Gute Nacht Geschichte
„Es begab sich also, dass der König einen Gatten für seine Tochter und einen Nachfolger für seinen Thron suchte...“ „Warte mal... Sekunde. Du erzählst das völlig falsch.“ „Ich tue bitte was? Ich hab noch kaum angefangen!“ „Ja, aber ich bitte dich. Könige und Prinzessinnen und so, das ist doch offensichtlich ein Märchen. Und Du kannst ein Märchen nicht anfangen mit ‚Es begab sich also’.“ „Also gut, also gut. Wie wäre es damit? Es war einmal, vor langer, langer Zeit, in einem fernen und längst vergessenen Land, eine Prinzessin von unermesslicher Schönheit. Ihr Haar schimmerte wie Bronze, ihre Haut war so weiß und glatt wie Elfenbein, und ihre unergründlich tiefen blauen Augen...“ „Grün.“ „... schimmerten wie ein See im Vollmond... was?“ „Sie hatte grüne Augen.“ „Sag mal, erzähle ich die Geschichte oder du?“ „Blonde Prinzessinnen haben blaue Augen. Rothaarige haben grüne. Das weiß doch jedes Kind.“ „Ehrlich, wenn du mich dauernd unterbrichst, dann kann ich mir keine Gute-Nacht-Geschichte ausdenken für dich. Aber gut, dann eben Augen mit der seltenen Farbe von sattem, grünen Moos, auf dem kleine Tautropfen im Licht der Sonne golden aufblitzen. Zufrieden?“ „Erzähl schon weiter.“ „Nun gut. Diese wunderschöne Prinzessin also, sie hatte kaum ihren achtzehnten Winter gezählt, als ihr Vater, der König, ihre Hand feil bot. Er war schon alt und müde, seine Frau, die Königin, hatte die Geburt ihres einzigen Kindes nicht überlebt, und seine Tochter hatte diese entnervende Eigenschaft, ihn ständig zu unterbrechen und alles zu hinterfragen.“ „Sehr witzig.“ „Soll sich ein jüngerer Mann als ich mit ihr plagen, dachte er sich, und auch gleich mit dem Regieren und all dem. Denn der zukünftige Gatte der Prinzessin würde automatisch auch Regent des Reiches. Einen eigenen Sohn hatte der König ja nicht, und eine Frau, die alleine regiert, das war damals noch undenkbar. Aber der König war auch ein weiser und guter Vater. Er wollte nicht nur irgendeinen Mann für seine Prinzessin. Er wollte den besten. Gut sollte er aussehen, stark und gesund sein, aber auch klug, gebildet, talentiert und bewandert in den schönen Künsten ebenso wie in der Kunst des Krieges. Sein Stand war dem König nicht so wichtig, aber er musste sich zu benehmen wissen, den Kopf hoch tragen und durch sein Auftreten zu überzeugen verstehen. Um nun einen solchen Mann zu finden, ließ er einen landesweiten Wettbewerb abhalten, in dem jeder, der sich berufen fühlte, seine Qualitäten unter beweis stellen musste.“ „Und die Prinzessin? Wurde sie denn gar nicht gefragt? Ist doch mal wieder typisch. Der Vater denkt, er weiß, was für sein Kind am besten ist, und am Ende schleppt er ihr irgend so einen Idioten an, den sie dann heiraten muss, ob sie ihn nun liebt oder nicht...“ „Ehm... nicht ganz. Der König wusste nur zu genau, dass seine Tochter nie einen Mann heiraten würde, von dem sie nicht voll und ganz überzeugt war. Eher würde sie ihm das ganze Königreich links und rechts um die Ohren hauen. So war sie, klug, selbstsicher, eigenwillig und temperamentvoll. Eine gefährliche Mischung.“ „Ich mag sie.“ „Das kann ich mir denken. Na, jedenfalls suchte der König nicht nur einen, sondern drei Kandidaten aus den Bewerbern aus. Allzu groß war die Auswahl eh nicht mehr, nach all den harten Prüfungen. Fechten und Reiten, Boxen und Schreiten, Musizieren und Rezitieren, Gewichte stemmen, um die Wette rennen, na ja, all diese Dinge, und noch vieles mehr. Der König überwachte all diese Wettkämpfe und beobachtete jeden der jungen Männer ganz genau. Ihm kam es nicht in erster Linie darauf an, wie erfolgreich sie waren in den verschiedenen Disziplinen. Er achtete vielmehr darauf, wer von ihnen sich entmutigen ließ oder zu selbstsicher war, wer Fehler zu vertuschen oder zu betrügen versuchte, wer seine Mitbewerber unterstützte oder ihnen Steine in den Weg warf. Kurzum, wer wohl am ehesten in der Lage wäre, sowohl das Reich als auch seine Tochter zu beherrschen. Die drei Kandidaten, welche er für würdig erachtete, nahm er mit auf sein Schloss. Die Schneider passten ihnen die teuersten Kleider an, die Dienerinnen wuschen und parfümierten sie. Bald sah jeder von ihnen wie ein Prinz aus, und so gestaltet brachte der König sie in den großen Speisesaal. Dort saßen sie an dem ewig langen Tisch, auf dem nach und nach die erlesensten Speisen aufgetragen wurden, und warteten, ungewiss, was nun folgen sollte. Dies musste eine letzte Prüfung sein, soviel war ihnen klar, aber von welcher Natur war dieser Test? Keiner von ihnen wagte zu sprechen, oder sie hatten sich einfach nichts zu sagen, jedenfalls warteten sie schweigend. Als der letzte goldene Teller auf dem Tisch platziert war und der Raum schon verführerisch nach gebratenem Fleisch und süßen Früchten duftete, öffnete sich die große Flügeltür, und die Prinzessin betrat den Saal. In dem weiten, weißen Kleid sah sie aus wie ein Fleisch gewordener Engel. Der seidene Stoff umspielte ihren jungen Körper wie Wasser. Es hatte fast den Anschein, als gleite sie schwerelos zu ihrem Platz am anderen Ende der Tafel. Den drei Männern stockte der Atem. Sie alle hatten von den Schönheit der Prinzessin gehört, aber was sie nun mit eigenen Augen sahen, übertraf mit Leichtigkeit ihre kühnsten Träume. Dieses zauberhafte Wesen ließ sich auf ihren Platz senken, und es klang wie ein Seufzen. Ihre strahlend grünen Augen wanderten von einem zum anderen, ruhten ohne Hast auf den Händen, den feinen Linien um die Augen, den Augen selbst. Dann lächelte sie, nur kurz und fast zaghaft, aber es war, als würde die Sonne aufgehen. ‚Einer von Euch’, sagte sie, ‚soll mein Ehemann werden. Heute Abend will ich entscheiden, wer. Aber lasst uns zunächst etwas zu uns nehmen, denn auf leeren Magen sollte man keine Entscheidungen treffen.’ Und so aßen sie, das beste Mahl, von dem die jungen Männer jemals kosten durften. Allein, es fehlte ihnen wohl etwas an Appetit, die Prinzessin und die Bedeutung dieses Abends machte sie sichtlich nervös. Nur einer von ihnen ließ sich nicht beirren, lud sich seinen Teller bedenklich voll und aß ohne Hast alles bis auf den letzten Krümel auf...“ „Du schindest Zeit.“ „Was denn jetzt schon wieder?“ „Du schindest Zeit. Du weißt nicht, wie es weiter geht, nicht wahr? Das Essen ist doch nichts weiter als ein lang gedehntes ‚Äääähmmmmm’.“ „Du bist frech. Langweile ich dich? Ich kann aufhören, und du schlafen, wenn du magst.“ „Nein! Nein, schon gut. Erzähl weiter. Was ist das für ein letzter Test?“ „Der letzte Test also. Nach dem Mahl ruhten wieder alle Augen auf der Prinzessin, manche verstohlener als andere, aber nicht weniger Offensichtlich. Der entscheidende Moment war gekommen. Die Prinzessin erhob sich, sah dem ersten der jungen Männer fest in die Augen. Dunkle, fast schwarze Augen, in einem herben, aber nicht unattraktiven Gesicht. Der Blick, welcher ihr begegnete, war fest und klar, ein wenig neugierig. Er war Soldat in der Armee ihres Vaters, so viel wusste sie, ein mutiger und bedachter Mann, groß und stark. Ruhig sondierte er die Lage, versuchte abzuschätzen, was ihn erwartete. „Was würdest Du für mich tun?“ fragte sie ihn, ohne den Blick von seinen Augen zu nehmen. Die Stille, welche nun folgte, hätte man mit einem stumpfen Messer schneiden können. Für einen kurzen Moment senkte der Soldat den Blick, nur um ihn sofort wieder zu heben. Nun war er es, der sie anschaute, und er sagte: „Ich würde für euch geben, was mehr Wert hat als alle Schätze dieser Erde. Ich würde für euch tun, was nur ein Liebender zu tun vermag, für jene, der sein Herz gehört, auf Gedeih und Verderben. Es wäre für mich die größte Ehre und der heiligste Dienst, und ich würde es mit Freuden tun, ohne zu fragen und ohne zu zögern. Ich würde für euch sterben.’ Die Worte hingen schwer in der Luft. Für einen ewigen Moment hielten die beiden einander mit ihren Blicken fest, dann löste sich die Prinzessin und wandte sich dem Zweiten zu. Ihr Gesicht war wie eine Maske, verriet nichts, ließ nichts nach außen. Nur in ihren Augen, die sich nun auf zwei tiefblaue legten, war ein funkeln wie von Goldstaub. Der zweite Kandidat lächelte sie an. Sein Blick sprang von einem ihrer Augen zum anderen, als könne er sich nicht entscheiden, welches schöner war. Zugleich war der Prinzessin, als schaue er tiefer, oder weiter, oder in ganz andere Welten. Es waren die Augen eines Träumers, der keine Grenzen kennt. Ein Architekt, so sagte man ihr, dessen Traum es war, die größte und schönste Kathedrale aller Zeiten zu erbauen. Auch an ihn stellte sie nun ihre Frage. ‚Und du? Was würdest du für mich tun?’ Der junge Baumeister antwortete, ohne zu zögern. ‚Für euch zu sterben, das wäre zu einfach. Ich würde für euch leben! All mein Schaffen, all mein Tun, wäre nur euch gewidmet. Euch zu ehren würde ich Schönheit kreieren, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, um ihr auch nur einen Funken von dem zu zeigen, was ich in euch erkenne. Jede Minute wäre für euch gelebt, jeder Gedanke für euch gedacht. Euch zu entsprechen, euch gerecht zu werden, das wäre mein Lebenswerk.’ Die Prinzessin nickte ihm kaum merklich zu, und kurz schien es, als würde sie lächeln, aber da wanderte ihr Blick schon zum dritten und letzten Bewerber, suchte seine Augen... und fand sie nicht. Der junge Mann, kaum älter als sie, war voll und ganz damit beschäftigt, aus einer der Servietten, gefertigt aus feinsten Stoff und für einen einfachen wie ihn sicherlich ein Vermögen wert, irgend etwas zu formen. Er drehte sie zwischen seinen Fingern, zog hier ein wenig, stülpte dort etwas um. So vertieft war er in sein Tun, dass er den Blick der Prinzessin gar nicht zu bemerken schien. Ein Poet, rief sie sich in Erinnerung, wenn auch kein allzu erfolgreicher.“ „Das bist doch du! Du hast dich in meine Gute Nacht Geschichte gesetzt!“ „Wir Poeten stecken immer in unseren Geschichten. Jeder, der das Gegenteil behauptet, lügt. Stört es dich?“ „Nein... eigentlich nicht. Na gut, du Poet, was also hast du der Prinzessin gesagt?“ „Nun, die Prinzessin räusperte sich leicht, aber auch das brachte den jungen Poeten nicht aus der Ruhe. Mit Engelsgeduld drehte und zupfte er weiter an seiner Serviette herum. ‚Und ihr?’ fragte sie, und ihre Stimme zitterte leicht. ‚Was würdet ihr für mich tun?’ ‚Ich?’ Der junge Mann blickte kurz auf. Olivgrüne Augen blitzen sie kurz an, bevor sie sich wieder seinem halbfertigen Kunstwerk widmeten. ‚Was kann ich schon für dich tun, im Vergleich zu den beiden? Ganz ehrlich, für dich sterben finde ich ziemlich witzlos. Was hättest du schon davon? Nichts, außer, dass du mich verlierst. Und der nutzen für mich selbst ist auch äußerst fraglich. Nein, für dich sterben macht keinen Sinn. Und für dich leben? Wer hat denn schon das recht, für dich zu leben, außer du selbst? Wenn ich mein Leben dir widme, gewinnst du nichts, was du nicht schon hast. Ich meine, was bringt es Dir, wenn ich mein Leben dem Deinen angleiche? Ich will dich gerne um mein Leben bereichern, und meine Welt um die Deine erweitern, aber mein Leben, dass kann ich nur für mich Leben, für keinen sonst. Außerdem ist das, mit Verlaub, eine dämliche Frage. Denn was immer ich für dich tue, nimmt dir die Chance, es selbst zu tun. Nein, damit kann ich nicht dienen.’ Die Prinzessin sieht ihn nachdenklich an. „Und es gibt gar nichts, nicht das geringste, was du für mich tun würdest?“ fragt sie noch einmal, fast flüstert sie dabei. Seine Hände, immer noch beschäftigt mit der Serviette aus feinstem Stoff, schienen ihr Kunstwerk vollendet zu haben. Sie legten eine perfekt geformte Rose zwischen sich und die Prinzessin, streiften dann wie beiläufig eine widerspenstige Strähne aus seinem Gesicht. Dann trafen seine grünen Augen die ihren, hüllten sie ein und erfassten sie ganz, gleich einem bodenlosen See. ‚Doch. Eines. Wenn der Tag dir zu lang wird, wenn die Menschen dich mit ihrem Schwall an Worten und gut gemeinten Ratschlägen, ihren immer gleichen Fragen und unbedachten Antworten überhäufen und verfolgen, wenn du genug hast von der Welt und ihrem Lärm und ihren Wünschen, wenn du dann zu mir kommst, und nur zu mir...’ Er machte eine kurze Pause, legte sein Kinn auf seine wie zum Gebet gefalteten Hände und schaute die Prinzessin so durchdringend an, als könne er sie lesen wie ein aufgeschlagenes Buch. ‚...dann, Prinzessin, werde ich für dich schweigen.’“
„Ja. Das passt zu dir. Und weiter?“ „Wie, weiter?“ „Naja, was passierte dann? Wen hat sie genommen?“ „Den Schönsten natürlich. Wie Prinzessinnen so sind.“ „Unsinn.“ „Hast recht. Sie hat den genommen, der beim Essen als einziger richtig zugelangt hat.“ „Moment. Welcher war das?“ „Hab ich das nicht gesagt? Muss ich wohl vergessen haben. Oder hat mich da etwas unterbrochen?“ „Du bist gemein.“ „Ja, bin ich. Und mit diebischer Freude. Schlaf gut, meine Prinzessin.“ „Ich hätte den Soldaten genommen.“ „Natürlich hättest du das.“ „Schlaf gut, mein Poet. Danke für die Geschichte. „Hmh.“ „...und danke, für die Rose.“
© 2004 Stefan Brinkmann
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