Ende der Zeit

I

Als es an der Tür klingelte, dachte Daimon zuerst, er hätte sich verhört. Sein Gehört war auf seine alten Tage nicht mehr das Beste, spielte ihm oft Streiche. Er hörte Dinge, die es nicht gab, und überhörte jene, die sehr wohl real waren, aber so gar nicht in seine momentane Laune passen wollten. Jetzt zum Beispiel hörte er Jazz. Vom guten alten Vinyl, nicht diese neumodischen Silberdinger. Das Rauschen und Knacken, Lispeln und Wispern und Flüstern der Plattennadel, das machte die Musik erst lebendig, gab ihr Kraft und Magie. Sein Enkel hatte ihm diesen CD-Player geschenkt, mitsamt einer CD-Box, „Best of Jazz“. Mal davon abgesehen, dass diese Idioten von dem Plattenlabel offensichtlich keinen Schimmer von Jazz hatten, geschweige denn in der Lage waren, das Beste auszuwählen, war es ihm bei diesen sterilen Klängen, die so sauber und klar und leblos aus den Boxen drangen, nur kalt den Rücken hinabgekrochen. Kein angenehmes Schaudern, beileibe nicht, mehr dieses Gefühl, als ob eben jemand über sein Grab gelaufen wäre. Er hatte den CD-Player seitdem nie wieder auch nur eines Blickes gewürdigt.
Aber die Musik war nicht der einzige Grund, warum er das Läuten der Türklingel zunächst gar nicht registrierte. Er hatte einfach nicht damit gerechnet. Die Türklingel wurde schon so lange nicht mehr betätigt, dass er nicht mal mehr sicher war, ob sie überhaupt noch funktionierte. Früher, ja, früher, da war sie kaum eine Stunde stumm gewesen. Journalisten, die ihn mit den immer gleichen Fragen bedrängten. Fans, die irgendwie seine Adresse herausgefunden hatten. Verdammtes Internet, wirklich, und damals hatte es noch in seinen Kinderschuhen gesteckt. Aber in diesen Tagen... er hatte seit Jahren kein Buch mehr heraus gebracht, und noch um einiges länger kein gutes mehr geschrieben. Die Welt hatte gnädig das Tuch des Vergessens über ihn ausgebreitet, und ihm war das nur recht so. Er liebte seine Ruhe. Seine Ruhe. Es kam ihm so vor, als wäre das sein Leben lang das erste, was wirklich ihm gehörte. Er hatte ihnen seine Träume geschenkt, seine Ideen, seine Zeit, sein verdammtes Herz. Jetzt hatte er sich endlich für sich selbst, die letzten Jahre auf diesem seltsamen Planeten.
Die Tür klingelte ein weiteres mal. Energisch. Drängend. Eines dieser Dinge, die er nie so ganz verstanden hatte. Eigentlich klang die Klingel doch immer gleich, war ein mechanisches Ding, ohne Seele. Und doch, manchmal schien sie im voraus anzukündigen, was hinter ihr lauerte.
Ärgerlich legte er das Buch beiseite, in dem er lustlos geblättert hatte. Keines von seinen, Gott bewahre, er hatte die Dinger geschrieben, das reichte für ein Leben, oder zwei. Wer zur Hölle war das? Kinder, die sich einen Streich erlaubten? Nein, wohl kaum, die meisten dachten vermutlich, dieses Haus stünde leer. Vielleicht hatte sich jemand in der Tür geirrt? Sein Name stand nicht an dem kleinen Gartentor, aus gutem Grund, damals, heute eher ein weiteres Nutzloses Puzzlestück seiner Vergangenheit.
Da, sie läutete schon wieder.
„Nur die Ruhe,“ grummelte er, „ein alter Mann ist doch kein D-Zug“
Er schlurfte durch den kleinen Gang zur Eingangstür hin, seine Filzpantoffeln schlappten in einem fast komischen Schlupp-Schlupp unter ihm drein. Ärgerlich schob er den Riegel zurück und riss die Tür auf.
„Ja?“ schnauzte er, bevor er noch gesehen hatte, wer da seine Ruhe zu stören wagte.
Das Mädchen am Gartentor sah verstört aus. Ihre dunklen Augen flitzten hilfesuchend nach links und rechts, bevor sie sich wieder ihm zuwandten, zögerlich, aber fest im Blick. Die tiefen Ränder unter den Augen ließen sie fast schwarz erscheinen. Sie konnte kaum älter als 20 sein. Das lange, schwarze Haar hing wirr über ihre Schultern. Ihre Hände waren leer, die Arme vor ihrem Körper verschränkt, als friere sie. Kein Rucksack, keine Handtasche. Mochte sein, dass sie unter dem viel zu weitem Pulli eine Sammelbüchse oder ein Umfragen-Brett versteckt hatte, aber Daimon bezweifelte es.
„Was willst du?“ fuhr er sie schroff an.
Sie schluckte merklich, und er dachte schon, sie würde auf der Stelle kehrt machen und flüchten. Aber sie blieb stehen, sah ihm direkt in die Augen.
„Sind sie Daimon Nait? Der Schriftsteller?“
Der Schriftsteller. Das hatte ihn wirklich lange niemand mehr gefragt.
„Wer will das wissen?“ gab er zurück, nicht mehr ganz so heftig.
„Mein Name ist Jade“, sagte das Mädchen. „Ich brauche ihre Hilfe.“
Daimon runzelte die Stirn.
„Hör zu, ich kaufe nichts, ich spende nichts. Ich will keine Zeitschrift abbonieren und auch keinem Verein beitreten. Wenn Du eine Arbeit über einen Schriftsteller schreiben willst und denkst, ich wäre dafür der geeignete Kandidat, dann denk noch mal, vorzugsweise in eine andere Richtung.“
Schon war er wieder dabei, die schwere Eichentür zurück ins Schloss zu schieben.
„Ich sterbe.“
Ihre Stimme, sachlich, fest, ruhig, bestimmt. Die Tür verharrte, verdeckte das Mädchen halb. Ihr eines, sichtbares Auge funkelte Daimon an.
„Kind, das tun wir alle, und so Gott will, ich noch lange vor Deiner Zeit.“
„In den nächsten zwei Wochen.“ Diesmal zitterte ihre Stimme, leicht nur, fast nicht zu hören, aber Daimon hatte gelernt, zuzuhören. Schreiben war nicht viel anders als sich selbst ein Ohr zu schenken.
Er zögerte, dann schob er die Tür wieder auf. Ärger und Verwirrung kämpften kurz um die Oberhand. Ärger gewann, wie so oft.
„Dann geh zum Arzt. Ich bin Schriftsteller, kein Wunderheiler.“
Sie stand immer noch am Gartentor. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen ruhten erbarmungslos auf dem alten Mann. Diese Augen... sie waren ihm unheimlich. Zu starr. Fast wie tot.
„Die Ärzte haben mich aufgegeben.“ Sie schluckte, und kurz flackerte die Maske der Selbstbeherrschung, drohte sich aufzulösen. Aber dann hatte sie sich wieder im Griff.
„Bitte, darf ich reinkommen?“
Misstrauisch schaute Daimon die lange staubige Straße hinauf und hinab. Sein Haus stand etwas abseits, halb in den Hang eines kleinen Hügels gebaut. Ein kleiner Wald umgab das Grundstück. Genug Plätze, um sich zu verstecken.
„Das ist ein Scherz, oder? Versteckte Kamera oder was in der Art. Haha. Sehr witzig. Und jetzt verschwinde.“
Er wusste es besser. Aber das war zu absurd. Eine dieser Situationen, die jeder Leser sofort als konstruiert und überzogen empfindet. Nur, das Leben hatte nicht viel Sinn für dezente Plots. Und das Mädchen war entweder eine unglaublich gute Schauspielerin, oder... aber das war wirklich zu verrückt, und selbst wenn, was konnte er ihr schon großartig helfen?
Heftiger als geplant krachte die Tür ins Schloss. Daimon stand noch eine zeitlang davor, lugte durch den Türspion.
Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle.
Er ging schließlich wieder in sein Wohnzimmer, zu seinem Ohrensessel, seiner Musik, seiner Ruhe.
Zwei Sinatra, einen Brubeck und ein Saxofon-Solo später stand er wieder vor der Tür und spähte durch den Spion auf die Straße.
Sie stand immer noch da. Wie festgewachsen. Starrte ihn direkt an, als wüsste sie, dass er sie beobachtete.
Er warf einen Blick auf sein altes Wandtelefon, und den Zettel mit Notrufnummern, der daneben hing. Seufzend schüttelte er den Kopf und öffnete die Tür.
„Du hast fünf Minuten, hörst Du, nicht mehr. Und wenn Du mir komisch kommst, dann eher weniger. Verstanden?“
Wortlos schlich sie durch den Garten und schlüpfte an ihm vorbei ins Haus. Der Duft von frischer, feuchter Erde hauchte mit ihr an Daimon vorbei, und ein eiskalter Schauer kroch unter sein Hemd, seine Haut, seine Seele.
Wortlos folgte er ihr.

Sie saßen in seiner kleinen Küche. Das Mädchen hatte sich auf einen der groben Holzstühle fallen lassen und das Zittern angefangen. Ihr ganzer Körper schien zu vibrieren, die Zähne klackten wie Maschinengewehrsalven aufeinander. Daimon dachte zuerst, sie simuliert, um Zeit zu schinden, dann, sie kriegt einen Anfall, und krepiert in meiner Küche, und bitte wie soll ich das jemandem erklären. Seine Vernunft erklärte feierlich, sie sei überfordert, danke, jemand anderes solle das bitte übernehmen. Also hatte er Wasser aufgekocht und ein paar Teebeutel aus einem der Schränke gekramt. Jetzt saß sie ihm gegenüber, die große, dampfende Tasse in ihren schlanken, zarten Händen, und starrte auf das trübe Nass. Ihr Zittern war fast weg, aber eben nur fast.
Daimon wartete. Er wartete noch etwas länger. Schließlich deutete er auf die alte Küchenuhr, eines dieser hässlichen Dinger, wie sie nur in Küchen zu finden sind.
„Deine Zeit läuft ab, junge Dame.“
Jade schaute von ihrem Tee auf, und ihr Grinsen war bar jeden Humors.
„Deshalb bin ich hier“ sagte sie. „Deshalb brauche ich ihre Hilfe.“
„Meine Hilfe?“ fragte Daimon. „Mädchen, ich weiß nicht, was du hast, und ob es vielleicht drauf und dran ist, dein Hirn zu zerfressen, aber wenn ich nur noch zwei Wochen zu leben hätte, dann wäre der letzte Mensch, den ich aufsuchen würde, ein alternder, mittelmäßiger Schriftsteller, dessen beste Zeiten weit hinter ihm liegen. Hast du denn keine Familie oder Freunde?“
Sie schüttelte den Kopf, langsam und bedächtig. „Ich habe nichts“, sagte sie, „meine Eltern sind gestorben, als ich noch zu jung war, um mich an sie zu erinnern. Meine Zieheltern... nun, sagen wir mal, sie konnten nicht viel mit mir anfangen, und das, wofür ich ihnen gut genug war...“
Sie schluckte, und nippte an dem Tee. Ihr Geruch nach Erde vermengte sich mit dem Duft von Kamille.
„Hab ‚nen großen Teil meines Lebens im Rausch verbracht. Alkohol, Drogen, Sex, alles, was mich am Nachdenken hinderte. Der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hat... er hat mich verlassen, für immer.“
Sie stand auf, begann, in der kleinen Küche auf und ab zu streunen.
„Ich bin nicht stolz auf das, was gewesen ist. Ich habe nichts behalten, nichts hinterlassen, außer Leid und Schmerz und Schuld. Ich war schwanger...“
Jades Stimme erstarb. Sie blieb vor dem Fenster stehen, hielt sich krampfhaft am Sims fest. Mit aller Entschlossenheit starrte sie nach draußen, in die untergehende Sonne.
„Es starb. Die Medikamente, die sie mir gaben, haben es umgebracht. Ihn. Er sollte Daimon heißen.“
„He, ok, das reicht.“
Daimon war so ruckartig aufgesprungen, dass sein Stuhl bedenklich ins Wanken geriet und einen kleinen Stepptanz auf dem Steinboden vollführte. Erschrocken fuhr Jade herum, die Hände abwehrend vor sich gestreckt. Ungerührt fuhr der alte Schriftsteller fort.
„Du hattest also die Mutter aller beschissenen Leben. Tut mir leid, ehrlich, aber wie kann ich dir da helfen? Wenn du dich ausheulen willst, ich hab da die Nummer von der Telefonseelsorge...“
„Sie verstehen nicht!“
Das kam überraschend heftig, und Daimon verstummte. Jades schwarze Augen funkelten ihn böse an, wie zwei kleine Obsidiane.
„Ich möchte, dass sie mir eine Geschichte schreiben.“
Eine einzelne Träne lief ihre wächsern bleichen Wange hinab. Trotzig wischte sie sich mit dem Ärmel durchs Gesicht, die Augen unverwandt auf Daimon gerichtet.
Daimon zögerte. Setzte zu einer Antwort an. Überlegte es sich anders, kratzte sich am Kopf. Ließ sich wieder auf dem alten Stuhl nieder, legte seinen Kopf auf die gefalteten Hände, und betrachtete nachdenklich dieses seltsame Wesen in seiner Küche. Etwas von seiner alten Neugierde drängte sich nach vorne. Dieser unstillbare Durst nach Geschichten, an dem jeder Schreiberling auf ewig leidet. Die mürrische Schroffheit schlich sich vorsichtig aus seinem Gesicht.
„Warum?“ fragte er schließlich.
Jade drehte sich wieder nach dem Fenster um. Die Sonne war schon halb in die Erde eingedrungen.
„Mein Leben hat keine Bedeutung. Keinen Sinn. Nichts, was zurückbleibt. Verstehen sie? Nichts! Ich will, das sich die Menschen erinnern. Ich möchte etwas hinterlassen, in dem ein Teil von mir steckt. Mein Zeichen setzen, wenn sie so wollen.“
„Warum ich?“ fragte Daimon weiter. „Mein letztes brauchbares Buch liegt Jahre zurück, ich tauge bestenfalls noch zur Kurzgeschichte. Hab vielleicht nie für viel mehr getaugt, wenn ich so Bilanz ziehe. Und ich meine, schau dich an, du bist ein hübsches Kind, mit einer dramatischen Geschichte. Die Jungspunde würden sich sonst was ausreißen, um darüber schreiben zu dürfen. So etwas ist Gold wert. Die würden dir einen ganzen Roman widmen, ach was, eine Romanreihe! Allein die Presse, die man dafür bekäme...“
„Ich will keinen Roman“ erzählte Jade der untergehenden Sonne. „Nicht mal eine Novelle. Mein Leben ist doch selbst kaum mehr als eine Kurzgeschichte. Ohne richtigen Anfang, und ohne ein sinnvolles...“
Sie schluckte.
„Sie haben hier eine wundervolle Aussicht. Es ist fast so, als ob da hinten die Welt aufhört.“
Daimon rührte sich nicht, keinen Zoll, aber seine Augen, seine Augen begannen zu glühen.
„Was?“
Das Mädchen drehte sich verwirrt um. Ihre Wangen waren feucht.
Daimons Augen glühten rot im Licht der untergehenden Sonne.
„Was hast du gesagt?“ Seine Stimme vibrierte.
„Dass sie hier eine schöne Aussicht haben.“ Jade zuckte ansatzweise mit den Schultern.
„Nicht das. Das danach!“
Sie verstand nicht. Schüttelte den Kopf, streckte die leeren Hände von sich.
„Raus!“ Er brüllte fast. „Sofort. Komm morgen wieder.“
„Aber was...“
 „Geh schon. Geh. Morgen, wann immer du magst. Aber jetzt verschwinde endlich!“
„Werden sie mir...?“
„Morgen hergottnochmal.“ Er war aufgestanden und schob sie nun sanft, aber bestimmt, in Richtung Ausgang. Ihm fiel auf, wie leicht sie war. Zu leicht.
Er wartete so lange in der Tür, bis er sich sicher sein konnte, dass sie sich nicht wieder vor seinem Gartentor einpflanzen würde. Dann eilte er zurück ins Haus, sein Arbeitszimmer. In der dritten hastig aufgerissenen Schublade fand er sein Papier. Der Füller war eingetrocknet, und er donnerte ihn fluchend in irgend eine Ecke. Dann eben Kugelschreiber. Hastig kritzelte er einen Satz auf das Papier. Betrachtete ihn eine zeitlang. Ja. Ja! Er war auf etwas gestoßen, eine Goldader, nur war es kein Gold, sondern etwas für ihn ungleich wertvolleres: Inspiration!
Er begann zu schreiben.

Ende der Zeit

„Darf ich?“
Er nickt kurz, seine ruhigen, tiefgrünen Augen folgen jeder ihrer Bewegungen.
Sie setzt sich neben ihn. Eine Zeitlang lassen sie ihre Blicke über das weite Land streifen.
 „Eine wunderschöne Aussicht“, sagt sie. „Es ist fast so, als ob da hinten die Welt endet.“
Er lächelt, sein ewiges, unergründliches Lächeln. „Ja,“ sagt er, „und letztendlich tut sie das auch.“
Sie schluckt. Räuspert sich.
„Bald ist es so weit“, sagt sie. Ihre Stimme zittert
Er nickt, und kurz huschte ein Schatten über seine sonst immer so beherrschten Züge.
„Ja. Bald.“
„Weißt Du,“ sagt sie, „letztendlich bin ich froh, dass endlich alles vorbei ist. Das Warten, die Ungewissheit, das ist das schlimmste.“
Ihre Hand umklammert die Balustrade, viel zu fest. Die langen, schlanken Finger scheinen sich in das Holz graben zu wollen. Beruhigend legt er seine Hand auf die ihre. Eine große, kräftige Hand, braungebrannt und ledern.
„Ich weiß“, sagt er, „manche führen sogar selbst das Unglück herbei, um nicht mehr darauf warten zu müssen. Sie sehen nur noch das, was kommt, nicht mehr das, was ist. Und so wird das eine zum anderen.“
Seine Stimme ist tief und weich, immer ein wenig beruhigend, immer beherrscht.
„Hast du Angst?“ fragt er sie.
Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Und Du?“
„Nein.“ Wieder dieses Lächeln. „In gewisser Weise freue ich mich sogar darauf. Es ist schon etwas ganz außergewöhnliches, ein einmaliges Abenteuer.“
Sein fast kindlicher Enthusiasmus überrascht sie immer wieder. Er mag so gar nicht passen zu seine sonst immer so beherrschten Art.
Sie starrt in die sterbende Sonne, kann ihn nicht ansehen bei dem, was sie noch zu sagen hat.
„Ich...“ sie schluckt. „Ich bin gekommen, um leb wohl zu sagen.“
„Nein.“ Sein Hand umgreift jetzt die ihre, aus Berührung wird Halt. „Du bist gekommen, um ‚Auf Wiedersehen’ zu sagen.“
Verblüfft schaut sie ihn an. Er lächelt immer noch, aber seine Augen sind ernst.
„Also gut.“ Sie nickt. Eine einzelne Träne rinnt ihre Wange hinab. „Auf Wiedersehen. Pass auf dich auf.“
„Auf Wiedersehen.“ Mit seiner freien Hand streicht er ihr über das Haar, fast zärtlich. „Glaube daran. Genau hier, wenn alles vorbei ist.“
Sie nickt.
Sein Griff um ihre Hand verstärkt sich.
„Versprich es mir.“
Jetzt muss sie doch lächeln, und fast feierlich erwidert sie: „Ich verspreche es.“
„Gut.“ Für einen Moment ist es fast so, als wolle er ihre Hand nie wieder freigeben, wolle sie festhalten, zurückhalten. Dann ist der Moment vorbei, und er löst seinen Griff.
Dreht sich um.
Und geht, ohne einen Blick zurück.



II

Diamon war ein ausgesprochener Morgenmensch. Schlaf wird überbewertet, sagte er immer, und meist stand er weit vor der Sonne auf, setzte sich auf seine Veranda und sah zu, wie der große Feuerball sich Zentimeter um Zentimeter über den Horizont schob und die Welt dabei in zuerst zarten, dann immer kräftigeren Farben erstrahlen ließ. Manchmal fühlte er sich dabei wie ein Ägyptischer Pharao, der die Sonne allein durch seinen Willen jeden Morgen aufs neue erweckt.
Diesmal jedoch war es die Sonne, welche ihn weckte, mit ihren ersten, noch jungfräulichen Strahlen, die unschuldig über sein zerfurchtes Gesicht tasteten.
Fluchend stand Daimon auf, grummelte sich seinen Weg ins Bad und begann seinen Tag mit einem extra starken Kaffee. Schreib-Kater, nannte er das. Dieses Ausgelaugt sein, wenn er einer wirklich bedeutsamen Geschichte auf der Spur war. Es war fast, als würde sein Geist die Jagd selbst im Schlafe noch fortsetzen.
Er stellte die Tasse auf den Küchentisch und schlurfte zur Eingangstür, um die Morgenzeitung einzusammeln.
Sie war nicht da, lag nicht auf der Fußmatte, wie sonst jeden Morgen. Was da lag, war das Mädchen, die ihn verschlafen anblinzelte.
„Wo ist meine Zeitung“ grummelte Daimon.
Sie zuckte mit den Schultern, was so im liegen, halb eingerollt zur Fötushaltung, etwas rührendes hatte.
„Weiß nicht“, sagte sie. „Vielleicht hatte der Zeitungsjunge scheu, sie auf mir zu deponieren.“
Gestern hatte Daimon das Mädchen nur als lästigen Störenfried gesehen, etwas, das seine Ruhe bedrohte. Heute jedoch war sie Teil einer Geschichte, ihrer Geschichte, und sein Erzählerauge musterte sie neugierig.
Sie war schön. Nicht diese Barbie-Schönheit der Kosmetik-Klone, nicht diese makellos sterile Schönheit der Werbung und Hochglanzprospekte. Mehr diese aufregende Schönheit, die ein Geheimnis bewirkte, und ein Wissen um die Welt. Ihre Augen waren wirklich fast so schwarz wie ihr Haar, das selbst ungekämmt und zerzaust eine Lebendigkeit ausstrahlte, die jede Shampoo-Firma ihrem Produkt andichtete und doch immer um Längen verfehlte. Ihre bleiche Haut glich so sehr Porzellan, sie musste sich gewiss glatt und hart und kalt anfühlen. Sie war schlank, aber nicht dürr, hochgewachsen, ohne groß zu wirken. Ihr Gesicht hatte diesen ewigen Ausdruck von ernsthafter Nachdenklichkeit, aber wenn sie lächelte, wie jetzt, war das wie die aufgehende Sonne nach einer kalten und regnerischen Nacht.
„Dann wirst du mir meine Zeit beim Frühstück vertreiben müssen“ sagte er gewohnt grimmig, aber mit einem Lächeln in seinen Augen, und er war fast sicher, dass Jade es gesehen hatte. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging ins Haus. Die Eingangstür ließ er offen.

Sie saßen in seinem Wohnzimmer. Er hatte Brubeck aufgelegt und ihr die erste Seite zum Lesen gegeben. Jade las sie jetzt sicher schon zum dritten mal. So aufmerksam wie ein Falke folgte sie jeder Zeile, jedem Wort. Es war faszinierend, ihr dabei zuzusehen.
Schließlich senkte sie das Blatt.
„Ist das alles?“ fragte sie.
„Nein. Das ist erst der Anfang.“
„Wie geht es weiter?“
Daimon zuckte mit den Schultern. „Das herauszufinden, dafür bist du hier. Es ist deine Geschichte, schon vergessen?“
Sie lächelte zaghaft.
„Nein. Natürlich nicht.“
„Aber zuerst“, sagte Daimon, und beugte sich vor, „habe ich noch eine Frage an dich.“
Jade schaute ihn erwartungsvoll an.
„Warum ich?“ Diese Frage hatte ihn noch bis weit in die Nacht beschäftigt. „Du bist nicht so was wie eine Tochter, von der ich nichts weiß?“
Sie lachte. Es klang hell und klar, wie ein Windspiel, aber eine der Glocken hatte einen Sprung.
„Nein... und ja. Nicht biologisch, aber von den Träumen her. Sie haben mir einmal das Leben gerettet.“
Daimon horchte auf. „Ich bin zwar alt, aber ich dachte, an so etwas könnte ich mich doch noch erinnern.“
Ihr Lächeln verschwand und machte Platz für diese tiefe und unbarmherzige Ernsthaftigkeit.
„Das können sie nicht“ sagte sie, „sie waren nicht dabei. Nur ihre Bücher. Ich war ziemlich am Ende. Nein, ich WAR am Ende. Dann fand ich dieses Buch, mit ihren Kurzgeschichten, auf einer Parkbank. Die Gestalten, sie waren wie ich. Als ob all diese Geschichten nur für mich geschrieben wären. Ich fand mich in jeder einzelnen wieder und wieder und wieder... und sie alle hatten etwas, das ich in mir verloren glaubte.“
Jade sah dem Schriftsteller fest in die Augen.
„Hoffnung“ sagte sie.
Daimon wusste nicht, was er darauf sagen konnte. Stattdessen deutete er auf das Platt Papier in Jades Händen.
„Wer sind die beiden?“ fragte er sie.
„Sie und ich?“
Daimon schüttelte den Kopf.
„Du und ich, wir sitzen hier in meinem Wohnzimmer. Diese beiden, nun, sie sind in einer anderen Welt, vielleicht sogar in einer anderen Zeit, wer weiß. Sie mögen uns ähneln, aber sie sind nicht wir. Merk dir das.“
Sie nickte, legte dann den Kopf leicht schief.
„Ein Liebespaar?“
Daimon rieb sich die Nase. Das machte er immer, wenn er über eine Geschichte nachdachte.
„Vielleicht“ sagte er schließlich. „Sie sind einander zumindest sehr verbunden. Denkst du, sie führen eine Beziehung?“
Jades Blick glitt schon wieder über die noch wenigen Zeilen.
„Nein...“, sagte sie, „nicht so richtig. Mehr... ich weiß nicht, wie Meister und Schüler vielleicht.“
Der alte Mann riss ihr das Papier aus der Hand und überflog die Zeilen. Dann grinste er.
„Ja, du hast recht“ sagte er schlicht, und gab ihr das Blatt zurück.
„Sie wissen es nicht?“ Die Verwirrung stand ihr allzu deutlich in Gesicht geschrieben.
„Nein. Schreiben ist wie der Blick durch ein Schlüsselloch in eine andere Welt. Du siehst ein paar Dinge, oftmals verwirrende Dinge, die du nicht verstehst. Und dann ist es an dir, darin einen Sinn zu entdecken.“
In Jades Augen leuchtete ein Verstehen auf. „Das also meinten sie, wenn sie in Interviews sagten: ‚Ich hab das Zeug nur geschrieben. Ich werde den Teufel tun, es zu interpretieren. Meine Wahrheit ist so gut wie die eines jeden Lesers.’“
„Das hab ich gesagt?“
Sie nickte.
„Ich war jung.“ Daimon deutete wieder auf die Geschichte. „Über was sprechen sie?“
Jade ließ sich Zeit mit der Antwort, ihre Augen suchten eifrig nach einem Hinweis im Buchstabenfeld.
„Sie will ihn verlassen“, sagte sie endlich.
„Will sie das wirklich?“
„Nein, nein, sie... sie muss!“
Daimon erhob sich und begann, um Jades Sessel seine Kreise zu ziehen. Noch so eine Angewohnheit aus alten Tagen. Er musste laufen, Fuß vor Fuß setzen, um besser nachdenken zu können. Der Geschichte auf dem Fuße bleiben, im wahrsten Sinne der Worte.
„Warum?“ fragte er ungeduldig. „Warum muss sie? Was steht bevor?“
Jades Porzellanstirn legte sich in tiefe Falten. Welch seltsamer Anblick, dachte Daimon, und dann, dieses Gesicht wurde nicht für Falten geschaffen.
... und schon verschwanden sie, wurden ersetzt durch ein stolzes Strahlen.
„Ein Krieg. Eine Schlacht. Die entscheidende Schlacht!“
Und das war es. Sie hatte es gefunden, und Daimon strahlte sie ebenso an wie sie ihn.
„Ja“, sagte er, und dann: „Wenn ich Dich wegschicke, wirst Du dann wieder auf meiner Fußmatte übernachten und den Zeitungsjungen verstören?“
Sie nickte frech.
Daimon seufzte. „Also gut. Oben ist ein Gästezimmer, erste Tür links, mit frischen Handtüchern und Bettzeug im Schrank. Naja, frisch vielleicht nicht mehr, etwas angestaubt könnten sie sein. Aber besser als die Fußmatte. Dusche ist gleich gegenüber...“
Jade sprang auf, stürmte auf Daimon zu und warf sich ihm um den Hals.
„Danke. Danke danke danke. Für alles.“
Er ließ sie gewähren, für einen Moment, dann schob er sie von sich und grummelte: „Ist nur, damit ich meine Zeitung auch weiterhin bekomme. Weißt du, wie schwer es ist, hier draußen einen zuverlässigen Lieferjungen zu finden? Und jetzt ab mit dir, ich hab zu tun.“
Jade lachte nur, zum zweiten mal, und Daimon wurde klar, wie sehr er darauf gewartet hatte. Dann stürmte sie die Treppe hinauf.
„Was wird das nur?“ murmelte er. „Wie soll das enden?“
Bedächtig schritt er in sein Arbeitszimmer, zu den geduldig wartenden leeren Seiten.

Es war ein langer Tag gewesen, und eine glorreiche Schlacht. Die letzte, alles entscheidende Schlacht. Und sie hatten obsiegt. Nun saß der Meister wieder an seinem Lieblingsplatz, an dem er sich vor einer Ewigkeit, wie es schien, von Jade verabschiedet hatte, und wartete. Er konnte das Schlachtfeld von hier nicht sehen, aber das musste er auch nicht. Er hatte genug Schlachten geschlagen, um auch so zu sehen, was nun geschah. Die Lumpensammler zogen sicher schon über das Feld, durchstreifen die zahllosen Leichen auf der Suche nach Überlebenden. Um sie von ihrem Leid zu erlösen, auf die eine oder andere Art.
Jade war noch nicht erschienen.
Die meisten Krieger hatten sich schon wieder in der Festung eingefunden. Eine rauschende Siegesfeier stand kurz vor ihrem Beginn. Den Meister interessierte das wenig. Er hatte auch davon schon genug mitgemacht, und mit der Zeit verloren sie ihren süßen Geschmack unter der Bitterkeit des Todes.
Jemand stand hinter ihm. Er drehte sich nicht um, sondern sagte nur: „Saphir. Was wünschst du?“
Der junge Mann erinnerte sich offensichtlich wieder daran, das Atmen eine überlebenswichtige Technik war.
„Es tut mir leid, Meister, ich wollte nicht stören. Aber die Siegesfeier beginnt gleich...“
„Was tust du dann hier bei deinem alten Meister? Willst du nicht mit den anderen jungen Helden feiern, wie es sich gehört?“
Der Meister sah vor seinem inneren Auge, wie Saphir unruhig von einem auf das andere Bein trat. Er hatte ihn kämpfen gesehen, heute und schon viele male zuvor. Furchtlos stellte sich Saphir jedem Feind, egal wie groß, wie gut bewaffnet oder gepanzert er sein mochte. Doch vor seinem Meister wurde er jedes mal zum kleinen Jungen, der sich scheinbar nicht mal die eigene Nase putzen konnte.
„Ja, doch... wollt ihr nicht mit mir kommen? Ich bin sicher, der Herrscher...“
„Der Herrscher hat heute genug zu tun, um einen alten Mann wie mich nicht weiter zu vermissen. Geh nur, Knabe, ich werde hier noch ein wenig sitzen, mich ausruhen und den Frieden genießen.“
„Ja, Meister.“ Saphir zögerte noch kurz, dann machte er kehrt und schlich davon.
„Eins noch“, rief ihm der Meister nach.“
Saphir blieb wie angewurzelt stehen.
„Ist Jade schon zurück?“ Der Meister bemühte sich nach Kräften, die Frage belanglos klingen zu lassen.
Ein Schlucken. „N-Nein, Meister, noch nicht. Aber ich bin sicher, sie wird bald auftauchen. Sie hat tapfer gekämpft.“
„Da bin ich mir sicher. Wenn du sie siehst, dann sag ihr, ich warte hier auf sie. Und jetzt ab mit dir, deine Kameraden werden dich schon vermissen.“
Saphir ging, und der Meister blieb allein zurück mit seinen Gedanken.
Jade. Vor einem Meister sollten all seine Schüler gleich sein. Aber dieses Mädchen, sie hatte sich unbemerkt in sein Herz geschlichen. Das war nicht gut, aber es war nicht zu ändern. Sich selbst zu verleugnen hatte noch nie goldene Früchte getragen. Sie war ihm die liebste, vielleicht, weil sie so anders war als er selbst, und ihm doch viel zu ähnlich.
Er dachte an Jades Hände, die langen, schlanken, zierlichen Finger. Solche Hände hatte er bisher nur bei den begnadetsten Kalligraphen gesehen. Die Hände einer Künstlerin, kein Zweifel. Und auch, wenn sie das Schwert führte... Der Meister selbst sah im Schwert ein Werkzeug, dass den Tod ins Leben schnitt, und er verwendete es wie ein Werkzeug, präzise, effektiv. Jade hingegen, bei ihr wurde daraus ein Tanz, eine Darbietung, für sie war das Schwert ein Instrument, mit dem sie das Leben besang, ein Pinsel, der dem Tod ein wunderschönes Gesicht verlieh. Manchmal fragte er sich, was aus ihr geworden wäre, jetzt werden konnte, in einer anderen Zeit, einer Zeit des Friedens, des Lebens.
Sie war zugleich sein talentiertester Schüler, eifrig, fleißig und wissbegierig, wie auch der denkbar ungeeignetste Krieger, denn sie war kein Killer. Für sie war das töten ein leider unabdingbarer Teil dieser seltsamen Kunst, der sie immer mehr erlag, nicht aber ihr eigentliches Ziel. Und das war gefährlich. Und dann... der Meister schaute auf seine eigenen, faltigen Hände. Wie viele Leben hatten sie ausgelöscht? Mehr als Kerzenflammen. Und mit jedem Leben war auch in ihm etwas gestorben, Stück für Stück, kaum merklich. Dieses Feuer, dass da in Jade brannte, es würde ebenfalls erlischen. Nicht sofort, die Schuld braucht ihre Zeit, um zur Sühne zu werden, aber unausweichlich. Er selbst war zum Töten geboren. Sie war geboren, um zu erschaffen.
Er hatte mehr als einmal versucht, sie zum Aufgeben zu zwingen. Aber dann war vielleicht er der letzte, entscheidende Grund, aus dem sie niemals aufgeben würde. Er hatte es in ihren Augen gesehen, wenn sie ihn anblickte, verstohlen, ehrfürchtig. Vielleicht hatte er deshalb auch versagt, sie vor dem Töten zu retten. Dieser Blick, er hatte ihm selbst ein Stück Leben zurückzugeben.
Die Sonne begann, zu versinken.
Nun waren sicher auch die Priester und Buddler auf dem Feld der Leichen, begruben Freund und Feind, Seite an Seite, im Tode vereint und gleich gemacht. Vor dem Tod waren sie alle gleich.
Der Meister war müde. Es war ein so endlos langer Tag. Vielleicht würde er etwas schlafen, bis Jade kam. Ja, vielleicht. Er hatte es redlich verdient.


III

Daimon legte den Stift beiseite und überflog die Zeilen mit einer gewissen Genugtuung. Dann sagte er, ohne sich umzudrehen:
„Wie lange stehst du da schon?“
Ein erschrockenes aufkeuchen.
„Es... es tut mir leid, ich wollte sie nicht stören. Ich... ich...“
„Ist schon gut.“ Daimon lächelte still vor sich hin. „Magst du es lesen?“
„W-Wenn ich darf?“
Er nahm den engbeschriebenen Bogen Papier und reichte ihn hinter sich, immer noch, ohne sich umzudrehen.
Er stellte sich vor, wie sie mit ihren tiefschwarzen Augen seine Worte verschlang. Wie ihr Gesicht wohl dabei aussah, welchen Ausdruck es trug, und wie er sich wandelte. Er versuchte zu ergründen, was wohl ihre erste Frage sein würde. Aber er drehte sich nicht um. Noch nicht.
„Sie trägt meinen Namen.“
Daimon lächelte, sagte aber nichts.
Ihr Finger gab ein leises flüstern von sich, während er den Zeilen auf dem Papier folgte.
„Ist sie tot?“
„Was denkst Du?“
„Ich will nicht, dass sie stirbt.“ Trotzig, ihre Stimme, aber auch erstaunt.
„Warum nicht?“
„Ich... ich mag sie. Sie hat es verdient, zu leben. Es ist doch meine Geschichte, nicht wahr? Dann soll sie leben.“
„Mädchen, Geschichten sind wie Kinder. Sie sind ein Teil von uns, und wir schenken ihnen das Leben. Aber sie gehören uns nicht, und wir können sie nicht zwingen, etwas zu sein, was sie nicht sind.“
„Aber sie soll nicht sterben. Bitte... sie soll leben.“
Ein Schluchzen, tief aus den Abgründen der Seele. Jetzt erst drehte sich Daimon um, stand auf und nahm das in Tränen aufgelöste Mädchen in die Arme.
„Schhhht, ist ja schon gut. Es wird alles gut.“ Dumme, dumme Worte, banal und nichtssagend. Aber manchmal sind es nicht die Worte, die zählen.
Er nahm sie mit ins Wohnzimmer, setzte sich mit ihr auf die Couch, ließ sie sich an ihm festklammern und strich ihr beruhigend über das Haar. Sie weinte, als ob sich ihr ganzes Leben in Tränen auflöste und davonschwamm. Manchmal sagte sie etwas, von dem er kaum ein Wort verstand, so sehr war es von Schluchzen und Schniefen durchsetzt. Er hielt sie, streichelte ihren Kopf und wiegte sie langsam und gleichmäßig in seinen Armen.
Irgendwann wurde aus dem Schluchzen nur noch ein leises wimmern, und dann ein schweres, tiefes Atmen.
Viel, viel später versiegten auch die Tränen.
Daimon hielt sie noch ein wenig, bis er sicher war, dass sie fest schlief. Dann löste er sich vorsichtig aus ihrer Umklammerung, legte eine schwere Wolldecke über ihren so zerbrechlich wirkenden Körper, und ging zum Fenster.
Es dämmerte bereits.
„Unfassbar“, murmelte er. „Einfach nicht zu fassen.“ Sein Hemd, feucht von den Tränen des Mädchens, klebte klamm an seiner Brust. Er merkte es kaum.
Er sammelte breiten, eisernen Kerzenständer vom Kamin ein und nahm ihn mit in sein Arbeitszimmer. Fast feierlich entzündete er jede der Kerzen, löschte dann das elektrische Licht, und nahm ein neues Blatt Papier zur Hand.
„Zeit für den letzten Akt“, murmelte er, und begann zu schreiben.

„Darf ich?“
„Du bist zurück.“
Sie nickt. „Ich habe es Dir versprochen.“
Er deutet auf den Platz neben sich. Seine ruhigen, tiefgrünen Augen folgen jeder ihrer Bewegungen.
Sie setzt sich, und eine Zeitlang schweigen sie, lassen nur ihre Blicke sprechen und schweifen über das weite Land.
„Du hattest recht“, sagt er, „wirklich eine wunderschöne Aussicht. Es sieht fast so aus, als ob dort hinten die Welt beginnt.“
Sie lächelt, ihr bezauberndes, geheimnisvolles Lächeln. „Ja,“ sagt sie, „und letztendlich tut sie das auch.“
Er nickt, wissend, schaut ihr in die Augen.
„Bald ist es soweit?“ fragt er sie.
„Ja. Bald.“
Er seufzt. „Weißt Du, letztendlich bin ich froh, dass es endlich vorbei ist. Es war ein großes Abenteuer, aber ich schätze, das größte steht mir noch bevor.“
„Hast du Angst?“
„Nein.“ Er zögert. „Hattest Du...?“
„Ein wenig.“ Ihr Blick sucht einen Punkt weit hinten am Horizont. „Es ging alles so schnell. Ich hatte kaum Zeit, Angst zu haben.“
Er starrt in die sterbende Sonne, als hätte er nie etwas faszinierenderes gesehen.
„Es tut mir leid.“ Seine Stimme zittert leicht, und da ist wieder dieser Schatten über seinem Gesicht.
„Was tut dir leid?“
„Ich hätte dich nie dem Töten aussetzen sollen. Kannst du mir verzeihen?“
„Nein.“
Erschrocken wendet er sich ihr zu. Doch Jade lächelt ihn nur an.
„Du suchst Entschuldigung, wo keine Schuld ist. Es war allein meine Entscheidung, und das weißt du genau.“
Er nickt, wenn auch zögerlich.
„Ich frage mich nur, was aus uns geworden wäre, zu einer anderen Zeit.“
Sie lacht, ihr glockenklares Lachen.
„Wir wären uns vielleicht nie begegnet“ sagt sie, und legt ihre Hand auf seine Wange.
„Komm, es wird Zeit. Die anderen warten schon.“
Er seufzt, wirft einen letzten Blick auf das verblassende Licht der Sonne, und die Nacht, welche gnädig ihr Leichentuch über das Land legt.
Ergreift Jades Hand
Und geht mit ihr, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Saphir nahm drei Stufen auf einmal von der in den Stein geschlagenen Treppe, die hinauf führte zum Aussichts-Plateau, dem Lieblingsplatz seines Meisters. Er wusste, wie sehr der Meister Jade verehrte. Jeder wusste das. Er liebte all seine Schüler, keine Frage, aber Jade... sie war ihm nahe gegangen. Und jetzt war sie zurück. Er musste ihm davon berichten. Lieber hätte er noch drei Schlachten durchkämpft, gerne auch gegen eine hundertfach überlegene Armee, als diese Botschaft zu überbringen, aber er hatte den kürzeren gezogen, und so oblag es ihm, den Meister zu informieren. Dann lieber schnell hinter mich bringen, Augen zu und durch, dachte sich Saphir, und beschleunigte seinen Schritt noch mehr.
„Meister... Meister... oh Meister, es ist schrecklich...“ stieß er hervor, kaum oben angekommen, während er gleichzeitig verzweifelt versuchte, Luft zu schnappen.
„Jade... sie haben sie gefunden... und zurückgebracht... sie ist... es tut mir... Meister?“
Sein Meister saß wie so oft an seinem Lieblingsplatz, der eben versunkenen Sonne zugewandt, und zeigte mit keiner Regung, dass er sich der Gegenwart seines laut schnaufenden Schülers bewusst wäre. Das allein war nichts ungewöhnliches, Saphir hatte sich an dieses Spiel gewöhnt.
Der große, dunkle Fleck unter dem Bambusstuhl, in dem der Meister ruhte, hingegen schon.
„Meister!“ schrie er auf, stolperte zu dem alten Mann. Ja, das war Blut, kein Zweifel.
„Meister, bei allen Göttern, was habt ihr.“
Die Robe des Meisters hatte sich dunkel verfärbt vom Blut, die linke Seite war durch einen sauberen Schwerthieb aufgeschlitzt. Die Wunde war nicht sofort tödlich gewesen, aber groß genug, um langsam zu verbluten.
Die Augen des Meisters waren geschlossen. Seinen Mund umspielte ein sanftes Lächeln von fast kindlicher Freude.
Ein langer, langer Tag fand sein Ende.

2003, Daimon Nait
Für Jade, und dem Leben gewidmet.


IV

Jade legte das letzte Blatt auf den kleinen Stapel vor ihr. Er sah, wie sie nach Worten rang.
„Ein Danke genügt vollkommen“, meinte er schmunzelnd.
Ihre Augen glänzten feucht.
„Danke. Sie haben ja keine Ahnung..:“
Er hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten.
„Belassen wir es bei einem Danke, ja?“
Sie saßen wieder in der Küche, bei einem üppigen Frühstück, mit Rührei, frischen Semmeln, Marmelade, Croissants und Kaffee. Eigentlich war es mehr ein Mittagessen, denn Jade hatte weit in den Tag hinein geschlafen.
Sie legte eine Hand auf die handbeschriebenen Blätter, als habe sie Angst, ein Windstoß könnte sie davon wehen.
„Und ich darf sie wirklich behalten?“
„Es ist deine Geschichte. Mach damit, was du willst.“
Sie sah aus dem Fenster, wieder mit dieser ernsten Miene, die den Morgen über kaum zu sehen war.
„Ich muss jetzt gehen“, flüsterte sie.
Sie legte die Blätter in die Mappe zurück, in der Daimon sie ihr überreicht hatte, klemmte sie sich unter den Arm und stand auf.
„Nochmals Danke. Für alles.“
Er nickte, blieb aber sitzen. Für einen endlosen Moment schien das Mädchen nicht zu wissen, was sie jetzt tun sollte, dann drehte sie sich ruckartig um und eilte in Richtung Haustür.
„Eines noch“, rief er ihr nach, als sie schon die Hand nach der Klinke ausstrecke.
Sie erstarrte.
„Ich bin ein alter Mann, und etwas einsam hier oben. Nicht viel Gesellschaft, wahrlich. Du würdest mir eine große Freude machen, wenn Du mich ab und an besuchst, vielleicht so einmal im Monat. Nur, wenn du magst, natürlich.
Sie rührte sich nicht, die Hand immer noch nach der Tür ausgestreckt, den Rücken Daimon zugewandt.
„Ich habe ihnen doch gesagt, dass ich kaum mehr zwei Wochen...“
„Papperlapapp.“ Daimon schnitt ungerührt eines der Croissants der Länge nach durch.
„Das ist mein Ernst.“ Ihre Stimme klang gepresst.
„Ich weiß.“ Er nahm eines der Hälften und begann, es genüsslich mit Butter zu bestreichen. „Die zwei Wochen, da wolltest du noch ein paar Dinge regeln, nicht wahr? Diese Geschichte war eines davon. Und dann Leb wohl, du grausame Welt. Wofür sollte es sich schon zu Leben lohnen, wo das Leben doch auch nur aus Tod und Leid besteht.“
Jade ließ die Hand sinken.
„Woher...?“
„Woher ich das weiß? Mädchen, ich bin weder blind noch senil. Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht, die Menschen und ihre Geschichten zu lesen und zu schreiben. Du bist nicht sterbenskrank. Nicht so. Und sicher nicht unheilbar. Aber das liegt bei dir. Du kannst jetzt durch diese Tür gehen und leb wohl sagen, oder du entsprichst der Bitte eines alten Mannes. Es liegt bei Dir.“
Sie sagte nichts. Stand einfach nur vor der geschlossenen Tür. Daimon konnte erahnen, wie sie mit den Tränen kämpfte. Wenn sie nach dem gestrigen Tag überhaupt noch welche übrig hatte. Etwas in ihm wollte aufstehen, sie packen und schütteln, oder einfach nur festhalten. Stattdessen kleckste er dicke Batzen Marmelade auf das Croissant.
Es war bald mehr Marmelade als Croissant, als er hörte, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss. Und dazwischen, wenn sich seine alten Ohren nicht trogen, ein geflüstertes
„Auf Wiedersehen.“

© 2004 Stefan Brinkmann

 

 

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