Fehleinschätzung

Sie lächelt Dich an, von der anderen Seite des düsteren Clubs. Es ist ein zartes Lächeln, nicht mehr als ein leichtes Heben der Mundwinkel, aber deshalb nicht weniger vielversprechend. Du lächelst zurück, hebst Dein Bierglas zum Gruß. Sie erwidert Deinen Blick, für ein, zwei, drei Sekunden, dann dreht sie sich um und wechselt ein paar Worte mit dem Barkeeper.
Ist sie es? Du bist Dir nicht sicher. Unwillkürlich wandert Deine rechte Hand an Deine rechte Hüfte. Ja. Er ist noch da. Hart unter Deiner Jacke. Du musst Dir das abgewöhnen, diesen ständigen Kontrollgriff. Wenn sie das ist, was Du vermutest, dann weiß Gott, was sie alles sieht, ob sie Dir nun den Rücken zuwendet oder direkt durch Deine Augen in Deine Seele blickt.
Es spricht einiges dafür. Du hast gründlich recherchiert. Ihr Name ist Eva. Ihr Nachname wechselt ständig, je nach Stadt, in der sie sich aufhält. Es gibt keine Fotos von ihr. Kein einziges. Du hattest überlegt, ob Du eine Digitalkamera mitbringst, nur, um sicher zu gehen, Dich dann aber dagegen entschieden. Zu gefährlich. Alles, was ihren Verdacht erregen könnte, würde Deine Arbeit von nunmehr drei Jahren zunichte machen.
Da. Jetzt dreht sie sich wieder um. Hastig greift Deine schuldbewusste rechte Hand nach dem Bierglas. Gott, wie schön sie ist. Die schönste Frau der Welt. So haben sie alle Zeugen benannt. Männlich wie weiblich. Egal. Ihr Zauber macht keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Ihre Augen sind fast so schwarz wie ihr Haar, stehen im krassen Gegensatz zu ihrer fast elfenbeinbleichen Haut. Lange, dunkle Strähnen umspielen ihren schlanken Hals. Ihr Gesicht ist markant und zart zugleich, wie scharfe Linien auf weißem Papier, ausgeblichen von der Zeit.
Wie alt sie wohl ist? Sie sieht nicht älter aus als Mitte 20. Bedeutungslos. Ihre Schönheit ist zeitlos.
Jetzt steht sie auf. Verdammt. Will sie schon gehen? Wird sie Dir so schnell wieder entgleiten, jetzt, wo Du sie endlich gefunden hast, nach all den Monaten und Jahren verzehrender Suche? Jetzt oder nie. Tu etwas. Wink sie zu Dir. Steh auf. Sprich sie an. Komm in die Gänge, gottverflucht.
Aber Du sitzt nur da, erstarrt wie die Maus vor der Schlange, kannst nicht anders als Dich an Deinem Bierglas festhalten, um nicht vom Stuhl zu kippen. Ganz toll, wirklich. Ein schöner Jäger bist Du.
Sie steht vor der Tür. Greift nach dem Griff. Zögert. Lass wenigstens das Glas los, Du Idiot. Na also. Geht doch. Und jetzt: Lächle. Etwas mehr. Ja, gut. Und jetzt, steh auf. Steh auf! Komm schon, so schwer ist das nicht. Steh! Auf!
Sie dreht sich ein letztes mal um, lächelt Dich an. Schlechtes Timing. Du, gerade beim aufstehen, auf den Tisch gestützt wie ein Betrunkener, der es wohl kaum noch bis zur Tür schaffen wird.
Öffnet die Tür. Gleitet hinaus in die Nacht.
Kaum ist sie weg, übernimmt eine neue Panik Besitz von Dir. Du verlierst sie. Hier. Jetzt. Und Du wirst sie nie wieder finden. Die Kraft der Verzweiflung schießt in Deine Beine und katapultiert Dich zur Tür, in die Nacht. Dein Blick eilt die schwarze Straße auf und ab. Keine Spur von ihr. Natürlich nicht. Es ist vorbei. Alle Spannung fällt von Dir ab, macht der Verzweiflung platz. Es ist aus. Aus und vorbei. Du hast es versaut. So nah dran...
Eine Hand legt sich auf Deine Schulter.
Du springst gut einen halben Meter senkrecht in die Luft und kreischst dabei auf wie ein kleines Mädchen. Dein Herz setzt eine Sekunde aus und startet dann zum Sprint seines Lebens durch.
Ganz ruhig, sagst Dir Dein Verstand. Das ist nur der Türsteher. Du hast vergessen, Dein Bier zu zahlen. Das ist alles. Kein Grund zur Panik.
„Hören sie“, sagst Du im umdrehen, „ich wollte gleich wieder reinkommen. Dachte nur, ich hätte eine alte Bekannte...“
Sie lächelt Dich an, dieses leichte, allumfassende Lächeln. Ihre Lippen sind von dunklem Rot, wie getrocknetes Blut, voll und sinnlich. Ruhig liegen ihre Augen auf Dir, fragend, fordernd. Ihr Gesicht füllt die Welt aus.
Du solltest jetzt etwas sagen. Etwas witziges. Charmantes. Intelligentes.
„Willst Du tanzen?“
Ehm, nein, das wäre der Satz für drinnen gewesen. Dummes, träges Gehirn.
Aber was macht sie? Legt Deine Hände um ihre Hüften. Schmiegt sich an Dich. Ihren Kopf auf Deine Brust. Beginnt, sich im Takt der Musik zu wiegen, die gedämpft durch die geschlossene Tür des Clubs dringt.
Nuuun gut. Es hätte schlechter laufen können. Wenn sich jetzt Deine Beine daran erinnern könnten, wie man... ah. Es geht. Langsam gehen ihre Bewegungen auf Dich über. Wie das Kreisen der Flöte die Schlange, zieht ihr Tanz Dich immer mehr in seinen Bann. Deine Hände beginnen, erst zaghaft, dann fordernd, über ihren Rücken zu wandern. Dein Gesicht vergräbt ich in ihrem vollen, langen Haar. Wie gut sie riecht, irgendwie nach... Kirschblüten. Ja. Die Welt löst sich in Wohlgefallen auf. Da ist nur noch sie. Ihr Duft. Ihre Haut unter deinen tastenden Fingern. Ihr Gesicht wandert höher, schmiegt sich an deinen Hals. Ihre Lippen finden den empfindlichen Punkt, gleich unter dem Wangenknochen. Ihre Zunge, flink und feucht... ihre harten, scharfen Zähne an Deiner Haut...
„Denk nicht mal dran“ flüsterst Du ihr zärtlich ins Ohr. Deine rechte Hand hat den Holzpflock unter Deiner Jacke hervorgezaubert und presst ihn nun, Spitze voran, an ihre perfekte Brust.
"Der ist mit Weihwasser getränkt," fügst Du wie beiläufig hinzu. "Ich wette, der fährt durch Dein Fleisch wie ein heißes Messer durch Butter."
Sie erstarrt.
Erst jetzt merkst Du, dass die Musik schon lange nicht mehr zu hören ist. Ihr seid in einer dieser kleinen, unbeleuchteten Seitengassen. Weiß Gott, wie ihr hierher gekommen seid. Oder wie viel Zeit vergangen ist.
Vorsichtig machst Du einen Schritt zurück, ohne dabei den Druck des Pflocks zu verringern.
„Hallo Eva." Siegessicher grinst Du sie an. „Du ahnst ja gar nicht, wie lange ich schon nach Dir suche.“
„Waf foll der feif?“
„Du bist ein Vampir, und ich habe Dich gefangen, und das wird die Entdeckung des... Du lispelst?“
Du traust Deinen Ohren nicht.
„Mach nur, ftreu Falf in eine offene Wunde“ lispelt Eva entrüstet.
Dieses perfekte Wesen... lispelte wie ein kleines Mädchen mit neuer Zahnspange. Wie ein undichter Teekessel. Wie ein zahnloses altes Weib. Wie...
„Hör fu, ich kann deine Gedanken lefen. Ef wäre alfo nett, wenn du damit aufhören könnteft.“
Du schluckst und spürst, wie alles Blut eilig in die oberste Etage schießt, um besser sehen zu können, wie Du Dich entgültig blamierst. Gleich wirst Du Dich bei dieser Kreatur auch noch...
„Tut mir leid. Es ist nur so, ich hatte nicht erwartet..:“
War ja klar.
„Fprich Du mal mit fwei langen hervorftehenden Fähnen.“
Ihre schwarzen Augen funkeln Dich angriffslustig an. Du spürst, wie Dir die Situation aus den Händen zu gleiten droht. Doch bevor Du etwas erwidern kannst, lispelt sie dir wütend entgegen:
„Waf willft Du überhaupt von mir?
Zurück zum Geschäft. Soll Dir recht sein.
„Nun,“ sagst Du, nicht ohne Stolz, „ich bin Dir schon seit drei Jahren auf der Fährte. Ich wusste immer, dass es euch gibt, und als diese seltsame Mordserie durch die Presse ging, mit all den blutleeren Opfern...“
„Daf war ich nicht.“
„Du warst dort. An allen Tatorten! Ich habe sehr genau recherchiert, und...“
„Jemand muffte sich ja um diefen Irren kümmern, oder nicht? Bringt meine ganze Raffe in Verruf. War nicht mal einer von unf.“
Ihre Art, Dich dauernd zu unterbrechen, hat etwas extrem entnervendes an sich. Das Lispeln macht es nicht besser.
„Du willst mir erzählen, dass der Killer kein...?“
„Nein. Er war ein Menf. Etwas durchgeknallt. Hielt sich für einen von unf. Biff feine Opfer und lief fie danach aufbluten. Daf Blut hat er fuhaufe in Platiktüten gefammelt und in seiner Kühltruhe aufbewahrt. Als ob altef Blut für unf geniefbar wäre. Und überhaupt, waf bitte ift fo toll an einem ewigen Leben mit Fprachfehler? Weift Du, wie daf nervt, wenn jeder Menf nach ein paar Worten von dir in Gelächter aufbricht? Und fei ef auch nur im Geifte. Wir hören daf!“
„Dürfte ich vielleicht mal ausreden?“ Herausfordernd presst Du den Holzpflock etwas fester gegen ihre Brust.
„Wenn Du waf finnvollef fu fagen haft, vielleicht.“ Ihr Blick bleibt ungerührt abschätzig an Dir kleben.
„Es ist nicht sehr höflich, jemanden andauernd ins Wort..:“ setzt Du verzweifelt an.
„Ef ift auch nicht fer höflich, jemanden mit einem Holzpflock fu bedrohen.“
„Du wolltest mich beißen! Mich aussaugen, umbringen oder zu Deinesgleichen machen...“
Ihre Brust hebt und senkt sich mit einem tiefen Seufzer. Vor Schreck gleitet Dir fast der Holzpflock aus Deinen schweißnassen Händen.
„Du kleiner Narr“, sagt sie fast mitleidig. „Um in die Dunkelheit zu wechfeln, mufft Du unfer Blut trinken. Ein Biff alleine bringt da gar nichtf. Und so ein kleiner Blutverluft bringt keinen um. Auferdem kann fo ein Biff fer anregend fein.“
„Du willst mir erzählen, das euereins noch nie einen Menschen getötet hat?“
Sie windet sich ein wenig. Gut. Ein wunder Punkt. Du dachtest schon, auf die hast nur Du die Exklusivrechte.
„Nift ganz. Ef gibt immer ein paar unerfättliche. Defhalb gibt ef folche wie mich. Wir find dafür da, jene Brüder und Fwestern wieder zur Vernuft fu bringen, die über die Ftränge flagen.“
„A-HA!“ setzt Du mit neugewonnener Selbstsicherheit nach.
„Aber“, fährt sie ungerührt fort, „gegen euch Menfen find wir fahm wie Lämmer. Väter, die ihre Kinder mifhandeln, bif fie ferbrechen, und dann wegwerfen wie ein Ftück Abfall. Kinder, die andere Kinder Foltern und ferfleifen, weil fie so waf im Fernfehen gefehen haben. Kriege, in denen taufende fterben, nur wegen Öl oder Glauben... ganf fu fweigen von den hunterten meinef Volkef, die von felbsternannten Fützern der Menfheit niedergemetfelt wurden. Wir jagen, um fu überleben. Ihr hingegen...“
„Ist ja gut!“ Du spürst, wie Deine Hand mit dem Pflock zu zittern anfängt. Das ganze geht schon viel zu weit. Zeit, ein Ende zu finden.
„Jedenfalls hab ich Dich gefunden, und jetzt...“
„Ja?“ Ihre Augen sind voller Spott. „Waf ift jetft. Willft Du mich an die Medien verkaufen?“
Das ist tatsächlich Dein Plan. Aus ihrem Mund klingt er irgendwie nicht mehr so toll. Du nickst schwach.
„Fehr witfig. Eine Fenfation, die fich auf kein Foto, keinen Film bannen läfft. Die Feitungen und daf Fernfehen werden fich drum reiffen.“
Das... hattest Du nicht bedacht. Irgendwie schafft dieses, dieses... Ding, dass Du Dich immer mehr wie ein kompletter Trottel fühlst.
„Die... die...“ stotterst Du. Schluckst. Setzt neu an. „Die Menschen haben ein Recht darauf, von Euch zu erfahren.
„Und waf foll daf bringen?“ erwidert sie gelangweilt. Es scheint nicht das erste mal zu sein, dass sie diese Diskussion führt. „Panik. Vielleicht Krieg. Wir tun keinem waf, folange man unf in Ruhe läfft. Aber wenn wir gefwungen find, können wir unf fehr fnell vermehren. Defhalb find fich alle einig, daff ef beffer ift, unfere Exiftenf im Dunkeln fu laffen... bildlich gefprochen.“
„Alle?“ fragst Du, nicht gutes ahnend.
„Ja. Menfen und meine Volk gleichermafen. Denkft Du wirklich, Eure Geheimdienfte wüfften nichtf von unf? Ich meine felbft Du haft mich gefunden.“
„Sie wissen es?“ Du kannst es nicht fassen. Aber was sie sagt, klingt so einleuchtend.
„Natürlich wiffen fie ef, Dummchen. Könnteft Du jetft endlich diefen Pflock von meinem Bufen nehmen? Er kitfelt.“
„Tut... tut mir leid.“
Ehe Dir klar ist, was Du tust, lässt Du den Pflock sinken.
Sie ist über Dir, bevor Du auch nur blinzeln kannst. Dein Kopf landet hart auf dem regennassen Asphalt. Bunte Sterne tanzen zwischen Dir und ihrem Gesicht.
„Narr“, flüstert sie Dir zuckersüß ins Ohr. „Dachtest du wirklich, wir hätten nach Jahrhunderte langem Training das Lispeln nicht überwunden? Aber ihr Menschen seid ja so leicht aus dem Konzept zu bringen, nift wahr, mein Fatf?“
Deine rechte Hand hält immer noch den Pflock. Wenn Du sie nur...
„Oh, bitte.“ Ihre Hand umgreift Dein Handgelenk und bricht es so leicht wie einen vertrockneten Zweig.
Der Schmerz ist wie eine Lawine, die Dich unter sich begräbt. Du willst schreien, aber sie kniet auf Deiner Brust, lässt Dir gerade mal genug Luft zum Atmen. Stattdessen wimmerst Du wie ein getretener Hund.
„Bleib schön bei mir. Ich bin noch nicht fertig“, flüstert sie Dir zuckersüß ins Ohr. Doch die tiefschwarze Ohnmacht legt sich schon wie eine Würgeschlange um Deinen Verstand, vernebelt Deinen Blick.
„Du hast Glück“, flüstert ihre Stimme aus weiter Ferne. „Ich bin auf Bewährung. Zu viele Menschen hier, und ich hasse es, hinterher aufzuräumen. Außerdem...“
Sie beugt sich über Dich, ihre Stimme, jetzt ganz nah an Deinem Ohr.
„Außerdem hat mir das Bild gefallen. Zum Duft meiner Haare. Ja, das hab ich auch gehört, mein Kleiner. Kirschblüte. Wusstest Du, dass die Kirschblüte als einzige fällt und stirbt, gerade wenn sie ihre volle Pracht erreicht hat? Sie vertrocknet nicht am Ast, oh nein. Sie fällt. Ein schönes Bild, wirklich. Deshalb, mein Kleiner...“
Ihr Mund wandert tiefer.
„...erfülle ich Dir einen Wunsch. Du sollst Dein Vorzeigeexemplar haben.“
Den Biss spürst Du kaum noch. Es wird nur auf einmal so seltsam kalt. Warum macht den keiner das Fenster zu?
Deine Kehle.
Sie ist ganz trocken.
Jemand presst Dir einen nassen Schwamm an die Lippen. Zumindest fühlt es sich so an.
Du trinkst gierig von dem klebrigen Nass.
„Denk daran,“ sagt Deine Mutter, „anbeißen, nicht aufreißen. Kosten, nicht leer saugen. Bleib für den Anfang in den Schatten, traue keinem, und gib dich nie zu erkennen. Du hast Courage, Kleiner, vielleicht schaffst du es ein, zwei Monate. Sie beobachten dich. Vergiss das nie. Sie beobachten dich.“
Und dann, eine andere Stimme, untertänig, seltsam vertraut, das gehorsame Kind:
„Daf werde ich, Miftreff. Ich verfpreche ef.“

© 2001 Stefan Brinkmann

 

 

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