Nacht der tausend Augen

Sie sind tiefschwarz und kugelrund. Aus Plastik wahrscheinlich, aber vielleicht auch aus dem gleichen Stoff, aus dem die Träume sind, denn da ist ein Licht in ihnen, tief drin, tiefer als der Menschliche Blick reicht, aber nicht so tief, daß es unsichtbar wäre.
Man sieht nur mit dem Herzen Gut. Das wesentliche bleibt für die Augen unsichtbar
Die Stelle hatte sie mir unterstrichen, im kleinen Prinzen. Sie hatte wohl recht. Sie hatte immer recht. Nun bleibt mir nur dieses schwarzäugige Plüschwesen. Seltsam, es verändert sich doch nie, und dennoch liegt immer etwas anderes in seinem Blick. Jetzt gerade schaut er mich fragend an, obwohl, diese Augen sehen tiefer als jede Frage gehen kann. Er weiß es eigentlich schon, aber, vielleicht will er, daß ich mich frage. Doch ich will nicht. Ich will mich nicht fragen. Ich will nicht.
Deshalb drehe ich ihn um, mit dem Gesicht zur Ecke des Bettes. Ein kläglicher Versuch, denn die Frage steht schon im Raum. Sie umschwirrt mich wie eine lästige Mücke, läßt mir keine Ruhe.
Ich werfe mich aufs Bett, vergrabe mein Gesicht im Kissen, und weine lautlos. Irgendwann schlafe ich ein. Meine Mutter hat immer gesagt, wer mit Tränen einschläft, hat schlechte Träume. Egal. Schlechte Träume sind besser als eine schlechte Realität.

Als ich aufwache, ist er weg. Es ist das erste, was ich wahrnehme, nachdem ich aus dem Schattenreich der Träume auftauche. Ich durchsuche das ganze Zimmer, obwohl ich mir sicher bin, daß ich ihn in die Ecke auf meinem Bett gelegt habe. Aber er ist und bleibt verschwunden. Sinnlos durchforste ich immer wieder die gleichen Stellen, finde einen alten Bergkristall, den ich schon seit Jahren suche, einen längst vergessenen Brief, der nie abgeschickt wurde, eine kleine Stoffmaus mit nur einem Ohr, nur er bleibt verschwunden. Er war alles, was mir von ihr geblieben ist. Sie konnte Dinge beseelen. Sie konnte mich beseelen.
Ich will die Tür aufreißen, aber sie ist verschlossen. Natürlich, ich selbst habe den Schlüssel im Schloß gedreht, abgeschlossen, mich eingesperrt. Mich friert. Meine Beine geben nach, ich plumpse auf mein Bett, starre sinnlos in mein leeres Zimmer.
Das Fenster steht offen.
Ich bin mir sicher, daß es vorhin noch zu war, um die Mücken aus meiner Welt fernzuhalten. Nun ist es offen. Wie betrunken torkle ich auf den Riß in meiner Welt zu. Draußen ist nur Dunkelheit. Und er. Er muß dort draußen sein, muß durch das Fenster entkommen sein. Ich selbst passe nicht hindurch, kann ihm nicht folgen. Aber er ist dort draußen, das weiß ich. Seltsam, es beruhigt mich, daß er nicht verloren ist. Nur ein wenig weiter weg. Vielleicht ist es ja doch nicht so dunkel. Das sind nur Wolken, welche die Sterne verdecken, sage ich mir. Und lege mich wieder in mein Bett. Mit einem Lächeln schlafe ich ein. Oder weiter, denn, wer weiß, vielleicht war ich nie wach.

Dunkle Augen ruhen auf dem blonden Jungen. Eine pelzige Pfote streicht durch sein Haar, streicht die Träume aus dem lebendigen Geflecht. Da scheint ein Licht in den Augen aus geschmolzener Dunkelheit. Er freut sich. Der Körper des Junge wird nun nicht mehr vom Schluchzen durchgerüttelt. Er ist zur Ruhe gekommen. Die Tränen trocknen, die Antworten sind gefunden. Nicht alle, aber die wichtigsten. Noch einmal fährt die flauschige Hand durch sein Haar, über sein Gesicht, wischt eine letzte Träne weg, dann wendet sie sich ab, öffnet das Fenster und fliegt davon in die Nacht der tausend Augen.

© Stefan Brinkmann, www.nachtpoet.de, stefan@nachtpoet.de

 

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