICHTIG? Seine Stimme überschlug sich in Panik und Wut. Er war noch sehr jung, vielleicht Anfang dreißig, und er schien zu glauben, daß sein Leben von dem Beweis abhing, das Drachen nicht existieren können. Nunja, er hatte Recht, wenn auch anders, als er glaubte.
Yep. Wir spucken Feuer. Die Gedanken des Drachen fühlten sich amüsiert an, und fast schon interessiert.
Aha! Jetzt grinste der Biologe, und es erinnerte mich fatal an das Grinsen des Drachen, nur ein paar Momente zuvor. Aber das ist vollkommen unmöglich. Vielleicht haben Drachen ja wirklich ein größeres Gehirn, und dadurch die Fähigkeit für Telepathie. Vielleicht gibt es ja nur so wenige Exemplare, mit einer sehr hohen Lebenserwartung, und deshalb blieben sie bis heute unentdeckt. Aber es ist absolut undenkbar, daß sie Feuer spucken. Sie könnten nie soviel Energie produzieren, um die dafür erforderliche Hitze zu entwickeln. Und selbst wenn, würde ihr Magen infolge der chemischen Reaktionen einfach explodieren. Spätestens ihre Kehle würde beim Feuerspucken verschmoren. Ich könnte noch tausende...
Der Drache öffnete sein riesiges Maul. Es sah fast aus, als würde er gähnen. Weißt du, ich dachte immer, Drachen würden gleißend rote Flammen spucken, aber das Feuer, welches den Biologen innerhalb von Sekunden bis auf die Knochen einäscherte, war leuchtend blau, fast weiß. Wenn ich noch Zweifel daran hatte, ob ich mir diesen Drachen nun einbildete oder nicht, jetzt waren sie alle beseitigt. Mein Drache hätte anständiges rotes Feuer gespuckt.
Nun blieben nur noch der Pilot und ich übrig. Die Luft stank bestialisch nach verbranntem Fleisch, und ich hatte das Gefühl, ich müsse mich gleich übergeben. Dem Piloten schien es jedoch nicht viel auszumachen. Er war ein überlegter und freundlicher Kerl, mit einem Bärenhumor, bekannt dafür, daß ihn nichts aus der Ruhe bringen konnte. Er war fast zwei Meter groß und ein Schrank von einem Kerl, doch als er sich vor dem Drachenkopf aufbaute, erschien er sehr, sehr klein und zerbrechlich.
Nun gut, du Riesenechse. Ich weiß nicht, ob ich mir das alles nur einbilde. Vielleicht habe ich da drinnen wirklich eine Nase zuviel von irgend som komischen Gas erwischt. Vielleicht hast Du aber tatsächlich eben einen ziemlich netten jungen Kerl eingeäschert. Ich weiß nur eines. Was immer du auch sein magst, du kannst unmöglich fliegen.
Ach nein?
Irgendwie erwachte ich endlich aus meiner Schreckensstarre. Ich wollte zu dem Piloten gehen, ihn wegzerren, den Mund zuhalten, notfalls niederschlagen (was mir ziemlich sicher nie gelungen wäre, denn der Kerl hatte schon mehr als eine Kneipenschlägerei heil überstanden, während ich schon nach dem ersten Schwinger zu Boden gehe). Aber mein Überlebensinstinkt wußte genau, daß der Bereich von mindestens zehn Schritt um den Piloten einem Minenfeld gleichkam, seit dieser seine Stimme erhoben hatte. Und muß ich zu meiner Schande gestehen, daß ich sogar noch ein paar Schritte zurückwich.
Ich konnte in der Dunkelheit meines Zimmers nicht viel von dem Gesicht meines Onkels erkennen, aber ich glaubte, den Schrecken in seinen Augen zu erkennen, der diesen Mann, der sich jeder Gefahr stellte, dazu gebracht haben mußte, sich feige zurückzuziehen. Ich beschloß, in dieser Nacht mit Licht zu schlafen, etwas, daß ich schon seit Jahren nicht mehr getan hatte.
„Nein, kannst Du nicht, fuhr der Pilot unerschrocken fort. Soweit ich das sehen kann, bist du der Alptraum jedes Windkanals. Deine Aerodynamik ist unter aller Sau. Du bist zu schwer. Deine Flügel sind zu klein und zu schmal. Selbst, wenn Du den ganzen Tag essen würdest, könntest du unmöglich genug Energie erzeugen, um tatsächlich zu fliegen.
Mit unendlicher Geduld breitete der Drache seine Schwingen aus. Weiter und weiter dehnten sich die ledernen Flügel zu beiden Seiten, spannten sich quer durch die ganze Lichtung.
Ihr Narren. Ihr kleinen, blinden, engstirnigen Narren. Ihr bekämpft einen Orkan mit Windrädern. Ihr sprecht von Wissenschaft. Von Wahrheit. Von Beweisen. Ich BIN Magie.
Dann begann er, mit seinen riesigen Schwingen zu schlagen, und der Sturm, den er entfachte, riß mich von den Beinen und schleuderte mich gegen einen Baum. Mit vor Schmerz weit aufgerissenen Augen mußte ich mit ansehen, wie der Pilot von den riesigen Pranken des Drachen gepackt und in die Luft gehoben würde. Mit einer Anmut, die seine Größe lügen strafte und solche Dinge wie Aerodynamik zu lächerlichen Nebensächlichkeiten degradierte, stieg er auf, höher und höher, dem Himmel entgegen, bis er nur noch ein schwarzer Punkt vor dunklem Blau war. Dann löste sich ein kleinerer Punkt von dem großen, wuchs schnell an, rasend schnell, gewann Konturen, die eines Menschen, die des Piloten, der hilflos zappelte. Erst hörte ich den Schrei, dann den Aufprall, ein dumpfes, nasses Geräusch.
Schnell wie ein Gedanke schoß der Drache wieder zurück zur Erde, leicht wie eine Feder setzte er nur wenige Fuß entfernt vor mir auf.
Nun, kleiner Mensch, willst auch du noch deine Zweifel anbringen?
Onkel Sam machte eine seiner berüchtigten Kunstpausen. Nur, daß dieses mal sein Atem schwer ging, als hätte er gerade einen Tausend-Meter-Lauf hinter sich. Ich wartete geduldig, so schwer es mir auch fiel. Endlich holte er tief Luft und erzählte weiter.
„Da stand ich nun, mit nichts weiter als meinem Notizblock bewaffnet. Ich war tot, so tot wie die anderen. Nur die Wirklichkeit hatte das noch nicht bemerkt. Aber das würde sie, jeden Moment. Der gigantische Kopf des Drachen beugte sich zu mir herab, sein nach Schwefel stinkender Atem fuhr mir ins Gesicht.
Was ist, kleiner Mensch? Nenne mir einen Grund, warum ich dich nicht zertreten soll, so wie du ein Insekt.
Und da begann ich zu reden, ob ich wollte oder nicht.
Weil Du nur existierst, weil ich an dich glaube.
Der Drachenkopf zuckte zurück. Ungläubig starrten seine rotglühenden Augen auf mich hernieder.
Ah, aber vielleicht existierst ja auch du nur, weil ich an dich glaube. Netter Versuch, aber das ist keine Lösung. Das wird dich kaum retten.
Aber ich wußte es besser. Ich war auf dem richtigen Weg. Dies war meine Welt. Meine Realität. Eine Wahrheit, die ich seit Jahr und Tag erschuf, mit jeder Geschichte, die ich schrieb, tausendfach in jedem meiner Leser. Ich glaubte an Drachen. Mein Fehler, unser aller Fehler, war es gewesen, unseren Glauben gegen Wissen einzutauschen, und uns dann gegen das Wissen aufzulehnen. Aber so funktionierte es nicht.
Jetzt war ich es, der lächelte. Ich nahm die Kappe von meinem Stift, senkte meinen Blick auf das Papier, und begann zu schreiben.
Was tust du da?
Immer schneller sauste meine Hand über das Papier. Dies war nicht irgendeine Geschichte. Ich mußte an sie glauben, mit jeder Faser meines Herzens, so, wie man nur an Prinzessinnen glauben konnte, an schimmernde Rüstungen, verwunschene Schlösser, Einhörner und Drachen. Ich schrieb so schnell, daß mein Handgelenk schmerzte, meine Finger taub wurden durch den Druck. Ich schrieb um mein Leben.
Hör auf damit. SOFORT.
Ich konnte spüren, wie der Drache tief einatmete, literweise Luft in sich einsog. Er würde Feuer speien, jeden Moment.
Mein Stift huschte immer schneller, hinterließ schwarze Spuren auf dem vergilbten Papier. „Der Drache, stand da, „verschluckte sich an einem wirklich großen Käfer, den er dabei einatmete, und er begann, ganz schrecklich zu husten.
Das Husten donnerte durch den Dschungel, hallte in den Gemäuern des Tempels wider. Hilflos würgte und bellte der Drache, hielt sich mit seinen kopfgroßen Klauen den baumlangen Hals.
Wie kann das *Hust* sein? Du bist doch *Würg* nur ein Mensch.
Da blickte ich auf, blickte den ängstlichen Drachen von oben herab an und erwiderte leise die magischen Worte:
Ich glaube an dich.
Dann setzte ich den Schlußpunkt und bannte den Drachen auf das Papier.

Onkel Sam schwieg. Die Stille füllte sich mit schillernden Schuppen und gelblichen Papier, mit Drachengebrüll und dem Kratzen einer Feder. Dann verklang die Geschichte, und ich fand wieder Worte.
„Wow. Und dann?
Onkel Sam strich über meinen Kopf. „Ich weiß nicht genau, was dann geschah. Ich weiß nur, daß ich sie jetzt sehen kann. Weißt du, das ist so wie mit diesen Bildern, in denen ein Gesicht versteckt ist. Wenn du es erst einmal entdeckt hast, fragst du dich, wie du es jemals übersehen konntest. Ich habe jedes Wesen gesehen, daß ich mir jemals ausgedacht habe, und ein paar, die mir nie in den Sinn gekommen wären. Ich bin auf Pfaden gewandelt, die nicht durch diese Welt führen. Zwei Jahre habe ich in einer Welt verbracht, die von einer grausamen Schönheit war, in stetiger Angst vor den Schrecken, die hinter dem dünnen Glas lauerten. Als ich zurückkehrte, war kaum eine Stunde vergangen. Es ist wie schreiben, nur ohne Papier, und manchmal frage ich mich, wer denn am Ende wen schreibt. Und was ist, wenn sie mich entdecken? Was, wenn sie merken, daß ich sie sehen kann?
Seine Hand, die mir immer noch durch das Haar strich, begann zu zittern.
„Onkel, rief ich entsetzt. „Du machst mir Angst.
„Entschuldige. Fast augenblicklich wurde seine Stimme wieder fest, seine Hand hörte auf zu zittern. „Das wollte ich nicht. Es ist nur... Er verstummte hörbar, dann griff er in die Tasche seines Mantels, holte ein Bündel Papiere heraus und drückte es mir in die schweißnassen Hände.
„Paß gut darauf auf. Lies es auf gar keinen Fall, und gib es niemanden zu lesen. Das mußt du mir versprechen. Vielleicht wird es wichtig eines Tages. Bis dahin, paß darauf auf. Versprich mir das.
Und ich versprach es ihm, meinen verdutzten Blick auf das im Mondlicht gelb schimmernde Papier geheftet. Es fühlte sich warm an, fast lebendig.

Ich hatte noch dutzende Fragen, hunderte, millionen, doch als ich aufblickte, war Onkel Sam verschwunden. Niemand hat gesehen, wie er das Haus verlassen hat. Nach zwei Wochen konnte sich Mutter nicht mehr an seinen Besuch erinnern. Auch ich beginne immer wieder, zu vergessen, so lange, bis ich das Bündel Notizzettel in die Hand nehme, die er mir dagelassen hat. Dann höre ich den Drachen brüllen, aus Angst und Verzweiflung, aber auch aus Wut und Mordlust. Ich frage mich, was er damit meinte, eines Tages würden sie wichtig werden. Ich hoffe nur, ich werde es niemals erfahren.
 

Verschicke diese Geschichte an Deine Freunde...

Sie sind der [Besucherzähler] ste Besucher der ABST-Domain

 

und Nummero
 

seit dem 18.05.2000