Die Zeitung
Ein Tag wie jeder andere. Sie sitzen am Frühstückstisch. Er liest Zeitung. Sie blättert in Reiseprospekten. "Liebling, hör doch. In Sardinien soll es um die Zeit besonders schön sein." "Hm." "Und ein Flug nach Frankreich käme uns im nächsten Monat um 2% billiger." "Hmpf." Eine Hand schlängelt sich hinter der Zeitung hervor, greift sich den Kaffee und verschwindet wieder. "Oder Hawaii. Obwohl, Henriette sagt, es sei zu gefährlich dort." "Hm Hm." Die Hand stellt die Tasse wieder ab, schwebt zielsicher zu dem Marmeladenbrot, greift zu und verschwindet mit seiner Beute hinter der Zeitung. Manchmal weiß sie gar nicht mehr, wie er wirklich aussieht. Immer, wenn sie sein Bild in Gedanken heraufbeschwört, ist da anstatt seines Kopfes eine große engbedruckte Zeitung. "Hörst du mir eigentlich zu?" "Ja doch, Schatz" Wieder wird die Kaffeetasse von der Hand hinter die Zeitung entführt. Vor ihren Augen taucht ein bekannter Traum auf. Sie stellt sich vor, wie sie die Kaffeekanne nimmt und die braune Brühe gegen die Zeitung schleudert, wie das saubere Weiß-Schwarz sich braun verfärbt und in sich zusammenfällt... Sie gibt sich einen Ruck und greift nach der Kanne. "Wenn du nicht sofort die Zeitung weglegst, überschütte ich dich mit Kaffee." Ihre Stimme überschlägt sich, ihre Hand, mit der sie die Kanne hält, zittert. "Das tust du nicht!" Die bedruckten Blätter weichen keinen Millimeter. Und wie schon tausend mal zuvor gießt sie ihm und sich selbst Kaffee nach und stellt die Kanne wieder ab.
Ein Nachmittag wie schon so viele zuvor. Sie sitzen im Zug nach Frankfurt. Er hat dort geschäftlich zu tun. Und um ihre Reiselust zu stillen, hat er sie mitgenommen. Sie sitzen sich gegenüber in einem Abteil 2. Klasse. Wie immer starren ihr die tausend schwarzen Buchstaben wie kleine Augen, denen nichts entgeht, entgegen. "Ich weiß gar nicht, was ich anziehen soll. Meinst du, das schwarze Kleid ist besser als das Rote?" "Hm." "Ich hoffe, ich habe das schwarze eingepackt. Überhaupt, für eine Woche habe ich viel zu wenig dabei." "Aha." Ein rascheln geht durch die Zeitung. Kurz faltet sie sich zusammen und gibt den Blick auf seine schwarzen Haare frei. War da nicht eine graue Strähne? Doch schon breitet sich der Vorhang aus ein wenig Schwarz auf viel Weiß vor der Szene aus. Das schwarz-weiße Bild eines Unbekannten starrt sie aus der Titelseite an. "Ich hoffe, unser Hotelzimmer ist nicht im ersten Stock. Henriette wurde mal im ersten Stock ausgeraubt. Die Diebe sind von außen durch ein Fenster eingestiegen." "Ja,ja." Wieder einmal fragt sie sich, ob ein Mensch so lange an einer Zeitung lesen konnte. Bestimmt liest er den einen oder anderen Artikel zwei- oder dreimal, aus reiner Bosheit ihr gegenüber. Sie kann diesen Anblick nicht mehr ertragen, steht auf und öffnet das Abteilfenster. "Mach sofort das Fenster zu. Bei dem Zugwind kann ja kein Mensch Zeitung lesen!" Irgend etwas zerreißt in ihr. Etwas, was schon seit einer Ewigkeit immer weiter gedehnt und gedehnt wurde. Ihre Stimme wird kalt und ruhig. "Wenn du nicht sofort die Zeitung weglegst, springe ich aus dem Fenster." Das tust du nicht!" Die bedruckten Blätter weichen keinen Millimeter. Und wie schon tausendmal in ihren Träumen steigt sie auf einen Sitz, dann auf die Ablage direkt unter dem Fenster und springt.
Am nächsten Morgen erfährt er es aus der Zeitung.
© Stefan Brinkmann
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