Der kleine Marienkäfer

Irgendwo, weit entfernt von hier, in einer riesengroßen Wiese, lebte einst ein kleiner Käfer. Er war wirklich nicht besonders groß, eher winzig, doch durch seinen knallroten Panzer mit sieben kleinen Punkten war er sehr auffällig.
Der kleine Käfer hatte ein sehr leichtes Leben. Alles, was er brauchte, gab es in der Wiese im Überfluß. Alle anderen Insekten bewunderten ihn für sein rotes Gewand, und die Vögel, seine Todfeinde, wurden von der Farbe abgeschreckt. Trotzdem war der Käfer nicht zufrieden. Irgend etwas fehlte ihm. Er wußte es nicht zu benennen, nur, da war dieses Gefühl in ihm, daß es da noch mehr geben mußte.
Eines Tages, als er sich auf einem Blumenblatt sonnte, fiel ein großer Schatten auf ihn. Der kleine Käfer dachte sich nichts dabei. Da hatte wohl eine Wolke die Sonne verdeckt. Doch dann stupste ihn etwas kräftig von hinten an.
Erschrocken rannte der kleine Käfer los. Er war es nicht gewohnt, daß etwas seine Ruhe störte, höchstens einmal ein Blatt daß im Herbst auf ihn fiel...
Sein Lauf wurde von einem großen, weichen Berg gestoppt, der sich unvermittelt auf dem Blatt befand. Kurz zögerte der kleine Käfer, tastete das Hindernis mit seinen kleinen Fühlern ab. Doch schon schubste ihn das Etwas wieder von hinten an, und ohne weiter nachzudenken begann der kleine Käfer, den Berg hinaufzuklettern.
Der Berg selbst schien unter seinen Füßen immer steiler zu werden. Weiter und weiter krabbelte der kleine Käfer aufwärts, um wieder einen flachen Punkt zu finden, von dem aus er starten und wegfliegen konnte, doch immer, wenn er dachte, er hätte es geschafft, verkehrte sich oben nach unten, und der Aufstieg begann von neuem...

...Siehst du, wenn ich die Hand umdrehe, klettert er wieder nach oben.
Das kleine blonde Mädchen starrte gebannt auf den Finger des Jungen, an dem ein kleiner Marienkäfer versuchte, die Fingerspitze zu erreichen. Doch immer kurz bevor der Käfer oben ankam, drehte der Junge seine Hand nah unten, und der Käfer wechselte seine Richtung.
Blöder Käfer. urteilte das kleine Mädchen. Es war ein Jahr jünger als der Junge, und deshalb hielt sie ihn für allwissend. deshalb fragte sie ihn:
Wie alt ist der Magarinenkäfer?
Marienkäfer! Nun, zähle die Punkte auf seinem Rücken. Mein großer Bruder hat gesagt, jeder Punkt steht für ein Jahr.
Das kleine Mädchen nickte. Große Brüder waren eine sichere Informationsquelle. Laut begann sie zu zählen.
Eins...Zwei...Drei...Vier...Fünf...Sechs...Sieben. Sieben Jahre! Er ist genauso alt wie du!
Ärgerlich schloß der Junge seine Faust um den Käfer. Alter war sehr bedeutend, und er genoß die Bewunderung des Mädchens, auch, wenn sie manchmal sehr nervig sein konnte. Irgendwie schien es ihm nicht fair, daß der Käfer genauso viel Alter hatte wie er...

...Mit einem Mal wurde es dunkel um den kleinen Käfer. Die weichen Bergmassen drückten sich von allen Seiten gegen ihn. Das erste mal hatte der kleine Käfer Angst um sein Leben. Er zog die Beine ein und machte sich ganz klein...

...Was machst du da? fragte das kleine Mädchen entsetzt.
Der Junge wurde ein wenig rot. Ich...Ich will nur verhindern, daß er wegfliegt. antwortete er verlegen.
Mißtrauisch starrte das Mädchen auf die Faust.
Aber du erdrückst ihn ja! Du machst ihn kaputt! erwiderte sie quengelig.
Der Junge kannte diesen Tonfall. Das Mädchen konnte sehr nervig werten, wenn die diesen Ton anschlug. Widerwillig öffnete er die Faust.
Der Käfer saß in der Mitte der kleinen Hand. Seine Füße waren in seinem Panzer verschwunden, und einer der Flügelklappen hatte sich so verschoben, daß der feine durchsichtige Flügel hervorschaute. Er rührte sich nicht.
Ist er tot? fragte das Mädchen besorgt.
Nein...ich glaube nicht. gab der Junge zur Antwort. Aber so sicher war er sich da nicht. Sein schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort. Wenn ein Riese käme und ihn in seiner Hand zerquetschen würde... das wäre sicher nicht lustig.
Vorsichtig stupste er den Käfer an. Doch dieser rührte sich nicht von der Stelle.
Ich glaube; sagte das Mädchen, er hat Angst. Setze ihn wieder auf sein Blatt.
Folgsam bückte sich der Junge und schob den kleinen Käfer vorsichtig auf das Blumenblatt, wo er ihn gefunden hatte...

... der Käfer spürte, wie ihn etwas von den Weichberg schob. Dann fühlte er wieder das vertraute Blatt unter sich. Doch die Angst saß noch zu tief, und so blieb er mit eingezogenen Beinen und Fühlern liegen.
Erst nach langer Zeit wagte er es, vorsichtig mit seinen Fühlern die Umgebung abzutasten. Doch da war nichts als das Blatt. Versuchsweise krabbelte er ein wenig umher. Kein Weichberg versperrte seinen Weg. Die Gefahr war vorbei.
Mit einer nie gekannten Freude breitete er seine Flügel aus und erhob sich in die Luft. Nie zuvor war ihm die Sonne so angenehm warm vorgekommen, der Duft der Gräser so voll und weich, der Wind so verspielt und sanft. Zum ersten mal verstand der kleine Käfer, was es hieß, zu leben. Und jetzt endlich konnte er sich daran erfreuen.

...Ich hab dir doch gesagt, er lebt noch, meinte der Junge rechthaberisch, als der Käfer sich bewegte. Aber auch er war tief in seinem Herzen erleichtert.
Hand in Hand standen die beiden Kinder da und sahen dem kleinen Käfer zu, wie er sich die Flügel glattstrich, abhob und über die Wiese davonflog.
Du, fragte das blonde Mädchen, stimmt es, das Ma...rienkäfer Glück bringen?
Der Junge nickte bedeutend. Beide schwiegen eine Weile.
Und, fragte das Mädchen, wer bringt den Marienkäfern Glück?
Ich weiß es nicht, gestand ihr der Junge. Und dieses Eingeständnis kostete ihm nur ganz wenig Überwindung.

© Stefan Brinkmann, www.nachtpoet.de, stefan@nachtpoet.de

 

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