Mondkind und Seemädchen

Einst herrschte ein großer und gütiger König über ein fernes Land. Er war beliebt unter seinem Volk, und die Schönheit seiner Gemahlin war ebenso bekannt wie seine gerechte Hand, mit der er das Land führte. So war die Freude groß im Land, als dem Königspaar ein Kind geboren wurde. Die Wehen der Königin begannen in der Nacht des siebten Vollmonds, und es wurde auf der Schwelle zwischen gestern und Morgen geboren. S wurde es bald nur noch Mondkind gerufen, auch wenn der Name, den seine Eltern ihm gaben, ein ganz anderer war.
Schon in frühen Jahren konnte ein jeder sehen, daß der junge Prinz seine Eltern in Schönheit und Galanz noch weit übertreffen würde. Er hatte die feine Schönheit seiner Mutter und die gütigen Augen seines Vaters, dazu eine samtweiche Haut und ein Lächeln, das die Sonne aufgehen ließ. Jeder im Palast mochte das Kind, und obwohl es von allen Seiten verwöhnt wurde, war seine Art doch immer hilfsbereit und zuvorkommend. Seltsam war nur, daß er keinen Anschluß zu den Kindern der Diener und Hofleute fand. Er saß lieber alleine in seinem Zimmer und beobachtete den großen See, der sich nahe dem Palast erstreckte. Besonders in klaren Vollmondnächten konnte er seinen Blick nicht von der Abbild des Mondes im spiegelglatten Wasser losreißen.
Auch war da etwas befremdliches in seinem Augen, ganz so, als sehe er manchmal Dinge, die anderen verborgen blieben. Freilich hatten viele der Kinder ihre eigenen Phantasiegestalten, mit denen sie spielten und redeten, aber der kleine Prinz sprach nie über die Dinge, die nur er bemerkte, sondern behielt sie für sich, und wenn jemand ihn fragte, warum er so seltsam reagiere, so Antwortete er nur mit einem Achselzucken.
So wurde aus dem kleinen Prinz ein stattlicher junger Mann, und der Name Mondkind geriet immer mehr in Vergessenheit, wurde von Bezeichnungen wie Euer Majestät oder Euer Hochwohlgeboren verdrängt. Seine Schönheit war noch gewachsen, sein pechschwarz-glänzendes Haar und seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen gaben seinem Aussehen etwas geheimnisvolles. Doch sein warmes und gütiges Lächeln, daß er seit seiner Kindheit nie verloren hatte, wirkte dem entgegen. Die jungen Frauen am Hof konnten kaum ein Auge von ihm lassen, auch wenn jede von ihnen wußte, daß der Prinz unerreichbar für sie war. Auch zeigte er an keiner von ihnen Interesse, obwohl viele schön und wohlgeformt waren. Er zog es vor, in seinem See zu schwimmen oder an dessen Rand Gedichte zu schreiben.
Dem König entging dies alles nicht. Er war alt geworden und spürte seine Lebenskraft weichen. So beschloß er, ein Mädchen für seinen Sohn zu finden. Er organisierte einen großen Ball, auf den er alle heiratsfähigen jungen und adeligen Frauen einlud. Der Prinz selbst schien nicht begeistert von diesem Vorschlag, fügte sich jedoch dem Wunsch seines Vaters und versprach, sich nach einer Prinzessin umzusehen.
Der Tag des Balls rückte näher, er sollte am einundzwanzigsten Geburtstag des Königssohns sein. Der Prinz verbrachte in dieser Zeit noch mehr Zeit an seinem See, blieb oft bis spät in der Nacht an dessen Rand sitzen und blickte hinaus auf das Wasser, ganz so, als warte er auf etwas.
Doch anscheinend wurden seine Erwartungen nicht erfüllt. Als der Tag seiner Geburt gekommen war, wirkte er müde und niedergeschlagen, ganz so, als hätte er eine alte Hoffnung endgültig aufgegeben.
Es war, wie der Zufall es so wollte, wieder eine Vollmondnacht, und das Fest war in der Tat prächtig anzusehen. Der Ballsaal war mit den feinsten Gold und Silber geschmückt, und die Damen, die um die Gunst des Prinzen werben wollten, standen dem nichts nach. Köstliche Speisen aus fernen Ländern wurden serviert, und der Wein floß in Strömen. Alles schien guter Stimmung, nur der Prinz, der sonst einem prunkvollen Fest nicht abgeneigt war, schien an all dem Trubel keinen Gefallen zu finden. Traurig saß der in einer Ecke, nur mit einem Glas Wein als Gesellschaft. Die Damen, die zahlreich kamen, um ihn zum Tanz aufzufordern, wies er der Reihe nach ab. Niedergeschlagen blickte er auf den leeren Grund seines silbernen Weinbechers, als er ein weiteres Mädchen vor sich stehen spürte. Eine helle Stimme, wie das Plätschern einer klaren Quelle, drang an sein Ohr
Mondkind.
Erschrocken blickte er auf. Diesen Namen hatte er schon so lange nicht mehr vernommen. Doch noch mehr erstaunte ihn die Gestalt, die da vor ihm stand. Es war eine junge Frau in seinem Alter, groß und schlank, und doch so zart und weich in ihren Zügen daß sie fast zierlich wirkte. Ihre Haut hatte die Farbe von feinstem Porzellan, und ihre Augen waren von tiefem Blau. Ihr grünes Gewand war so fein, daß es fast durchsichtig schien, und jeder Lufthauch ließ es um ihren Körper tanzen.

Doch es war nicht diese übernatürliche Schönheit der Fremden, die den Prinzen bis auf den Grund seiner Seele berührte.
Ich...ich kenne dich, flüsterte er atemlos. Du bist das Mädchen aus dem See. So oft habe ich dich in meinen Träumen gesehen, wie du am Rande des Wassers standest und mir zuwinktest. Und nie habe ich dich dort getroffen. Wie kann es...
Das Seemädchen legte ihm sanft ihren Finger auf die Lippen.
Sag jetzt nichts. Ja, ich bin das Mädchen aus deinen Träumen. Ich habe deine Geburt im Mond gesehen, und ich spüre deine Liebe schon so lange. Doch wir sind aus zwei sich fremden Welten. Unsere Gefühle sind zum Scheitern verurteilt. Nur die Kaft des siebten Mondes erlaubt es mir, diese Welt zu betreten, und nur die Magie deines drei mal siebten Geburtstages macht es möglich, daß ich jetzt bei Dir bin. So will ich dich bitten, um deinet- und um meinetwegen, mich zu vergessen. Es sind viele schöne Frauen auf diesem Fest, und jede hat nur den Wunsch, an deiner Seite zu leben. Wähle eine von ihnen und werde glücklich mit ihr, denn ich kann dir nur Traurigkeit und Schmerz geben.
Tränen stiegen dem Prinzen in die Augen, und er ergriff ihre Hand. Nein. Das kann ich nie und nimmer. Mein Herz gehört dir, und selbst wenn du die Wahrheit sprichst, so könnte doch keine dieser Frauen je verstehen, war in mir ist. Du kannst es, vermagst in mich sehen, mich wirklich zu erkennen...
Seine Stimme versagte, und er ließ den Kopf hängen. Doch dann straffte sich sein Körper, und in seinen Augen schimmerte ein neuer Funken Hoffnung.
Wenn es denn wirklich so ist, dann bleibt uns diese eine Nacht. Bleib bei mir, nur diese wenigen Stunden.
In dem Gesicht des Seemädchens spiegelte sich ihre Verzweiflung und der innere Kampf wieder, den sie mit sich austrug, bis sie endlich ihre zweite Hand auf die des Prinzen legte und antwortete.
So soll es sein. Diese Nacht, wider jeder besseren Vernunft. Eine Nacht, in der du mir all deine Liebe geben sollst. Ich will sie mit mir nehmen und behüten wie einen kostbaren Schatz und dir zum Dank meine Liebe lassen. Komm, laß uns gehen. Die Nacht ist viel zu kurz.
Keiner bemerkte, wie das junge Paar den Ballsaal verließ. Als der König nach seinem Sohn suchen ließ, um ihn zu fragen, ob eines der Mädchen ihm gefallen hätte, konnte ihn niemand finden, obwohl sie Wachen den ganzen Palast durchstöberten. Auch fehlte keiner der geladenen Gäste. Als der Morgen graute, das Fest war längst schon beendet und die Gäste nach hause geschickt, sendete der König einen kleinen Suchtrupp zum See, denn er wußte, das der Prinz sich oft dorthin zurückzog, wenn er sich einsam fühlte. Und wahrhaftig, am Ufer fanden die Soldaten den Prinzen, nackt und unterkühlt, als wäre er zu lang im kalten Wasser geschwommen. in seiner linken Hand hielt er eine kleine Kristallkugel fest umklammert. Sie brachten ihn zurück in den Palast.

Bis auf eine Erkältung erinnerte bald nichts mehr an dieses seltsame Fest, außer vielleicht, daß der Prinz nun noch schweigsamer war und mit keinem über die Ereignisse dieser Nacht sprechen wollte. Nie ließ er die Kristallkugel aus seiner Hand, und jeden Abend stand er nun am Rande des Sees und blickte auf das Wasser, egal, ob es regnete oder stürmte. So verging ein Jahr, in dem der junge Prinz sich immer weiter in sich selbst zurückzog. Es war, als hätte er einen Teil von sich verloren in dieser Vollmondnacht. Und es sollte wieder eine Nacht des siebten ollen Mondes sein, an dem er sein Schicksal entschied.
Es war die Nacht vor seinem Geburtstag, und schwere Wolken hingen am Himmel. Wie immer stand der junge Königssohn am Seeufer, regungslos, ohne auf das drohende Unwetter zu achten. Wieder hatte der König ein großes Fest arrangiert, auch wenn seine Hoffnungen, sein Sohn würde sich diesmal verlieben, verschwindend gering waren. Doch wollte er zumindest nicht, daß der Prinz an seinem Geburtstag todkrank im Bett lag, und so schickte er zwei Wachen aus, die ihn ins Schloß zurück holen sollten.
Kurz darauf brach das Unwetter los, mit Regen, Blitz und Donner und allem war dazugehörte. Die ausgesandten Wachen ließen lange auf sich warten, und der König wurde langsam unruhig. Als er gerade beschlossen hatte, weitere Männer loszuschicken, um nach dem rechten zu sehen, stürmten die beiden Soldaten in den Thronsaal, leichenblaß und bis auf die Haut durchweicht. Stammelnd machte sie ihren Bericht:
Wir kamen am See an und sahen den König, wie er sich gerade seiner Kleider entledigte. Als wir ihn riefen, reagierte er nicht, erst als wir nur noch wenige Schritt von ihm entfernt waren, drehte er sich unvermittelt um. Etwas in seinem Blick brachte uns dazu, stehen zu bleiben. ‚Sagt meinem Vater, daß ich meine Prinzessin gefunden habe. Ich gehe sie nun holen, rief er uns entgegen, dann stürzte er sich in den See tauchte unter. So schnell wir konnten, entledigten wir uns unserer schweren Rüstungen, doch da schlug ein Blitz mitten in den See ein. Sofort warfen wir uns in das Wasser und tauchten nach unserem Herren oder, ich wagten es kaum auszusprechen, nach seiner Leiche. Doch beides war nicht zu finden.
Nur dies, meinte der andere der beiden, haben wir am Ufer nahe seiner Kleider gefunden, und streckte seine Hand aus.
In ihr lagen zwei kristallene Kugeln. Beide waren innen hohl und aufgesprungen, als ob etwas aus ihnen geschlüpft wäre.

© Stefan Brinkmann, www.nachtpoet.de, stefan@nachtpoet.de

 

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