Weißer Wolf

Der Geruch des Fremden. Beißend, grau. tot. Gefahr für sein Reich. Gefahr für sein Volk. Den Weg finden, die Fährte aufnehmen. Frisch, voller kalter Lust zu töten. Erinnerungen, Bilder, tief aus seinem Selbst. Schmerz, Dunkelheit. Nicht noch einmal. Diesmal würde alles anders kommen.

Griff lachte. Er lachte ausgenommen selten, aber dies war einfach zu komisch. Der alte Mann, wohl ein Indianer, mit seinem lächerlichen Versuch, ihn zurückzuhalten. Glaubte doch wirklich, er würde sich von solchem abergläubischen Geschwätz von seinem Plan abhalten lassen. Eine weitere Lachsalve verließ seine Kehle. Heiliges Land! Wächter, die jedes Töten rächten! Der alte Indianer war selbst schon fast eine Leiche gewesen.
Und er schien der einzige Hüter dieses Waldstückes zu sein. Ein Waldstück, in dem es von Leben nur so wimmelte. Griff jagte nun schon seit mehr als 20 Jahren, und er erkannte gute Jagdgebiete genauso schnell wie die Anwesenheit von Wildhütern. Dieses Waldstück sprach eine deutliche Sprache, und Griff verstand sie. Abgewetzte Rinde an Bäumen, Wildpfade, all die kleinen und großen Zeichen. Lange hatte er nach dem perfekten Gebiet gesucht, um seinem Hobby nachzugehen. Andere nannten es wildern, aber das war ein häßliches Wort. Natürlich kam ihm das Geld, das er mit seinem Hobby verdiente, mehr als nur recht. Aber das war wohl bei Briefmarkensammlern nicht anders. Griff jagte nicht des Geldes wegen, er jagte, weil nichts dieses Gefühl ersetzen konnte, sich auf die Fährte seines Opfers zu heften, es zu verfolgen, wenn nötig, über Stunden hinaus, es in die Ecke zu drängen und dann zum Todesschuß anzusetzen. Das war besser als jedes Besäufnis, es war besser als Sex. Es war alles.
Er stand plötzlich vor ihm, keine zwanzig Schritt entfernt. Griff hatte die Lichtung betreten, und ein weiteres lachen war ihm in der Kehle stecken geblieben. Im ersten Moment war selbst er überwältigt von der Schönheit des Wolfes. Nie zuvor hatte er ein solches Prachtexemplar gesehen, und bei Gott, er hatte viele von diesen Biesern erlegt, verdammt viele. Doch dieser hier war anders. Er war deutlich größer als jeder ihm bekannte Wolf, sein Körper schien vor Kraft zu vibrieren. Deutlich waren die kräftigen Muskeln unter seinem dichten, glatten Fell zu erkennen.
Das Fell. Es hatte die Farbe von frisch gefallenem Schnee. Nicht hellgrau, nein, vor ihm stand ein echter, strahlend weißer Wolf. Das Tier verharrte vollkommen ruhig, nur das Heben und Senken der mächtigen Brust bewies, daß es keine Attrappe war. Und die Augen. Selbst aus dieser Entfernung konnte Griff erkennen, daß sie grün waren. Sie schienen von innen heraus zu leuchten. Er konnte ihren Blick fast körperlich spüren.
Nach einer kurzen Ewigkeit wurde Griff klar, daß er mit offenem Mund den besten Abschuß betrachtete, der ihm in sein Leben lang vor die Flinte gekommen war. Ganz vorsichtig hob er sein Gewehr, legte an. Sein Herz schlug hart in seiner Brust. So hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er vor knapp zwei Jahren eine Wolfsmutter samt ihrer Brut aufgespürt hatte. Die Wölfin hatte er mit einem glatten Herzschuß erledigt, den Kleinen einem nach dem anderen mit seinem Jagtmesser die Kehle durchgeschnitten. Die gleiche Euphorie wie damals überkam ihn auch diesmal, nun da er den weißen Wolf im Visier hatte. Es war fast zu einfach.
Sein Finger fand den Abzug.
Der Schuß zerschnitt hart die Stille, zerstörte den Zauber. Der Wolf jaulte auf, wurde nach hinten geschleudert. Doch sofort war er wieder auf den Beinen und verschwand im Gebüsch. Die Linke Hinterläufe zog er nach.
Für einen Moment war Griff fassungslos. Das war etwas, was noch seltener vorkam wie ein ordentliches Gelächter. Er hatte verfehlt, auf diese Entfernung. Sein Ziel war perfekt gewesen, es war fast windstill, und Griff gehörte zu den Menschen, die ihr Gewehr besser pflegten als ihre Frau.
Er hatte verfehlt. Aber nicht ganz. Der Wolf war verletzt, stand wahrscheinlich unter Schock. Mit seinem weißen Fell dürfte er sich kaum verstecken können, und wenn er Blut verlor, was mehr als nur wahrscheinlich war, dann würde es ein leichtes sein, seiner Spur zu folgen.
Eigentlich machte es so noch viel mehr Spaß. Er würde das Mistviech schon noch erwischen.
Mit schnellen Schritten war er bei der Stelle, wo er den Wolf angeschossen hatte. Und wahrhaftig, da war Blut. Es fiel Griff nicht schwer, die Spur aufzunehmen. So schnell er konnte, verfolgte er das verwundete Tier. Es war ein Kinderspiel. Das Blut war ein deutlicher Wegweiser, und die weißen Haarbüschel, die hier und dort in den Büschen hingen, markierten den Weg noch zusätzlich. Der weiße Wolf verlor sehr viel Blut. Lange würde er sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Und die Wunde hatte bei dieser Flucht auch keine Gelegenheit zu verheilen. Im Gegenteil, sie wurde augenscheinlich immer schlimmer. Nach knapp einer Stunde war die Blutspur fast durchgehend. Es grenzte an ein Wunder, daß der Wolf sich immer noch weiterschleppte. Aber, bei Gott, Griff hatte das Tier gesehen, und traute ihm ohne weiteres zu, ihn noch ein, zwei Stunden durch das Dickicht zu hetzen.
Bald darauf fand er Stellen, an denen sich ganze Blutlachen angesammelt hatten. Hier mußte der weiße Wolf zusammengebrochen sein. Doch irgendwie fand er immer wieder die Kraft, sich aufzurappeln und noch ein Stück weiter zu schleppen. In Griff regte sich fast schon ein Gefühl der Bewunderung. Doch es wurde von der Erwartung überlagert, endlich das zu Ende zu bringen, was er nun schon vor fast zwei Stunden begonnen hatte. Lange konnte diese Jagt nun nicht mehr dauern.
Es verging noch eine weitere Stunde, bis der Wolf wieder gänzlich unerwartet auftauchte. Er lag zwischen zwei großen, alten Bäumen. Die letzten Meter hatte er sich scheinbar nur noch mit letzter Kraft geschleppt, denn das Laub war von einer Schleifspur geteilt und vom frischen Blut der Wunde verklebt. Das Fell des weißen Wolfes war ebenfalls fleckig vom Blut, durchzogen von dunklen, verkrusteten Streifen, übersät mit Laub und Dreck. Mit einem Wolf, der einstmals so stolze Wolf war zu einer erbärmlichen Kreatur verkommen, die nun, flach hechelnd, vor seinem Jäger lag, kaum weiter entfernt als bei ihrem ersten Zusammentreffen.
Nur die Augen waren ungebrochen, starrten mit alter Kraft und Weisheit auf Griff, beobachteten ungerührt, wie dieser das Gewehr in Anschlag brachte.
Vielleicht war es diese ungebrochene Stärke, die griff zögern ließ. Vielleicht war es auch die fehlende Panik in dem Blick der tiefgrünen Augen. Dutzende male hatte er sie gesehen in den Augen aller erdenklichen Kreaturen, die er bis zur Erschöpfung gejagt hatte. Nie hatte sie gefehlt. Bis zu diesem Augenblick.
Langsam ließ er das Gewehr wieder sinken. Nein, so leicht würde er es sich nicht machen. Er legte das Gewehr ab und zog mit der Rechten sein Jagtmesser. Er würde diesem Biest schon noch lehren, was Angst war.
Er machte einen Schritt nach vorne.
Der Boden unter seinem Standbein gab nach.
Erschrocken versuchte er, sein Gewicht zurückzuverlagern, sich nach hinten zu schmeißen. Doch es war zu spät. Mit einem Mal schien sich die Welt unter ihm aufzulösen. Holz krachte, als er stürzte.
Tief.
Als er aufprallte, hörte er seine Beinknochen brechen, ein trockenes Knirschen, fast wie von den Ästen, die die Falle abgedeckt hatten. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper und ließ ihm das Wasser in die Augen schießen. Und Griff tat etwas, was für ihn noch ungewöhnlicher war als blankes Erstaunen. Er schrie, brüllte Schmerz, Wut, Enttäuschung und Angst in die Welt hinaus. Er brüllte sehr laut und lange. Dann weinte er.
Irgendwann gewann er so viel von seiner Fassung zurück, daß er sich umsehen konnte.
Die Falle war gut vier Meter tief, eine Wolfsfalle. Neben ihm lagen die Knochen eines früheren Opfers. Wolfsknochen. Ungewöhnlich große Wolfsknochen. Die linke Hinterläufe war gesplittert, und Griff war sich sicher, nicht durch den Sturz.
Es wunderte ihn nicht, daß der weiße Wolf hoch oben über die Öffnung blickte. Sein Fell war makellos wie zu Anfang, die Schwäche war von ihm gewichen. Blind vor Wut tastete Griff nach seinem Gewehr. Doch im nächsten Moment wurde ihm klar, daß es immer noch vor der Grube lag, dort, wo er es abgelegt hatte. Stattdessen fanden seine suchenden Hände das Jagtmesser. Mit der Kraft der Verzweiflung warf er es nach dem Tier.
Es war ein guter Wurf. Die Klinge traf die Stirn des weißen Wolfes. Durchdrang sie, als wäre das Fell nur Nebel. Fiel auf das trockene Laub.
Der Wolf starrte weiter hinab auf Griff. Regungslos. Er hatte Zeit.
Es dauerte sehr lange, bis Griffs letzte Schreie verklungen waren.

Ruhe. Frieden. Das Gleichgewicht. Fressen und Gefressen werden. Sein Volk war sicher. Er beschützte es. Er hatte es immer beschützt. Er würde es immer schützen. Ewig.
 

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