Das Nest

Es waren einmal zwei Vögel, die trafen einander im Flug, und weil sie einander sehr mochten, weil sie der Glanz der Augen betörte, die geschmeidigen Federn des anderen, und seine Art, so leicht und unbedarft durch die Lüfte zu gleiten, beschlossen sie, ein Stück miteinander zu fliegen.
Irgendwann kam ein Sturm auf, und einem der Vögel wurde Bang. „Weißt du, ich fliege noch nicht so lang wie du, und der Sturm, er wirkt so bedrohlich. Was, wenn er meine Federn ausreißt, meine Flügel bricht... ganz ehrlich ich hab ein wenig Angst.“
„Das macht doch nichts“, sagte der andere. „Such Dir einfach einen Baum, und versteck dich dort, bis der Sturm vorüber ist. Ich werde auf dich warten, und dann, dann fliegen wir weiter, der Sonne entgegen, oder dem Mond.“
„Ach,“ sagte da der ängstliche Vogel, „Der Sturm wird dich davon reißen, und ich werde dich nie wieder finden. Ich will dich nicht missen, nicht aus den Augen verlieren. Und sieh nur, die Bäume, sie sehen so klein aus von hier oben. Wie können sie mir Schutz bieten.“
Der mutige Vogel hatte Mitleid für den ängstlichen, und auch er hatte etwas Sorge. Was, wenn sein geliebter Vogel nun mehr Freude fand an der Sicherheit eines Baumes als an dem Flug mit ihm?
„Weißt du was,“ zwitscherte er deswegen. „Ich will dir Baum sein, der größte und stärkste Baum, den es gibt.“
Sagte es und landete. Seine Krallen gruben sich tief in den Boden, wuchsen durch die feuchte Erde, wurden dicker und dicker, bis sie so fest im Boden verankert waren, daß kein Sturm der Welt sie hätte herausreißen können. Und auch der Vogel selbst wuchs, seine Knochen wurden zu Holz, sein Blut zu Harz, und seine Federn zu Blättern. Im Nu war er der größte und stärkste Baum, den man sich vorstellen kann.
Der ängstliche Vogel landete in seinem dichten Blätterwerk, kuschelte sich ganz dicht an den Stamm. Das gefiel dem Baum, und das Rauschen seiner Blätter klang wie ein süßes Lachen.
So blieben sie, bis der Sturm kam. Er fegte durch den Wald, rüttelte an den Zweigen und Blättern, und viele Bäume beugten sich seiner Gewalt. Ein paar verloren Zweige und Blätter, doch einer, der größer und stärker schien als all die anderen, stand aufrecht da und trotze dem Sturm. Seine Zweige beugten sich nur, um einen kleinen Vogel im Herzen des Ästewerks zu schützen, und kein einziger Tropfen des prasselnden Regens drang durch das Schild der Blätter.
Der Sturm wütete und tobte sehr lange, als ärgere ihn die Arroganz dieses einen Baumes, aber irgendwann sah er wohl ein, daß er gegen dessen Kraft keine Chance hatte, und zog weiter.
„Nun können wir weiter fliegen!“ sagte der Baum glücklich, und wollte schon seine Wurzeln wieder aus dem Boden ziehen.
Aber dem kleinen Vogel in seinen Ästen gefiel es allzugut an seinem starken Stamm. Hier war es so sicher, so geborgen, und der Horizont stand nicht ständig vor seinen Augen. Diese Weite, sie machte ihm manchmal Angst.
“Warte,“ zwitscherte er deshalb. „Der Sturm, er schien sehr wütend zu sein. Ich denke, du hast ihn erzürnt. Er wird wiederkommen, ganz sicher, und ich bin doch noch so klein und unsicher in meinem Flug. Können wir nicht noch ein Weilchen hier bleiben? Ich übe das Fliegen, ganz doll, und wenn der Sturm kommt, kann ich mich schnell in deine Blätter flüchten. Du bist so groß und Stark, du kannst mich beschützen.
„Wenn du meinst“, erwiderte der Baum. Klar, er wäre gern sofort weiter geflogen. Hier, in diesem Wald, konnte er den Horizont nicht sehen. Manchmal erschreckte ihn zwar diese Weite, aber noch mehr fragte er sich, was wohl hinter dem Horizont lang, und hinter dem Horizont hinter dem Horizont, und immer so weiter. Aber die Worte des kleinen Vogels schmeichelten ihm. Er war gerne groß und stark für ihn, denn er mochte ihn sehr. Und er mochte das Gefühl, gebraucht zu werden.
„Natürlich brauche ich ein Nest“, fuhr der Vogel fort. „Denn sonst falle ich noch von deinen Ästen, wenn ich schlafe, und das willst du doch sicher nicht.“
„Natürlich nicht“, sagte der Baum, und dachte an den Horizont.
Schon hatte sich der kleine Vogel aufgeschwungen, um Bauzeug für das Nest zu sammeln. Der Baum sah ihm nach, wie er in der Tiefe des Waldes verschwand, und stellte erstaunt fest, wie klein und zerbrechlich der Vogel doch war. Es war schon ganz richtig, auf ihn aufzupassen. Ein so kleiner Vogel brauchte einen so großen Beschützer wie ihn.
So begann der kleine Vogel, sich ein Nest in den Blättern des Baumes zu bauen. Und seltsam, jedesmal, wenn er fort flog, vermißte ihn der Baum ein wenig mehr. Er wäre ihm so gerne gefolgt, aber er konnte ja nicht fliegen, er war ja ein Baum. Zugleich war er auch schrecklich stolz auf seinen Vogel, wie mutig er doch war, sich allein in den dunklen Wald zu trauen. Sicher ist er nur so mutig, weil er mich hat, dachte er sich, und das gab ihn ein warmes Gefühl, wie Sonne auf seinen Blättern.
Nur, er konnte den Horizont nicht vergessen, und immer wieder erwischte er sich dabei, wie er vom Fliegen träumte. Ein ungebührliches Verhalten für einen Baum, das wußte er wohl. Doch er konnte nichts dagegen tun, etwas drängte ihn in Richtung der Sonne, oder des Mondes. Eines Tages, das Nest war schon so groß wie ein kleiner Busch, erzählte er dem kleinen Vogel davon.
Als er geendet hatte, schaute ihn der kleine Vogel ganz sorgenvoll an. „Oh, mein geliebter Baum, das ist ja ganz schrecklich. Ich fürchte fast, du verlierst deinen Halt. Aber hab keine Angst, ich will für dich das tun, was du für mich getan hast.“
Sprach es und setzte sich neben den Stamm des großen, starken Baumes. Seine Krallen wuchsen in den Boden, gruben sich tief in die feuchte Erde, und in die Wurzeln, die sie durchzogen. Dann reckte er seinen Hals, reckte ihn in Richtung Nest, immer höher und höher und höher hinauf, bis er ganz dünn war, und er schon Angst hatte, er würde abbrechen. Also lehnte er ihn an den Stamm, rundherum, wickelte ihn schlangengleich ein, suchte Halt an den Ästen, wie er es schon so oft getan hatte, immer weiter, teilte sich viele male, um auch jeden Ast zu erwischen.
„Siehst du,“ sprach die Schlingpflanze, „jetzt kann dir nichts mehr passieren. Ich halte dich ganz fest, mein Herz, gebe dir halt, so wie du mir halt gibst. Ist das nicht wundervoll?“
Der Baum spürte die Wurzeln der Schlingpflanze in seinen Wurzeln, fühlte einen Teil seiner Kraft in sie über gehen. Jetzt brauchte sie ihn mehr als jemals zuvor. Sein Leben war nun auch ihr Leben. Er wußte, das sollte ihn freuen. Aber der Himmel, er schien nun weiter weg als jemals zuvor. Sein Stamm weinte Tränen aus Harz, welche gierig von der Schlingpflanze aufgesaugt wurden. Wahrlich, nichts von ihm sollte ihr verloren gehen.
Mir der Zeit spürte der Baum, wie er immer schwächer wurde. Die Erde hatte nicht genug Nährstoffe für ihn und die Pflanze. Er brauchte die, welche er durch seine Wurzeln ziehen konnte, für sich selbst, um so groß und stark zu bleiben wie zuvor. Aber mußte er denn noch groß und stark sein? Die Schlingpflanze gab doch auch im nun halt, hielt seine Wurzeln im Boden fest und seine Zweige in Position. Es wäre egoistisch, alles für sich zu behalten, nur um groß und stark zu bleiben, wo sie doch alles tat, um ihm zu helfen. Deshalb gab er ihr so viel von seiner Kraft, wie er nur konnte, und die paar Blätter, die vertrockneten, die paar Äste die er verlor, was war das schon für ein Preis? Und welch Freude war es doch, zu sehen, wie die Schlingpflanze immer größer und kräftiger wurde, wie eng sie sich an ihn schmiegte. Und wie fürsorglich von ihr, seine Tränen zu trocknen, wenn er mal wieder an den Himmel, den Horizont und das Fliegen denken mußte.
Nur, um so schwächer er wurde, um so weniger Nährstoffe konnte er dem Boden entziehen. Und um so stärker die Schlingpflanze wurde, um so mehr Kraft entzog sie ihm. Sie ermahnte ihn, sich mehr auf das Kraft sammeln zu konzentrieren, und weniger zu träumen, Träume konnten sie nicht ernähren. Er solle endlich den Himmel vergessen, um Gottes willen, er war ein Baum, was fiel ihm ein, sich wie ein Vogel zu benehmen!
Er ertrug es eine Weile, still, vermied es zu weinen, vermied es, ihr von seinen Träumen zu erzählen. Was sollte er auch sagen, er war ja eine Pflanze, wie sie. Eine seltsame Pflanze, daß er vom Fliegen träumte. Er wollte ihr keinen Kummer machen, sie wollte ja nur sein bestes. Es war seine eigene Schuld, das er so viel träumte, das er immer schwächer wurde. Und wie konnte er es ihr verübeln, das sie seine Träume nicht verstand. Sie war ja auch nur eine Pflanze. Was wußten Pflanzen schon vom fliegen?
Eines Tages landete ein Vogel in den Ästen des Baumes. Er war so schwarz wie eine Neumondnacht, und kam dem Baum irgendwie bekannt vor.
Der schwarze Vogel saß eine Zeitlang schweigend in den Ästen. Er betrachtete die kränklichen Äste, die spärlichen Blätter, die riesige Schlingpflanze. Auch sie war schon an vielen Stellen gelb, denn sie konnte dem Baum nicht mehr genug Kraft entziehen. Einige Ranken hatten sich schon gelöst und langen am Boden, krochen ewig langsam aber stetig auf andere Bäume in der Nähe zu.
Er rieb seinen Schnabel ein wenig an der Rinde, die sofort anfing, abzubröckeln. Eine einzelne blaue Feder kam darunter zum Vorschein und wurde vom Wind davongetragen.
„Sowas“ sagte der schwarze Vogel, schüttelte den Kopf, wich einer Ranke aus, die ihn zu greifen versuchte, und flog davon.
Sowas, dachte sich auch der Baum, als der Feder nachsah. Er spürte, wie auch in ihm etwas aufbrach, herauswollte. Da war etwas, das er schon ganz vergessen hatte. Er wollte der Schlingpflanze davon erzählen, aber was nur, was war es? Er blickte ganz tief in sich hinein, und da war es, flatterte unruhig, pickte und kratze an seinem Stamm. Zuerst war es nur ein Pieken, dann ein stechender Schmerz. Er sah, wie krank die Schlingpflanze war, wie krank es selbst war. Er konnte ihr keinen Halt mehr geben, keine Kraft, und er haßte sich selbst dafür. Und nun noch dieser Schmerz, der immer ärger wurde, der ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen ließ. Wie sollte er sie da beide beschützen? Er versuchte, den Schmerz wegzusperren, aber es war zu spät. Etwas in ihm war erwacht, und es wollte raus. Er konnte es nicht einsperren und gleichzeitig sich und die Pflanze am Leben erhalten. Wut stieg in ihm auf, Wut auf die Schlingpflanze, auf sich selbst, auf den schwarzen Vogel, auf die Sonne und den Mond, den verdammten Horizont, den es wahrscheinlich gar nicht gab. Ihm war, als wolle die Wut ihn zerreißen, und die Schlingpflanze, sie schien nun nur noch schneller vor ihm zu flüchten. So ein undankbares Ding! Hatte er nicht alles für sie getan? Nur für sie? Sich für sie aufgeopfert, ihr seine Kraft gegeben! Er wollte sie nicht mehr. Er wollte frei sein!
Etwas in ihm zerbrach.
Ein Stück der Rinde barst regelrecht ab, und morsches Holz splitterte in alle Richtungen. Ein kleiner blauer und wirklich, wirklich wütender Vogel preßte sich durch den Stamm. Ein paar Ranken versuchten schnell, das Loch zu verschließen, aber er schnappte ärgerlich nach ihnen, verletzte ein paar, bis sich die anderen davonstahlen.
Endlich hatte sich der kleine Vogel befreit. Stand vor dem Baum, der von Krone bis Wurzel von einem dichten Rankenwerk eingewickelt war. Da verrauchte seine Wut und wich Verwunderung. „Das war ich?“ fragte der kleine Vogel laut, und doch niemand anderen als sich selbst.
„Geh nicht!“ flüsterte die Ranke. „Ich wollte uns doch nur ein Nest bauen, das größte Nest der Welt. Ein Nest für uns beide, nicht nur für mich. Ein Nest, so groß, das auch ein Baum darin Platz hat. Sei mir nicht böse. Vielleicht wollte ich zu viel. Aber komm zurück in den Stamm, ich bitte dich inständig. Wir werden eine Lösung finden. Ganz sicher.“
Doch der kleine Vogel schüttelte seinen Kopf. „Weißt du, mein Nest ist der Himmel. Es tut mir leid, das ich damals nicht mehr an dich geglaubt habe. Ich wollte dir Sicherheit geben und nahm uns die Flügel. Ich bin gern bei dir, aber ich muß fliegen. Das ist kein Nest, was du uns gebaut hast. Das ist ein Käfig. Ich würde dich gerne wieder sehen. Dort oben.“
Sprach es, und flog davon. Kreiste noch eine weile über dem Wald, sah zu, wie sich die Schlingpflanze um einen anderen Baum wickelte. Da war ein Stich in seinem Herzen, als wolle noch ein Vogel aus dem Vogel schlüpfen. Vielleicht ist es das, fragte sich der kleine Vogel. Vielleicht nehme ich sie so mit mir. Und flog von dannen.

© 2002 Stefan Brinkmann

 

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