Fahrt ins Nirgendwo

Irgendwo auf einer Gottverlassenen Landstraße. Leichter Nebel wabert ungestört über den Asphalt und die bunten Herbstblätter, die seelenruhig in der Abendsonne liegen. Ein Frosch überquert träge hüpfend die Straße. Die Angst davor, von einem Autoreifen in die Form eines der Blätter um ihn herum zerquetscht zu werden, scheint er nicht zu kennen. Nein, Freunde, diese Straße sieht nur selten den glanz von Scheinwerfern.
Aber, hört doch, ist das nicht... ja, tatsächlich, das klingt verdächtig nach einem Motor, Diesel, würde ich sagen, wenn mich nicht alles täuscht, das sanfte Grollen eines BMW. Gut gepflegt, der Besitzer liebt sein Auto. Da hinten. Seht ihr die Scheinwerfer? Die zwei Lichtpunkte. Sie kommen schnell näher. Kein zweifel, ein BMW, 5er Serie. Der Frosch scheint ihn auch gehört zu haben. Neugierig blickt er in Richtung des schnell lauter werdenden Grollens. Ich will ja nicht unken, aber es wird wohl das letzte Geräusch sein, das er in seinem eh schon kurz bemessenen Leben hören wird...
...
... Yep.
Ein Auto, in dieser Einöde? Was es hier wohl will? Kommt, Freunde, laßt uns ein Stück mitfahren, als unsichtbarer Anhalter. Einer der Vorteile des Lesens. Keiner sieht uns, aber wir sehen alles. Selbst die geheimen Gedanken der Protagonisten. Und los gehts...

"Bärchen, bist Du Dir sicher, daß wir noch richtig sind?"
"Schnuckel, mach Dir keine Sorgen. Ich hab alles im Griff."
Im Griff hat er in erster Linie sein Lenkrad. In einem sehr festen Griff, das verraten uns die weiß hervortretenden Knöchel. Er ist angespannter, als seine ruhige, honigsüße Stimme uns glauben machen will. Darf ich vorstellen: Der Fahrer. Und Ehemann, wenn wir dem goldenen Ring an seiner Hand glauben schenken. Gepflegtes Äußeres, aber das haben viele. Die Hände jedoch, sie verraten viel über einen Menschen. Seine sind makellos. Zarte Haut, die wohl nur selten schwere Lasten zu heben hatte. Manikürte Fingernägel. Alle in exakt der gleichen Länge. Sehr Euch das an!
Das an seiner Seite ist wohl seine Frau. Für eine Affäre, seid mir nicht böse, ist sie nicht attraktiv genug, und Kosenamen wie "Bärchen" und "Schnuckel" deuten wohl kaum auf eine rein geschäftliche Bekanntschaft hin. Außerdem trägt sie exakt den gleichen Ring wie er, nur vielleicht etwas kleiner. Ihre Hände sind ebenso gepflegt und unbefleckt von harter Arbeit wie die seinen, nur ihre Nägel... scheint so, als neige sie dazu, manchmal daran zu kauen. Ihre Maniküre versucht das zwar zu kaschieren, aber unserem geübten Blick entgeht das nicht.
Immer wieder schielt sie nach draußen, als ob sie etwas suche. Ein Straßenschild vielleicht, das ihr Auskunft gibt, wo sie sich befindet. Die meiste Zeit jedoch vertieft sie sich in die Landkarte auf ihrem Schoß. Fährt die dünnen Linien der Landstraßen mit ihren geschundenen Nägeln nach, als versuche sie ein Gefühl für die Strecke zu entwickeln. Vielleicht eines der Geheimnisse der weiblichen Intuition?
"Aber Bärchen," sagt sie, und deutet zur Unterstützung ihrer Worte auf die Karte, "wenn wir richtig wären, hätten wir schon längst durch ein Dorf kommen müssen."
Er würdigt der Karte, oder auch seiner Frau, keines Blickes. Den Blick starr geradeaus, auf die Straße gerichtet. Die Sicht wird immer schlechter. Der leichte Nebel vermischt sich langsam mit der Dämmerung und dem Scheinwerferlicht zu einer schwer durchschaubaren Brühe.
"Schnuckel, du weiß doch, wie das mit den Karten ist. Da kommt einem alles immer viel kürzer vor. Ich bin mir sicher, nach der nächsten Kurve kommen wir durch dein ... Dorf."
Hat er da eben ein Wort verschluckt, vor Dorf? Und seine Stimme, sie wirkt etwas angestgrengter als zuvor. Faszinierend.
"Das hast du schon vor einer Viertelstunde gesagt, Bärchen. Und da war kein Dorf."
Oh. Ist da nicht dieser leicht beleidigte Unterton in ihrer Stimme, den alle Männer fürchten wie die Pest? Dieser Ton, der ihnen signalisiert: Alles, was du jetzt sagst oder tust oder nicht sagst oder tust ist falsch, falsch, sowas von falsch. Letzte Chance, dich zu entschuldigen, zuzugeben, was für ein Trottel du bist und zu Kreuze zu kriechen, oder du bist ja sowas von geliefert.
Aber wie jeder Mann seit der Sache mit dem Apfel ignoriert auch unser Bärchen die Warnsignale. Er wird sogar ein wenig patzig.
"Die Karte ist auch nicht mehr die neuste. Vielleicht gibt es das Dorf ja gar nicht mehr."
"Mach dich nicht lächerlich, Bärchen. Dörfer verschwinden nicht einfach."
Das "Bärchen" klingt jetzt so, wie eine Mutter den Namen ihres Kindes ausspricht, nachdem sie entdeckt hat, was es mit ihrem Lieblingskleid und dem Hund und beiden zusammen angestellt hat.
"Ich mache mich nicht..." er atmet tief durch, der Griff um das Lenkrad wird noch etwas fester, und besänftigend fährt er fort: "Ich meinte, es könnte sein, dass sie eine Umgehungsstraße gebaut haben, um das Dorf herum, um den ganzen Verkehr drumrum zu führen."
"Verkehr?" Ah, Phase zwei: Sarkasmus. Lustig, wie man das schon aus dem ersten Wort heraushört. "Natürlich, Bärchen, ist ja fast kein Durchkommen bei dem Verkehr. Kein Wunder, dass sie ihn umleiten mussten. Die armen Dorfbewohner müssen ja halb wahnsinnig..."
"WIR SIND RICHTIG!" Treffer. Sie hat ihn in die Enge gedrängt. Und wie jeder gute Nachfahre eines Primaten wählt das Männchen zur Revierverteidugung ein ordentliches Brüllen und Zähnefletchen.
Das saß. Sie ist kreideweiß. Fürs erste. Aber glaubt mir, da ist ein Zornesrot auf dem Weg. Er brüllt wohl nicht oft. Hatte vielleicht einen schweren Tag. Jedenfalls bremst sie sein heftiger Ausbruch noch ab.
Seht ihr, sie geht über in Phase drei. Tränen. Das heißt, den Tränen nahe sein. Weinen selbst ist wie eine kleine Niederlage, aber Tränen, die noch nicht trocknen müssen, die irgendwie da sind, nur noch nicht ganz, die sind ein perfektes Druckmittel.
"Wir hätten wenigstens den Bauern fragen sollen. Ich hab dir gesagt: Frag den Bauern. Aber du musstest ja auf Stur stellen." Ihre Stimme ist ein Phänomen, weinerlich und gefasst zugleich, mit einer Prise zurückhaltendem Vorwurf. Angriff aus der verletzten Defensive.
Er atmet tief durch, schaltet innerlich einen Gang zurück und den Wagen einen Gang hoch.
"Warum hätte ich den Bauern fragen sollen? Wir. Sind. Richtig. Ich bin haarklein der Beschreibung deiner Schwester gefolgt. Elfiede sagte ausdrücklich: Von der Autobahn runter, immer gerade aus bis zum nächsten Dorfschild, dann rechts und..."
"Oh."
Sie ist seiner Beschreibung mit dem Nagel gefolgt, auf der Karte. Bei dem Rechts jedoch ist ihr Nagel stehen geblieben.
"Oh? Was soll das heißen, Oh?"
Jetzt hat er seine Chance gewittert. Dieses Zeichen hört jeder Mann sofort. Ein Zeichen von Schuld, von schlechtem Gewissen. Er wittert es wie ein Vampir das Blut. Sofort ist er raus aus der Defensive, auf der Jagd, bereit, sich auf sein Opfer zu stürzen.
"Ach, nichts." Sie beißt sich auf die Unterlippe. Ihre Gedanken rasen. Seht ihr ihre Augen, wie sie umherhuschen? Ihre Hand wandert in Richtung Mund, dann doch wieder abwärts, in Richtung der offenen Handdtasche, seht nur, ein Päckchen Zigaretten, diese Super-Leichten. Stockt wieder.
"Ach komm schon, Schnuckel, ich kenne dich seit zwanzig Jahren. Ich kenne dein Oh. Dein Oh ist nie ein ach nichts. Dein "Ach nichts" ist nie ein ach nichts."
Seht nur, ein Grinsen. Er grinst. Aber das ist kein schönes Grinsen. Wußtet ihr, daß Affen so ein Grinsen haben, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlen? Wir Menschen haben das von ihnen geerbt. Kein gutes Grinsen, wirklich nicht.
Ihre Hand ist jetzt doch bei den Zigaretten, spielt mit der Packung. Laßt mich raten, sie darf nicht rauchen, im Auto. Wetten, der Aschenbecher wurde noch nie benutzt?
"Es is nur so... Elfriede, sie hat es nicht so mit links und rechts. Manchmal. War schon als Kind ein Problem. Sie ist deswegen dreimal durch die Fahrrüfung gefallen. Und, naja, bei dem Ortsschild, an der Kreuzung..."
Er bremst ab. Sehr, sehr scharf. Der ABS bring den Wagen gerade so unter Kontrolle und zum stehen. Sie schreit auf, aber das ist ihm egal. Er reißt ihr die Karte aus den Händen, blickt wutentbrannt auf das Straßengewirr, schleudert sie auf den Rücksitz. Das wird unschön. Hier gehtes nicht mehr um eine Fahrt ins Nirgendwo. Hier geht es um etwas, daß sich in 20 Jahren Ehe aufgestaut hat. Um Dreck, der von den manikürten Nägeln kaschiert wird. Vielleicht also doch um eine Fahrt ins Nirgendwo, irgendwie. Kommt Freunde, das müssen wir uns nicht antun. So etwas lesen wir allzu oft in der Zeitung, sehen es in Soaps. Zeit, auszusteigen.

Wieder an der frischen Luft. Aus dem Wagen dringen Schreie, wutentbrannte Schreie, vielleicht auch Schmerzensschreie, so genau können wir das nicht sagen. Aber da drinnen geht es heftig zu, auch wenn wir nicht durch die getönten Scheiben blicken können, das Wackeln des Wagens gibt uns mehr Auskunft, als wir haben wollen.
Ups.
Scheinwerfer. So gottverlassen ist diese Straße wohl doch nicht. Große Scheinwerfer. Lastwagen, würde ich sagen, einer der wirklich großen Transporter. Und unser Bärchen hat beim Abwürgen des Motors instinktiv sein Licht ausgemacht. Und dann noch der Nebel. Die beiden im BMW sind so laut, daß wir den Motor des Lasters kaum hören können. Kaum anzunehmen, daß die beiden ihn bemerken. Würdet ihr sie gerne warnen? Nun, daraus wird nichts. Das ist der Nachteil am Lesen. Wir sind körperlos. Können nicht eingreifen. Nur beobachen, abwarten. Ich will ja nicht unken, aber ich fürchte, das letzte, was die beiden hören werden, ist die keifende, schreiende, brutale Stimme des anderen...
...
Yep.

© Stefan Brinkmann

 

 

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