Bobby's Zauberhut

Alex öffnete vorsichtig die Küchentür, gerade so schnell, daß sein Zögern deutlich wurde, aber gleichzeitig auch seine Absicht, sich allem zu stellen, was sich ihm entgegenstellen würde. Als er die Küche betrat, wußte Silvia, daß ihr Sohn zugemacht hatte. So nannte sie es, wenn er sich in sich selbst verschloß und nichts und niemanden an sich heran ließ. Er tat das sehr oft, wenn er eine Konfrontation befürchtete. Und Alex hatte ein ungewöhnlich feines Gefühl für jede Art von Konfrontation.
Der blasse Junge schlurfte mit gesengtem Kopf auf den Küchentisch zu und setzte sich seiner Mutter gegenüber. Seinen Blick heftete er augenblicklich auf das Blaue Stickmuster der Tischdecke, kleine ineinandergreifende Spiralen. Und wartete. Er konnte stundenlang so dasitzen und Warten, wenn er zugemacht hatte. Silvia seufzte. Das würde nicht einfach werden. Aber das hatte sie auch nicht erwartet.
"Alex...Du weißt, warum ich dich sprechen wollte?"
Ein Nicken. Kurz, ganz kurz nur suchten seine wasserblauen Augen die ihren, suchten nach einem Funken Verständnis, um sich sofort wieder auf das Spiralmuster zu senken.
Sie wartete kurz, ob ihr Sohn den Versuch machen würde, sich zu verteidigen. Aber er tat es nicht. Um ehrlich zu sein, hatte sie es auch nicht wirklich erwartet. Wenn er zugemacht hatte, ließ er genauso wenig heraus wie hinein. Sie konnte den Schutzwall um ihn fast körperlich spüren.
Sie seufzte erneut. "Du weißt, ich will nur dein Bestes. Aber du bist mir dabei keine große Hilfe. Bobby ist einfach nicht gut für dich. Ich..."
"Woher willst DU denn das wissen? Was weißt du denn schon von Bobby? Er ist mein Freund!" Alex Kopf war bei dem Namen Bobby nach oben geschnellt, und seine Augen funkelten seine Mutter böse an. Sie zuckte zurück, ganz so, als wäre vor ihr im Gras eine giftige Schlange hervorgeschnellt. Seine Stimme...Sie hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Bisher war er bei den Gesprächen über Bobby immer ruhig dagesessen, hatte genickt oder den Kopf geschüttelt und war dann wieder abgezogen. Dieser Ausbruch kam für Silvia vollkommen unerwartet. Sie schluckte.
"Er ist Dein einziger Freund. Die anderen Kinder wollen nichts mit dir zu tun haben, weil du dich so... komisch benimmst. Sie hänseln dich unentwegt. Gefällt dir das etwa?"
Die böse funkelnden Augen ihres Sohnes blieben unerbittlich auf sie gerichtet.
"Bobby reicht mir. Er hilft mir, mich zu verteidigen. Er würde mich nie ärgern. Er ist mein Freund."
Das letzte Wort sprach er mit solchem Nachdruck aus, als gäbe es auf Erden nichts wichtigeres. Und vielleicht hatte er recht. Wenn nur...
"Hat Bobby dir auch gesagt, daß du dem Anderson-Jungen Daumen und kleinen Finger brechen sollst?"
Silvia konnte sich noch zu gut an die Stimme von Frau Anderson erinnern, eine etwas dickliche Mutter dreier Kinder, von denen der älteste, Tommy, ein ziemlicher Raufbold war. Er tyrannisierte pausenlos die Kinder in der ersten Klasse, und Alex war sein bevorzugtes Opfer. Tief in ihrem Inneren dachte Silvia, daß diese kleine Lektion dem kleinen Biest eine ganz nützliche Lehre sein würde, aber die Tatsache, daß ihr Kind es war, die sie ihm erteilt hatte, erschreckte sie zutiefst. Sie kannte Alex nur als zurückhaltenen, aber lieben Jungen, der Fliegen aus der Milch rettete und auf ein Löschblatt zum trocknen setzte. Doch die Tatsache war unbestritten. Die ganze Klasse hatte zugesehen, wie Alex Daumen und kleinen Finger von Tommys rechter Hand in seine Fäuste nahm und nach außen bog, immer weiter, bis sie brachen. Einfach so. Und sie war sich fast sicher, daß er den gleichen Ausdruck in seinen Augen gehabt hatte wie in diesem Moment. Ein kalter Schauer rannte ihr über den Rücken.
Alex ließ seinen Kopf wieder sinken. Jetzt war er wieder der kleine, schüchterne Junge, der buchstäblich keiner Fliege etwas zu leide tun konnte.
"Er hätte sich nicht über Bobby lustig machen sollen." murmelte er den Spiralen zu. "Ich habe ihm gesagt, er soll sich bei Bobby entschuldigen. Er hätte sich doch nur entschuldigen brauchen."
Seine Stimme wurde weinerlich und immer leiser. Das letzte Wort war kaum noch zu verstehen. Silvia spürte, das es ihm leid tat. Natürlich tat es das, er war kein Kind, das Spaß daran hatte, andere leiden zu sehen. Er war kein Tommy... Aber er hatte es trotzdem getan. Und alles nur wegen Bobby. Bobby hier, Bobby da, Bobby hat dies gesagt und das getan. Sie hatte sich mit dem Schulpsychologen über Bobby unterhalten. Sehr lange, und sie war am Schluß den Tränen fast so nahe gewesen wie jetzt Alex. Dr. Raimund hatte ihr erzählt, daß Kinder manchmal all ihre verdrängten Wünsche und Hoffnungen in jemanden wie Bobby projizierten, um ihnen Platz zu machen und nicht daran zu ersticken. Bobby gab also Alex die Möglichkeit, all das, von dem er wußte, daß es falsch war, von dem er aber das Gefühl hatte, daß es notwendig war, auszuleben, ohne die Verantwortung zu übernehmen. Ein Teil von Alex wollte Tommy all die Schmerzen zurückzahlen, all die Pein und die Blamagen. Und Bobby half diesem Teil, machte den Wusch zur Wahrheit.
Gott, wie sie Bobby haßte.
Aber sie mußte sich zusammennehmen, durfte Alex ihre Wut nicht spüren lassen. Er würde sie sofort auf sich beziehen.
"Glaubst du, daß es richtig war, was du getan hast?"
Alex antwortete nicht gleich. Er hob erst wieder seinen Kopf, so daß seine Mutter sehen konnte, daß ihm das Wasser schon in den Augen stand. Dieses Funkeln, daß sie vorher so erschreckt hatte, war fast ganz verschwunden. Fast.
"Du hättest die anderen Kinder sehen sollen. Ihre Gesichter. Sie alle wollten, daß ich es tue. Keiner von ihnen wird Bobby beleidigen."
Silvia beugte sich etwas vor.
"Wenn sie alle wollen würden, daß du dich vor ein Auto wirfst, würdest du das dann auch tun? Ist es nicht so, daß etwas nicht deswegen richtiger wird, wenn andere es wollen?" Sie holte tief Luft. "Ich will wissen, ob DU es als richtig empfunden hast."
"Aber Bobby hat gesagt."
Silvias Geduldsfaden riß mit einem fast hörbaren Zing. Sie sprang auf wund warf dabei fast ihren Stuhl um.
"BOBBY IST NICHT REAL!" Schrie sie ihrem Kind ins Gesicht. Sie hatte ihn erst einmal angeschrien, als er ohne zu schauen über eine Straße gehen wollte und fast von einem Lastwagen erfaßt worden wäre. Es war nicht ihre Art zu schreien, genauso wenig, wie es die Art ihres Jungen war, Finger zu brechen. Aber nun schrie sie. Und Alex schrie zurück.
"IST ER DOCH!"
Und rannte aus der Küche in den Garten. Jetzt weine er wirklich. Und auch Silvia weine. Sie ließ sich wieder auf den Stuhl zurücksinken und weine hemmungslos in das Spiralmuster. Wenn Alex doch nur einen Vater hätte, der ihm Vernunft beibringen könnte. Sie fühlte sich der Situation, genauer gesagt, Bobby, einfach nicht gewachsen. Irgendwann schlief sie ein. Und träume davon, wie Bobby in ihr Leben getreten war...

... Es war ein staubiger alter Trödelladen, und Alex hatte so lange gefleht, bis sie ihn betraten. Hier türmten sich die nutzlosesten Dinge in den Regalen, die scheinbar ihren Preis durch ihr Alter rechtfertigen wollten, nur, daß sie Alter mit vergammelt gleichzusetzten schienen. Ein kleiner alter Mann von genau der Sorte, die man in so einem Laden erwartet, blickte sie aus seinen winzigen, weit auseinanderstehenden Augen an. Alex war begeistert gewesen von dem Laden. Er rannte von einem Regal zum anderen und begutachtete sorgfältig die bronzenen Wecker, die alten Spazierstöcke und das obligatorische ausgestopfte Krokodil, daß eine Art Grundausrüstung in solchen Läden zu sein schien. Irgendwo fand er dann Bobby, besser gesagt, den Zylinder von Bobby. Er war so mit Staub bedeckt, daß Sylvia nicht sagen konnte, ob er nun grau oder schwarz war. Doch das hielt Alex nicht davon ab, sich augenblicklich in den Hut zu verlieben. Er holte sein Taschentuch hervor und begann, den alten Zylinder zu entstauben. Vorsichtig, fast liebevoll befreite er seinen Fund von der grauen Schicht.
Und es schien wirklich ein Fund zu sein, denn ohne den Staub sah der Hut richtig passabel aus, fast schon elegant. Er war tiefschwarz und wohl mit Samt bezogen. Ein grünes Band mit roten Buchstaben schmückte seinen Krempel, und kennzeichneten ihn als "Bobby's Zauberhut".
"Schau nur Mutter, ein echter Zauberhut."
Alex war ganz aufgeregt, und seine Augen leuchteten vor Glück. Silvia war sofort klar, daß sie nicht umhin kommen würde, das gute Stück zu kaufen oder sich drei Wochen mit einem schmollenden Sohn herumschlagen zu müssen.
Sie hatte ihm den Hut abgenommen und den Verkäufer nach dem Preis gefragt. Dieser hatte ihr eine unverschämte Summe genannt, sie hatte ihm dann bewiesen, daß sie nicht umsonst Vorsitzende eines gewinnbringenden Unternehmens war, und hatte den Hut dann für weniger als die Hälfte bekommen.
Damit hatte alles angefangen.
Am nächsten Tag war Alex zu ihr gekommen und hatte ihr von Bobby erzählt. "Er ist aus dem Hut gekommen, und er will mein Freund sein." erzählte er ihr aufgeregt. "Und er kann ganz toll zaubern."
Silvia hatte ihrem Sohn kaum Beachtung geschenkt. Sie wußte, daß Alex eine sehr lebhafte Phantasie hatte, und sie nahm Bobby genauso ernst wie den Drachen im Garten oder die Fee in seinem Spielzeughaus.
Nur, das Bobby sich auf ihr tägliches Leben auswirkte.
Genauer gesagt, auf Alex Leben.
Das erste Mal wirklich beunruhigt war sie, als Alex mit einem lebenden Kaninchen ins Haus kam. Sie stand gerade am Herd und bereitete das Abendessen vor, eine kräftige Gemüsesuppe. Als sie das weiße Kaninchen in Alex Händen zappeln sah, die Augen vor Todesangst geweitet, hatte sie vor schreck den Schneebesen in den Kochtopf fallen lassen. Sie riß Alex das arme Tier aus den Händen und ließ es im Garten frei. Dann setzte sie sich mit ihrem Sohn an den Küchentisch und versuchte mit ihm zu reden.
Es blieb bei dem Versuch.
Alex behauptete steif und fest, er hätte das Kaninchen nach Bobby's Anleitung aus dem Zylinder gezogen. Natürlich glaubte ihm Sylvia nicht, aber Alex hatte zugemacht und so beließ sie es dabei plus zwei Wochen Fernsehverbot. Alex akzeptierte die Strafe ohne Murren. Er hatte in der letzten Zeit sowieso kaum vor dem Fernseher gesessen. Bobby war viel interessanter.
Von diesem Tag herrschte Krieg zwischen Sylvia und Bobby. Wann immer etwas außergewöhnliches geschah, schob Alex Bobby die Schuld in die Schuhe. zuerst versuchte Sylvia, einfach ruhig zu bleiben und abzuwarten, bis Bobby den gleichen Weg nahm wie Drache und Fee.
Aber Bobby ging nicht.
Nach dem ersten Monat mit Bobby, einer kleinen Überschwemmung in Alex Zimmer ("Bobby hat mir den Niragarafall durch seinen Hut gezeigt.") drei zerbrochenen Porzellantassen ("Bobby wollte mir das Jonglieren beibringen. Er hat gesagt, wenn ich fleißig übe, werde ich eines Tages weltberühmt.") und vielen anderen kleinen und großen Zwischenfällen beschloß Sylvia, Bobby's Verschwinden etwas zu beschleunigen. Sie packte Alex und fuhr mit ihm in die Stadt, einkaufen.
Normalerweise liebte Alex diese Einkaufsturen, denn er wußte, daß immer ein paar tolle neue Spielsachen für ihn abfielen. Doch als sie ihm diesmal über ihr Vorhaben informierte, war seine einzige Frage: "Darf Bobby auch mit?"
Bobby blieb zu Hause, Alex war nur unter Tränen bereit, in das Auto einzusteigen, blieb die ganze Zeit über abwesend und schlecht gelaunt und äußerte keinen einzigen Wunsch. Schließlich kaufte Sylvia ihm ein neues Fantasyfiguren-Set, von dem sie wußte, daß er es schon immer haben wollte. Es lag immer noch ungeöffnet in Bobby's Zimmer.
Und dann war da noch die Sache im Garten. Sie hatte gerade Teig geknetet für einen Kuchen, der für das alljährliche Erntedankfest gedacht war, als ihr Blick zufällig aus dem Fenster fiel, in den Garten.
Bobby stand auf dem frischgemähten Rasen und redete vor sich hin. Das tat er oft. Meistens erzählte er sich selbst Geschichten oder dachte laut über irgend ein Problem nach. Doch diesmal war etwas anders. Silvias Hände verharrten im monotonen Knetvorgang. Alex Augen waren auf einen Punkt in der Luft, direkt vor ihm, fixiert. Und über diesem Punkt...
Aber es war nur der Wind gewesen, nur der Wind, und dann ging Alex zur alten Schaukel, die weiter hinten im Garten stand und verschwand so aus ihrem Blickfeld.
Die Sache mit den gebrochenen Fingern war die Krönung, der Liter Wasser, der in dem sowieso schon überfüllten Faß die Überschwemmung verursachte. Sylvia konnte nicht mehr. und so flüchtete sich ihr Unterbewußtsein in einen tiefen Schlaf, und wieder betrat sie mit Alex, der ungeduldig an ihrer Hand zerrte, den Trödelladen...

Alex saß im Garten auf der alten Schaukel und ließ sich lustlos hin- und herschwingen. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. So wütend hatte er seine Mutter noch nie erlebt. Sie mochte Bobby nicht, nein das war nicht richtig, sie haßte Bobby. Und er wollte ihm einfach keine Möglichkeit einfallen, sie davon zu überzeugen, daß Bobby gut für ihn war, daß er Bobby brauchte.
"Sie wird nicht zulassen, daß ich weiter mit dir spiele."
Ich weiß.
Bobby hatte seinen Zylinder in den Händen und drehte ihn langsam im Uhrkreisersinn, so daß die Schrift "Bobby's Zauberhut" im ewigen Kreislauf über das tiefe Schwarz tanzte.
"Aber ich will nicht, daß sie dich mir wegnimmt."
Ich will das auch nicht. Schließlich sind wir Freunde.
"Ja." Bobby stieß sich kräftig vom Boden ab und ließ sich ein paar mal hin- und herschwingen. "Aber warum mag sie dich nur nicht? Ich verstehe das nicht."
Sie glaubt, daß ich ein Teil von dir bin, den sie nicht begreift. Und das macht ihr Angst.
Alex rammte seine Füße so abrupt in den Boden, daß es ihn beinahe von der Schaukel geworfen hätte. Mit großen, glänzenden Augen schaute er zu Bobby auf.
"Aber dann haßt sie ja mich?!"
Bobby zögerte, bevor er antwortete.
Ja. Und sie hat Angst vor dir. Hast du sie gesehen, die Angst in ihren Augen.
Alex nickte. Eine Träne rann über seine Wange.
"Ja, in der Küche. Sie ist richtig zurückgeschreckt."
Weil sie erkannt hat, daß du anders bist.
Bobby ging vor ihm in die Hocke
Alex, ich habe jetzt eine Frage an dich. Sie ist sehr wichtig. Denk gut nach, denn sie wird darüber entscheiden, ob du mich verlierst.
Alex nickte. Eine Träne fiel auf seine staubige Jeans.
Wenn du die Wahl hättest, zwischen mir und deiner Mutter, für wen würdest du dich dann entscheiden? Wen hast du lieber?

... Doch diesmal war es kein Trödel, die sich da in den Regalen reihten, sondern alle erdenklichen Zauberartikel. Gezinkte Karten lagen neben Jonglierbällen, seltsame Apparate priesen mit kleinen Pappschildern an, daß sie Dinge verschwinden lassen könnten. In der Mitte stand eine alte Gillutine, davor ein Baskenkorb. Alex zog sie ungeduldig auf dieses Hinrichtungsinstrument, und ohne es zu wollen, blickte sie in den Baskenkorb.
Dort lag der Kopf des alten Verkäufers, bedeckt mit dem schwarzen Zauberhut. Die blutroten Buchstaben schienen sie zu verspotten. Allerdings fehlte der Rest des kleinen Mannes. Im Augenwinkel bemerkte sie, daß die Klinge der Gillutine mit frischem Blut bedeckt war.
Die kleinen, weit auseinanderstehenden Augen waren offen, schienen sie direkt anzusehen. Der Mund war zu einem O geformt, wie bei einem Zuschauer, der gerade Zeuge eines besonders guten Tricks gewesen war.
Dann zwinkerte das linke Auge, und der Kopf begann zu grinsen.
"Sie müssen das unbedingt auch ausprobieren. Es tut gar nicht weh."
Schreiend wich sie zurück, verlor dabei die Hand von Alex. Der Junge blieb vor dem Korb stehen, blickte interessiert auf dieses Grausige Etwas. Dann griff er hinein. Holte den Zauberhut hervor. Drehte sich zu seiner Mutter um.
"Schau nur, ein echter Zauberhut!"
Sie schrie wieder. Die Buchstaben begannen, langsam zu zerfließen und als kleine rote Blutstropfen zu Boden zu fallen. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Aber sie überwand ihren Ekel und stürzte vorwärts. Ihre Hand schnellte auf den Hut zu und bekam ihn am Krempen zu fassen.
"Laß ihn los, Alex. Er ist schlecht für dich. Schlecht. Schlecht. SCHLECHT." Als sie das letzte Wort heraußschrie, riß sie mit aller Kraft an dem Hut. Doch ihr Sohn ließ nicht los. Seine Finger hatten sich wie Stahlklammern in den Samt gekrallt. Unerbittlich zerrte er zurück, und Sylvia merkte schnell, daß sie den Kräften ihres Sohnes nicht gewachsen war. In ihrer Verzweiflung holte sie mit der linken Hand aus und schlug sie dem Kind kräftig ins Gesicht. Vor schreck und Schmerz lockerte Alex seinen Griff, und mit einem letzten Ruck gelang es seiner Mutter, ihm den Hut aus der Hand zu reißen. Aber sie hatte ihre Kräfte falsch eingeschätzt. Der Schwung ließ sie rückwärts stolpern. Ihr Fuß stieß hart gegen eine Holzkiste, die einst einem berühmten Entfesslungskünstler gehört hatte. Dann verlor sie das Gleichgewicht. Ihre Arme ruderten hilflos, um irgendwo halt zu finden, verloren dabei aber nur ihrerseits den Halt an dem schwarzen Samt.
Während sie hart auf den Steinboden des Ladens prallte, sah sie, wie der Hut fast schon elegant nach oben segelte und an dem höchsten Punkt seiner Flugbahn verharrte, ganz so, als habe ihn eine unsichtbare Hand aufgefangen. Mit einer kleinen Schlaufe drehte er seine Unterseite zum Boden und setzte sich auf etwa zwei Meter Luft. Genau wie damals im Garten. Nur gab es hier im Laden keinen Wind...

Alex blickte Bobby verzweifelt an. Neue Tränen füllten seine Augen.
"Muß ich wirklich?"
Bobby nickte ernst
"Dann würde ich mich für dich entscheiden. Meine Mutter... Sie will mich nicht wirklich, und du, du verstehst mich. Ich mag dich lieber. Viel, Viel lieber. Ich will dich nie nie nie verlieren."
Mit diesen Worten stolperte er von der Schaukel und umarmte Bobby mit kindlicher Heftigkeit.
 Bobby stich ihm sanft über das Haar.
Das mußt du nicht. Ich nehme dich mit mir. Dann wird keiner uns jemals wieder trennen können.

... Silvia versuchte zu schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie schob sich mit den Händen nach hinten, weg von dem Hut, weg von Bobby, bis sie im Rücken die dünnen Sperrholzbretter des Regals spürte.
Der Hut hob sich etwas und legte sich schief, ganz so, als würde er zur Begrüßung gelüftet. Dann kehrte er in seine alte Position zurück und drehte sich zu Alex.
Der Junge ging zwei Schritte auf Bobby zu. Er lächelte immer noch glücklich, aber Silvia meinte, einen Funken Angst in seinen Augen zu sehen. Sein Blick war auf die Luft unter dem Hut geheftet, ganz so, wie damals im Garten. Er legte den Kopf etwas schief, und Silvia wußte, daß ihr Sohn einer für sie unhörbaren Stimme lauschte.
Nicht. Geh weg von ihm. GEH WEG VON IHM! Aber sie konnte immer noch kein Wort über ihre Lippen bringen. Sie konnte die Silben in ihrer Kehle spüren, aber sie war unfähig, sie laut auszusprechen.
Aber Alex schien sie trotzdem gehört zu haben, denn er drehte ihr sein Gesicht zu. Und jetzt konnte sie die Angst überdeutlich in seinen Augen sehen. Für ein, zwei Sekunden schien der Zauber gebrochen zu sein. Dann wandte sich der Junge ab und schenkte seine volle Aufmerksamkeit wieder dem Hut.
Was auch immer Bobby zu ihrem Sohn sagte, es schien ihm sehr zu gefallen, denn nun grinste er von einem Ohr zum anderen.
"Ich hab Dich auch ganz, ganz lieb" antwortete er der Luft unter dem Hut. Dann warf er sich vorwärts und umarmte seinen unsichtbaren Freund.
"NEEEEIIIIIIINNNN!!!" Endlich war der Bann von ihr abgefallen. Ihre Stimme überschlug sich in schriller Panik. Irgendwie schaffte sie es, sich an dem Regal hochzuziehen.
Das lockige Haar des Jungen bewegte sich wie unter einem Windhauch. Dann begann der Hut, sich zu senken...

Bobby nahm seinen geliebten Zauberhut ab und setzte ihn dem Jungen auf das lockige Haar.

Silvia wußte, was passieren würde, und sie wußte, sie war unfähig, es zu verhindern. Trotzdem stieß sie sich von dem Regal ab und stolperte auf ihren Sohn zu. Doch sie war zu langsam, viel zu langsam. Die Luft schien sich in eine zähflüssige Masse verwandelt zu haben, die ihr nur widerstrebend Platz machte. Nun berührte der Hut Bobby's Haar. Senkte sich tiefer. Rutschte über die Augen des Jungen. Über die Nase und den Mund. Verschluckte den ganzen Kopf.
"ALEX. NEIN. BLEIB HIER. ICH..."
Sylvia konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob der Hut wuchs oder das Kind schrumpfte, aber während sie sich weiter durch die klebrige Luft vorwärtskämpfte, paßten die Krempen mit einem mal über die Schultern des Jungen. Und immer noch sank der Zylinder weiter nach unten.
"...LIEBE..."
Sie sah mit unheimlicher Deutlichkeit, wie Alex Brust sich hob und senkte, kurz bevor der Hut sie verschluckte. Ihr Kind hatte geschrien. Ihr Sohn hatte nach ihr geschrien. Sie mußte ihm helfen. Aber er war so weit weg, so schrecklich weit weg, und immer noch sank Bobby's Zauberhut tiefer und tiefer, verschlang Alex Bauch, seine Lenden, seine Oberschenkel.
"...DICH!"
Mit aller Kraft warf sich Silvia nach vorne, zerriß das unsichtbare Netz, daß sie zu halten schien. Sie erreichte den Hut in dem Moment, in dem er sich sanft über Alex weiße Turnschuhe senkte und federleicht auf dem Boden aufsetzte.

"ALEEEEX!"
Mit diesem Schrei schreckte Silvia aus ihrem Schlaf auf. Verstörte Augen wanderten in der Küche umher. Ein Traum, nur ein Traum... aber sie wußte es besser. Es war mehr gewesen als nur ein Traum. Alex. Wo war ihr Sohn?
Sie sprang auf. "ALEX. Wo bist Du?"
Aber sie erhielt keine Antwort.
Der Garten. Alex mußte im Garten sein. Sicher saß er auf der Schaukel, so, wie er es immer tat, wenn er schmollte. Hastig eilte sie durch die Terassentür nach draußen.
"ALEX."
Aber er saß nicht auf der Schaukel, wenngleich sie noch gleichmäßig hin- und herschwang. Nun, das hatte nichts zu bedeuten. Vielleicht war er in den Park gegangen. Er ging gerne in den Park. Es war nur ein Traum gewesen. Nur der Wind...
Dann fiel ihr Blick auf den Hut. Er stand mitten im feuchten Gras. Alex hätte ihn nie einfach so ins Gras gelegt. Doch nun stand er da, das Samt saugte sich langsam voll Wasser, und die roten Buchstaben grinsten sie triumphierend an.

© Stefan Brinkmann, www.nachtpoet.de, stefan@nachtpoet.de

 

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