Sternenkind

Dieses Märchen soll nicht mit den Worten Es war einmal beginnen, denn es ist und es wird immer sein, auf die eine oder andere Art und Weise. Natürlich bleibt es ein Märchen, aber es lebt in unseren Träumen.
Dies ist die Geschichte des Jungen mit den strahlenden Augen. Er lebte in einem kleinen Dorf, in dem er bekannt war als Sternenkind, denn seine blauen Augen strahlten wie zwei kleine Sterne, und er hatte die Angewohnheit, jeden Abend an den kleinen Teich nahe dem Dorf zu sitzen und die Sterne zu beobachten. Er war ein stiller Junge und ein guter Zuhörer, viele gingen zu ihm und erzählten ihm von ihren Sorgen, Ängsten und Nöten. So war er bekannt und beliebt im ganzen Dorf, doch nur wenige wußten auch nur das geringste über das, was in ihm vorging.
Nun mag man denken, ein Junge mit solchen Augen wie das Sternenkind habe viele Verehrerinnen, doch dem war nicht so. Freilich liebten die Mädchen des Dorfes die tiefen, blauen Augen, in denen sie versinken konnten wie in einem tiefen See, und oft sah man ihn am Teich sitzen mit einem hübschen Mädchen an seiner Seite. Doch die schweigsame, distanzierte Art des Jungen verunsicherte die Mädchen, und bald schon wußten sie nicht, was mit ihm anzufangen war.
Des Abends, wenn er an seinem Teich saß und zu den Sternen blickte, durfte keiner ihn stören. Sprach ihn doch einer an, so reagierte er in keinster Weise. In dem Dorf ging die Geschichte um, ein halbstarker Bauernsohn aus einem nahen Dorf habe ihn des Nachts nach dem Weg gefragt. Als der Sternenjunge nicht antworten wollte, sein der Bauer so wütend geworden, daß er den Jungen gepackt und ins Wasser geschmissen habe. Daraufhin sei der seltsame Junge still aus dem Teich gestiegen und habe sich, ohne den Bauern auch nur eines Blickes zu würdigen, wieder auf seinen Stein gesetzt und zu den Sternen geblickt, triefend naß und als ob nichts geschehen wäre.
Wie es üblich ist in einem solchen Dorf, gingen unter den Leuten Gerüchte um, die dieses absonderliche Verhalten erklären sollten. Der Junge sei in der Tat ein Kind der Sterne und spreche mit seinen Eltern, so hieß es, und war ist, daß der Junge ein Findelkind war, das sich eines Frühlings vor der Tür seiner Zieheltern fand. Er sei ein gefallender Engel und bäte Gott um Gnade, sagten die anderen, und war ist, daß der
Junge keine Kirche betrat mit der Begründung: Wie kann ich beten, ohne den Himmel zu sehen? Keine dieser Geschichten ist war, so wenig wie die vielen anderen, die erzählt wurden. Die Wahrheit war so simpel wie unerratbar.
Das Sternenkind hatte sein Herz an einen Stern verloren.
Es war kein besonders heller Stern, noch ein sonderlich großer. Er lag in einer Gruppe von kleinen Sternen, die alle viel heller leuchteten als er. Aber dieser Stern übte einen Zauber auf den Jungen aus wie keines der Mädchen aus dem Dorf. Wann immer er den Stern erblickte, setzte er sich nieder und sprach mit ihm, schickte ihm seine Gedanken und war sich sicher, daß sie seinen Stern erreichten. Manchmal glaubte er, Antwort zu bekommen, und am nächsten Tag war sein Gang dann so leicht als würde er fliegen, und seine Augen strahlten noch heller als sonst.
Das Sternenkind war glücklich in dieser Zeit, auf seine ganz eigene Weise. Selbst die unerreichbare Ferne seines Sterns erfüllte ihn mit einer süßen Schwere. Hätte ihm einer auf die Sinnlosigkeit der Situation hingewiesen, so hätte er ihn mit großen Augen angesehen und gefragt: Wieso? Heißt es nicht, Liebe kennt keine Grenzen? Eines Tages werde ich mit meinem Stern vereint sein, das weiß ich sicher. Doch niemand wußte von dieser seltsamen Liebe, und so wurde die Frage nie gestellt.
Vielleicht wäre diese liebe wirklich ewig gewesen, wenn nicht eines Tages eine neue Familie in das Dorf gezogen wäre. Dies war an sich nichts ungewöhnliches, denn Arbeitskräfte wurden immer benötigt, und der Vater war ein angesehener Schmied. Nun hatte er jedoch eine Tochter, deren Schönheit ebenso bekannt war wie das Geschick des Schmiedes. Ihr Haar und ihre Augen waren rotbraun wie das Fell eines Fuchses, ihre Haut weich wie Samt, ihre Hände schmal und zart. Viele junge Männer hatten um ihre Gunst geworben, doch keiner konnte in ihren Augen lange bestehen. Nun war sie noch nie zuvor einem Menschen wie dem Sternenjungen begegnet, und ihr Herz war vom ersten Moment an verloren. Jede freie Minute saß sie bei ihm, sprach zu ihm oder sah ihm schweigend in die Augen. Die seltsame Distanz, die den Jungen wie eine Aura umgab, machte ihr keine Angst. Sie spürte sie wohl, aber sie wollte sie überwinden und war überzeugt, daß es ihr gelingen würde.
Und wahrhaftig, als der Herbst ins Land ging, sah man den Sternenjungen mit dem Mädchen zusammen am Teich sitzen, in vertauschten Rollen. Sie hörte ihm zu, während er zu ihr sprach, über all die tausend Geheimnisse der Natur und der Welt, die er gesehen hatte in seinen einsamen Stunden, über die tausend Geheimnisse im Menschen, die er erfahren hatte, wann immer er schweigend gelauscht hatte. Das Mädchen nahm alles in sich auf und blieb offen für den Sternenjungen. Wahr ist, daß manches von dem erzählten ihr Herz erschreckte, denn der Junge wußte auch von den verborgenen, dunklen Seiten der Menschen zu berichten, den Abgründen der menschlichen Seele. Deshalb, so sagte er eines Abends, als es dunkel wurde und sie wieder am Teich saßen, liebe ich diesen Stern so. Er ist nur Licht, und deutete auf seinen Stern, der eben erst am Himmelszelt erschienen war.
Nie zuvor hatte er das Mädchen so lange bei sich geduldet, und die Tochter des Schmieds erkannte den Stern sofort, so wie eine betrogene Frau ihre Rivalin erkennt. Sanft legte sie ihren Kopf auf des Sternenjungen Schulter. Erzähl mir von diesem Stern. bat sie ihn, und der Junge begann zu erzählen, erst zögerlich, doch dann immer schneller und flüssiger. Und um so mehr er von dieser geheimen Liebe preis gab, um so realer wurde die Entfernung zwischen ihm und dem Stern, und um so bewußter wurde er sich der Nähe des Mädchens an seiner Seite. Als er geendet hatte, blickte sie ihm tief in die Augen und fragte: Ein schöner Stern, aber ist er nicht viel zu weit entfernt? Wie willst Du ihn je erreichen?
Der Junge wollte antworten, wollte sagen, Liebe kenne keine Grenzen. Statt dessen küßte er das Mädchen, lange und zärtlich, und der Stern war vergessen.
Hätte in diesem Moment zum Himmel geblickt, so hätte er seinen Stern fallen sehen als wunderschöne Sternschnuppe.
Der Tochter des Schmiedes wurde er freilich bald zu langweilig, denn er hatte das Geheimnisvolle verloren, nun, da sein Stern gefallen war. Bald zog der Schmied weiter, und das Mädchen mit den rotbraunen Augen verschwand aus dem Leben des Jungen. Als dieser Trost suchte bei seinem Stern, konnte er ihn nicht mehr finden. Da erfüllte großer Schmerz sein Herz, und etwas in ihm starb. Das Leuchten verschwand aus seinen Augen, und mit der Zeit nannte ihn keiner mehr Sternenkind. Den Teich mied er, und bald schon zog er hinaus in die Welt, ruhelos und ohne Frieden.
Vielleicht begegnest Du ihm eines Tages, denn er wandert immer noch durch die Welt. Nie hält es ihn lange an einer Stelle, er ist auf der Suche, rastlos und ohne Ziel. Er ist nicht leicht zu erkennen. Nur in der Nacht blickt er immer wieder sehnsüchtig hinauf zu den Sternen, bis der Funken Hoffnung in seinen Augen, der alte Zauber der Sterne, verlischt. Doch wenn Du ihm begegnest, dann höre ihm zu, denn er kann Dir eine Geschichte erzählen von der dunklen Seite der Seele.
 

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