Kleines rundes grün leuchtendes Ding

„Schau mal, was ich gefunden habe!“ sagte sie. Mit der unnachahmlichen Begeisterung einer Zwölfjährigen strecke sie ihrem besten Freund auf der Welt die geöffnete Hand entgegen.
Neugierig beäugte er ihren ungewöhnlichen Fund.
„Was ist das?“ fragte er.
„Nun, ich weiß nicht“, gestand sie. „Ein kleines rundes grün leuchtendes Dings.“
„Du bist ja sooo klug“, sagte er spitz. „Das sieht doch jeder, dass das ein kleines rundes grünes leuchtendes Ding ist. Aber was ist es genau? Wofür ist es da? Was kann es, außer zu leuchten?“
Sie war ein Jahr älter als er, was irgendwie cool war. Sie wusste eine Menge, für ein Mädchen. Aber er suchte auch jede Gelegenheit, um sie zu necken. Manchmal konnte sie so überheblich sein, als ob sie klüger wäre als er!
„Ich hab doch gesagt, ich weiß es nicht“, sagte sie und zog ihre makellose Stirn in Falten. „Ich hab so was noch nie gesehen.“
Eine Zeitlang betrachteten sie schweigend das kleine runde Ding auf ihrer Handfläche, wie es in seelenruhiger Gleichmäßigkeit sein grünes Licht in die dunkle Nacht strahlte.
„Gib mal her“, sagte er und hatte schon das kleine runde grün leuchtende Ding wieselflink aus ihrer Hand geklaubt. Wie eine fleischfressende Pflanze, die man mit einem Strohhalm ärgert, schloss sich ihre Hand, aber viel zu langsam, um nichts als Luft. Der Junge derweil beäugte seine Beute neugierig von allen Seiten, drehte das Ding hin und her, ganz dicht vor seinen Augen.
„Da ist gar keine Öffnung“, sagte er schließlich, so feierlich, als müsste man ihn jetzt gleich mit dem Nobelpreis auszeichnen.
„Wieso Öffnung?“ fragte sie. Es ärgerte sie ein wenig, dass er ihr das Ding so einfach hatte klauen können. Aber sie fühlte sich auch irgendwie erleichtert. Es hatte sich seltsam... schwer angefühlt. Nicht nur das Ding in ihrer Hand, sondern auch sie selbst. Jetzt, wo er es hatte, fühlte sie sich befreit und leicht.
„Dummchen“, sagte er. Er nannte sie gerne so, wenn er mehr wusste als sie. „Für die Batterien natürlich. Wie soll es denn leuchten ohne Batterien?“
Dummchen! Sie hasste es, wenn er sie so nannte. „Ach komm, so kleine Batterien gibt es gar nicht“ erwiderte sie. Lauernd lag ihr Blick auf dem Ding.
„Ha! Ich wette, Aliens haben so kleine Batterien. Das ist bestimmt ein außerirdischer Artefakt!“ Den Ausdruck hatte er aus einer Folge von „Raumschiff Enterprise“.
„Oder er ist magisch“, entgegnete sie schnell. Außerirdische, das war Jungskram. „Ein Elfenstein vielleicht.“
Ärgerlich schaute er von dem Ding in seiner Hand auf und in ihre Augen. Wie konnte sie es wagen, seine Theorie in Frage zu stellen? Jeder wusste, dass es Außerirdische gab. Aber Elfen? Pah! Das waren doch nur Märchen!
... seltsam, ihre Augen im grünen Licht des leuchtenden Steines zu sehen. Es war ihm nie aufgefallen, dass auch sie grün waren. Und sehr schön, irgendwie.
Schwupps, hatte sie ihm mit ihren zierlichen Fingern das kleine runde grün leuchtende Ding aus seinem Griff entwunden.
„He!“ sagte er, „gib das zurück!“
„Nix da“ sagte sie. „Das ist meins. Ich habe es gefunden.“
„Aber ich war dabei“, konterte er. „Also gehört es mir auch. Und wir sind doch Freunde. Freunde teilen ALLES!“
Sie hielt die Hand nur locker um den Stein geschlossen, so dass grüne Lichtstrahlen durch ihre Finger in die Dunkelheit glitten. Beide starrten sie gebannt auf das Lichterspiel.
„Na gut“, sagte sie schließlich. „Er gehört uns beiden. Aber ich bewahre ihn auf. Und du musst schwören, dass du keiner Menschenseele was davon erzählst.“
„Ich schwöre“ sagte er feierlich, und legte dabei seine rechte Hand auf die Brust, wie es die Figuren in den Zeichentrickfilmen manchmal machen.
„Ich muss jetzt heim“, sagte sie, und eilte davon. „Du kannst mich ja morgen besuchen“, rief sie noch, „Dann können wir damit spielen.“ Und war auch schon verschwunden in der Tiefe der Nacht.

„Was soll das?“ fragte er, und deutete auf die gepackten Koffer und Taschen vor der Eingangstür.
„Ich verlasse Dich“ sagte sie. Ihre Stimme war so kalt und hart wie Stein.
Er nickte. Es überraschte ihn nicht.
„Wohin?“ fragte er noch, um irgend etwas zu sagen. Um der peinlichen Stille des Augenblicks zu entkommen, die sich zwischen sie geschoben hatte.
Die nie wieder fortgehen würde.
„Zu meiner Mutter, erst mal“, sagte sie. „Und dann... ich weiß es noch nicht. Nur weg von hier.“
Er nickte wieder. Was sonst konnte er tun. Sie anschreien? Sie schlagen? Sie festhalten, einsperren? Aber was für einen Sinn hätte das? Sie war schon lange fort. Genau wie seine Gefühle. Er erinnerte sich, wie er neben ihr aufgewacht war... wie lange mochte das her sein? Ein Leben? Einen Monat? Wie er sie betrachtet hatte, ihr Gesicht, noch im Schlaf gefangen, so unschuldig. Wie das Gesicht eines kleinen Mädchen, dass er einmal gekannt hatte. Und als er sie so ansah, wurde ihm schlagartig klar, dass er nichts mehr für sie empfand. Rein gar nichts. Einfach so.
Im Grunde war er fast schon froh, dass sie ging. Ihre Nähe war ihm in den letzten Wochen fast zu einer Qual geworden, körperlich. Ihre Wärme hatte ihn verbrannt, zunächst. Dann ihre Kälte. Feuer und Eis brennen sehr ähnlich auf der Haut. Sie war nur konsequent, konsequenter als er. Regungslos sah er ihr zu, wie sie den schweren Reiserucksack auf ihren Rücken hievte, die große Tasche schulterte, den Koffer in die linke Hand nahm und mit der rechten die Tür öffnete.
„Warte“ rief er dann doch, als sie schon fast draußen war. „Was ist mit unserem Schatz, unserem Geheimnis? Du weißt schon, dem kleinen runden grün leuchtenden Ding?“
Sie blieb stehen. Wischte sich mit dem Handrücken durch das Gesicht. Tränen? Griff in ihre Jackentasche, holte etwas hervor und warf es, ohne sich umzudrehen, achtlos in seine Richtung.
Es war ein kleiner runder ganz gewöhnlicher Stein.
„Es leuchtet schon lange nicht mehr“, sagte sie noch, „Hat es vielleicht nie.“ Und war auch schon verschwunden im Abgrund der Nacht.

© 2003 Stefan Brinkmann

 

 

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