Pizzajunge

„Bist Du fähig, einen Menschen zu töten?“
Verdammt knifflige Frage, nicht wahr? Und sie wird nicht gerade einfacher, wenn Dir jemand mit einer Knarre auf deinen Kopf zielt. Einer wirklich großen Knarre, die Deinen Schädel zerplatzen lassen kann wie eine überreife Wassermelone. Wovon Du eine ziemlich genaue Vorstellung hast, denn eben gerade bist du Zeuge einer Demonstration geworden. Und Du hast selbst abgedrückt. Ohne es zu wissen, ja, und ohne es zu wollen, aber durch Dich ist ein Mensch gestorben. Und jetzt soll ein zweiter sterben, und alles, was Du denken kannst, ist: Bitte Gott, lass es nicht mich sein.
Scheiße, Mann, Du bist doch nur der verfluchte Pizzalieferant! Wieso muss ausgerechnet Dir so ein verfickter Mist passieren?
Dabei hatte der Tag ganz gut angefangen. Sie haben Jenny endlich nach Hause gelassen. Seit dem Unfall... nur, dass es kein Unfall war, ganz und gar nicht, aber ihr nennt ihn so, alle sagen sie Unfall dazu, außer Jenny, die seit dem Unfall kein Wort gesprochen hat. Drei Tage war sie verschwunden, die süße, kleine Jenny. Es war ihr zwölfter Geburtstag, und sie war mit ein paar Freundinnen zum See gefahren, Schlittschuhlaufen. Und nicht wieder nach Hause gekommen. Am Abend nicht, und auch in der Nacht nicht, und am nächsten Tag, als meine Eltern und ich schon halb wahnsinnig vor Sorge waren, immer noch keine Spur. Die Polizei schickte ihre Suchtrupps los, vergeblich. Deine Mutter schluckte mehr Beruhigungstabletten, als gut für sie war. Und dann, nach drei Tagen, nach drei endlosen, qualvollen, verzweifelten Tagen, finden sie Jenny am Rand einer Landstraße, mehr tot als lebendig. Geschlagen, misshandelt, benutzt und dann weggeworfen wie ein kaputtes Spielzeug. Die Ärzte, sie kämpften die ganze Nacht um ihr Leben, und gewannen knapp. Sie retteten ihren Körper, aber ihre Seele... sie war fort. Da war nur noch diese leere Hülle mit glasigem Blick, wie eine dieser elend teuren Porzellanpuppen. Jenny sagte nichts. Sie weinte nicht. Sie lächelte nicht. Sie lag einfach nur so da, ließ alles über sich ergehen, aß, wenn man sie fütterte, schlief, wenn man das Licht ausmachte. Aber sie sah niemanden an, schien keinen eigenen Willen mehr zu haben, und schwieg. Eine Polizistin versuchte, sie zu dem ‚Unfall’ zu befragen, aber Jenny schien nicht mal zu bemerken, dass sie mit ihr im gleichen Raum war. Oder auch nur im gleichen Universum.
Schließlich entließen sie Jenny nach Hause, zu Euch. Das war vor einer Woche, und heute Morgen, Du bist nicht ganz sicher, aber dir war so, als hätte sie dich angeschaut, als du zur Arbeit aufgebrochen bist, in deinem gelben Pizza-Quick-Outfit. Und war da nicht der Anflug von einem Lächeln? Du hast Dir das sicher nur eingebildet, aber es war ein schöner Gedanke, und er trug Dich durch den Tag wie Engelsflügel.
Bis zu eben dieser Tür, Zimmer 319 in einem dieser anonymen Hochhäuser. Stammkunden von Pizza-Quick. Sehr spendabel, einmal haben sie Dir einen Zwanziger Trinkgeld gegeben, für eine Bestellung, die gerade mal Elffünzig gekostet hatte. Seltsame Kerle, schon, trugen immer schwarze Anzüge, gute Anzüge, feine Qualität, so weit Du das beurteilen kannst, was nicht allzu weit ist. Bei jedem Wetter trugen sie dieses Outfit. Da konnte es 40 Grad im Schatten haben, und diese Kerle lockerten nicht mal die Krawatte oder zogen das Sakko aus. Seltsam, wie gesagt, aber bei so einem Trinkgeld fragst Du die Kundschaft nicht über ihre Marotten aus. Außerdem, es waren Russen, zumindest glaubst Du das, ihrem Akzent nach, und hey, andere Länder, andere Sitten.
Den Pizza-Jungen zum Mörder zu verdingen war allerdings ein Brauch, dem Du nicht so viel abgewinnen konntest.

Du hast angeklopft, wie immer, und eine Stimme sagte: „Komm rein, die Tür ist offen.“ Und da war noch ein anderes Geräusch, ein gedämpfter Laut, wie eine quietschende Tür, die man durch Watte hört. Aber Du hast Dir nichts dabei gedacht, wieso auch, hast nur das Bild von Jenny vor Augen gehabt, wie sie Dich angelächelt hat oder auch nicht, den Türknauf in die eine Hand genommen und mit der anderen die Pizzas balanciert und dann die Tür aufgezogen.
Ein Sektkorken knallt. Das war zumindest Dein erster Gedanke. Dann siehst Du den Kerl, der gegenüber der Tür auf einem Stuhl gefesselt sitzt. Siehst, wie sein Kopf zerplatzt wie eine überreife Melone, und jemand sagt „Scheiße Mann, hättest Du nicht ein kleineres Kaliber nehmen können?“ Du siehst die Pistole neben dem Ort, wo sich eben noch ein menschlicher Kopf befunden hatte. Siehst die Schnur, die um den Auslöser geknotet ist, und mit Zwischenstation durch eine Öse mit genau der Tür verbunden ist, die Du eben geöffnet hast. Zum ersten mal seit Wochen denkst Du nicht an Jenny. Pizzakartons klatschen hohl auf den Teppich. Du willst schreien, aber eine Hand legt sich von hinten um deinen Mund und zerrt Dich in das Zimmer. Etwas kaltes presst sich gegen Deine Schläfe, und Du siehst einen der Anzugträger, links neben der Tür, der mit einer Knarre auf Deinen Kopf zielt, die der Kopfwegpustkanone verdammt ähnlich sieht.
Deine Blase entleert sich, aber das ist nur ein unwesentliches Detail am Rande.
„Hallo, Pizzajunge“, sagt eine Stimme aus dem Off. „Tut mir leid wegen der kleinen Show, aber ich wollte, dass du dir im klaren bist, wie ernst die Situation ist.“ Dann, zu zwei weiteren Muskelbergen in Anzügen: „Räumt das weg. Unser Pizzajunge will sich bestimmt setzen.“
Die zwei Muskelberge packen eine Plastikplane, welche zwischen Todesstuhl und nun Mann ohne Kopf plus Sauerei ausgelegt ist, legen sie zusammen wie ein Tischtuch, auf dem noch Krümmel liegen, die man im Garten abschütteln will, und ziehen sie in einen der Nebenräume. Jetzt wird Dir klar, was die Stimme mit „Setzen“ meint. Du versuchst verzweifelt, den Kopf zu schütteln, aber die Hand über Deinem Mund hält Dich in ihrem Schraubstockartigen Griff. Der Mann, dem diese Hand gehört, zerrt Dich zu dem Todesstuhl und drückt Dich darauf nieder. Nicht, dass Deine Beine sonderlich viel Widerstand leisten. Wenn die Hand Dich nicht halten würde, wärest Du wahrscheinlich längst in Dich zusammengesackt.
Ein neues Gesicht taucht vor Dir auf. Die Stimme aus dem Off, wie Du richtig vermutest. Ein freundliches, rundes Gesicht, schon ziemlich alt und faltig, der klassische nette Onkel aus der Nachbarschaft. Es lächelt Dir freundlich zu.
„Du wirst doch nicht schreien, wenn Ivan seine Hand wegnimmt, oder?“
Du bezweifelst, dass Du noch die Kraft hast, um zu schreien. Vorsichtig versuchst Du, den Kopf zu schütteln. Die Hand erlaubt es Dir.
„Guter Junge.“ Das Gesicht nickte Ivan zu, und die Hand verschwindet.
Du beugst Dich zur Seite, kannst nicht anders, und kotzt Dein Frühstück auf den Teppich.
„Verdammt, Boss, wir hätten die Plane noch liegen lassen sollen“ sagt eine Stimme von hinten, wahrscheinlich Ivan, und wird mit verhaltenem Gelächter honoriert.
„Das war nicht nett, Ivan. Der Junge ist so was nicht gewöhnt. Gebt ihm einen Moment. Lass nur alles raus, Pizzajunge. Ist besser so.“
Du würgst noch eine Weile weiter, selbst als Dein Magen definitiv nichts mehr in sich trägt, von sich geben kann. Dann packt Dich Ivans Schraubstockhand im Nacken und richtet Dich wieder auf. Links und rechts von dem freundlichen Gesicht haben zwei der Anzugträger Stellung bezogen. Sie zielen mit den großen Mündungen genau auf Dein Gesicht.
„Sag mal Pizzajunge,“ sagt die väterliche Stimme im Plauderton, „was denkst du. Bist du fähig, einen Menschen zu töten?“
„W-Was?“ stammelst Du. Eine panische Herde riesiger schwarzer Hengste gallopiert durch Deinen Verstand. Ihre Angst gräbt sich mit jedem Hufschlag tiefer in Dein Gehirn. Es ist schwer, einen klaren Gedanken aus dem Chaos zu fischen. Immer wieder siehst Du den explodierenden Kopf des Fremden vor Dir. Du hast ihn umgebracht. Du wolltest das nicht, aber durch Dein Handeln ist ein Mensch jetzt tot. Was geschieht hier nur? Was für ein gottverdammter Trip ist das?
Das freundliche Onkel-Gesicht lächelt Dich beschwichtigend an.
„Einen Menschen töten. Ganz bewusst. Bist Du dazu fähig?“ wiederholt er geduldig und betont dabei jedes Wort.
„Ich weiß nicht...“ sagst Du, ohne die Frage wirklich zu verstehen. Die Hufe der schwarzen Hengste sprengen mit jedem Schlag Gedankenfetzen nach oben. „Bitte. Tun sie mir nichts.“ Du wimmerst. Flehst um Dein Leben. Und dann, ein Gedanke, Glasklar in dem wilden, schwarzen Chaos. „Jenny. Sie braucht mich doch.“
Als ob diese Männer wissen, wer Jenny ist. Oder sich einen Dreck darum scheren. Etwas steigt in Dir auf, Wut, nur ein Funke in all der Todesangst, aber es hilft. Du versuchst mit aller Kraft, Dich an dieses Gefühl zu klammern.
Der freundliche Onkel-Boss streicht Dir mit der Rückseite seiner Hand über die Wange. Eine Berührung, die wohl beruhigend wirken soll, in Dir aber nur Ekel und Abscheu hervor ruft.
„Nicht doch,“ sagt er mit dieser freundlich, schmeichelnden Stimme, „wir wollen Dir nichts tun. Ganz im Gegenteil, mein Junge. Wir wollen Dir helfen. Dir und Jenny, und allen Jennys dieser Welt.“
Das geht zu weit! „Lassen sie Jenny aus dem Spiel!“ Du versuchst zu brüllen, bringst aber nicht mehr als ein Flüstern hervor. „Sie wissen nichts. Nichts!“
Der Boss seufzt und zieht seine Hand zurück. Dann nickt er Ivan zu.
Panik steigt in Dir auf, droht die kleine Flamme der Wut zu ersticken. Ivan wird Dich jetzt packen, mit seinen riesigen Pranken deinen Kopf einklemmen, und ein kleiner Ruck, ein knirschendes Geräusch, das Du vielleicht gar nicht mehr hörst...
Aber Ivan packt Dich nicht. Er hält Dir einen Vortrag. Mit der rationalen Stimme eines Nachrichtensprechers. „Jenny wurde am zehnten November entführt“ beginnt er, und dann leiert er emotionslos ihre Leidensgeschichte herunter. Mit allen Details, jeder Abartigkeit, die ihr zugefügt wurde. Seine Stimme vermischt sich in Deinen Gedanken mit der des Arztes, der Euch und der Polizei anhand ihrer Verletzungen den wahrscheinlichen Tathergang schilderte, gespickt mit medizinischen Fachbegriffen, die Ivan allerdings weglässt. Er berichtet weit bildlicher. „Sie schreit, und seine Faust schlägt ihr auf den Mund, immer und immer wieder, um sie still zu kriegen. Er bricht ihr ein halbes Dutzend Zähle aus, aber das interessiert ihn nicht. Es macht ihm sogar Spaß, sie zu zerstören. Stück für Stück macht er alles kaputt, was sie ausmacht. Ihren Körper. Ihren Geist. Er will alles brechen, nicht nur die Zähne.“
Und so geht es weiter, während Deine kleine Flamme der Wut sich zu einem wahren Inferno ausbreitet und die Angst rot glühend verzehrt. „Aufhören“, flüsterst Du. „Aufhören!“ schreist Du. Aber Ivan erzählt weiter. Unbarmherzig kalt, wie die Täter das Bündel, das einmal Jenny war, die lebensfrohe, immer gut gelaunte und freche Jenny, in den Straßengraben werfen, wie man ein kaputtes Spielzeug einfach wegwirft. Du verstehst das nicht. Woher wissen sie das alles? Warum tun sie Dir das an? Die Hufe der schwarzen Pferde brennen und setzen alles unter Feuer, was sie berühren. Tränen fließen über dein verzerrtes Gesicht. Du bemerkst es kaum, so wenig wie Deinen feuchten Schritt oder den Geruch des Todes, der immer noch im Zimmer hängt.
Endlich beendet Ivan seinen Bericht, und das faltige Gesicht taucht wieder vor Dir auf. „Und, Junge, was ist nun? Bist Du fähig, einen Menschen zu töten? Einen Menschen wie dieses Schwein, das Deiner Jenny all das angetan hat?“
„Ja!“, brüllst Du unter Tränen. Und das ist die Wahrheit. Wenn sie Dir jetzt eine Waffe geben würden und auf jemanden zeigen, der Jenny das angetan hat, Du würdest abdrücken. Ohne zu zögern.
Das Onkel-Gesicht nickt Dir zufrieden zu. Wie auf Kommando kommt einer der Anzugträger, die bis eben noch mit ihren Waffen auf Dich gezielt haben, auf Dich zu und legt einen Umschlag auf den kleinen Fernsehtisch vor Dir.
„Dann bist Du einer von uns“ sagt der Boss. „Wir hassen diese Monster genau wie du. Monster wie diese haben meine Tochter, mein kleines Mädchen...“ Er stockt. Und schluckt. Sein Gesicht sieht noch älter aus als zuvor. Der Mann mit dem Umschlag legt ihm die Hand auf die Schulter. Aber der alte Mann streift sie wieder ab. Sein Gesicht ist jetzt nicht mehr freundlich.
„Sie haben bezahlt. Das haben sie. Mit ihrem Leben.“ Er deutet auf den Umschlag. „Und Dir, Pizzajunge, wollen wir die gleiche Chance geben. Da drinnen sind die Antworten auf all Deine Fragen.“
Du starrst auf den Umschlag, wie die Maus in den Rachen der Schlange. Wie in Zeitlupe nimmst Du ihn vom Tisch und öffnest ihn. Deine Hände zittern, als Du hineingreifst und ein Foto herausziehst.
Es zeigt zwei Männer, die einen kleinen, nackten Körper aus dem Wagen zerren. Es ist die Stelle, an der Jenny gefunden wurde. Und einer der Männer...
... es ist das Gesicht, dass sich unauslöschbar in Deinen Verstand gebrannt hat. Du hast es nur den Bruchteil einer Sekunde gesehen, aber das war genug, um es nie wieder zu vergessen. Es ist der Mann, der vor ein paar Minuten auf diesem Stuhl seinen Kopf eingebüßt hat.
Ungläubig starrst Du auf das schreckliche Bild, dann auf den alten Mann vor Dir, dann wieder auf das Bild. Das ganze ist verrückt, total krank, aber auf eine perverse Art und Weise macht es langsam Sinn. Schließlich deutest Du auf das zweite Monster in Menschengestalt auf dem Foto. Seine Hand, die Jennys Kragen gepackt hält, ist noch blutig von den Schlägen. An einem der Finger steckt ein großer, schwerer Goldring. Du erinnerst Dich an Jennys Gesicht, kurz noch dem Unfall. An die Furchen, die dieser Ring hineingegraben hat.
„Wer ist das?“ fragst Du, und Deine Stimme ist jetzt ruhig und kalt. Aber du weißt es schon. Du kennst diesen Mann. Seit einem Jahr liefest Du Pizzas aus, und er ist einer Deiner Stammkunden. Unten im Wagen liegt eine Pizza Speziale, mit extra Peperoni. Dieser Mann steht als nächstes auf Deiner Lieferliste.

Die nächsten zwanzig Minuten sind ziemlich verschwommen. Die Männer in den feinen Anzügen erschießen Dich nicht. Im Gegenteil, sie sind sehr freundlich zu Dir. Einer drückt Dir ein kleines Fläschchen in die Hand. Ivan, glaubst Du. „Pass auf, dass Du nichts davon auf die Finger bekommst“ sagt er und zwinkert Dir zu. Das freundliche Gesicht sagt etwas von Geld, für Jennys Genesung, nur die beste Behandlung und all das. Du musst nur die Pizza ausliefern, und kurz davor den Inhalt des Fläschchens der Speziale-Mischung hinzufügen. „Es wird ihn lähmen“, erklärt Dir das freundliche alte Gesicht, „er wird sich nicht mehr bewegen können, und dann werden seine Lungen versagen, ganz langsam. Ist wie ertrinken.“ Er sagt es im Plauderton, aber seine Augen sind sehr ernst. Du fragst kleinlaut, was Du machen sollst, wenn Du selbst was von dem Zeug abbekommst, und der freundliche Onkel zeigt dir ein kleines schwarzes Lederetui, in dem drei Phiolen mit einer leicht bläulichen Flüssigkeit und eine Spritze eingebettet sind. „Dann solltest Du Dir schnell eine davon in die Vene spritzen, mein Junge. Du weiß, wie das geht?“
Du nickst schwach, und sie stecken Dir so ein Etui in Deine Pizza-Quick-Jacke.
Dann geben sie Dir eine neue Hose, die Dir etwas zu groß ist, und schwarz und so gar nicht passen mag zu dem gelben Pizza-Quick-Shirt. „Du kannst schlecht mit vollgepisster Hose Pizzas austragen“, sagt Ivan, und Du ziehst sie wortlos an. Mit einem „Guter Junge“ schieben sie Dich aus der Tür. Und da stehst Du, kannst nicht fassen, dass Du noch lebst, stehst einfach nur da, schwankst von einem Fuß auf den anderen und versuchst, Deine Gedanken auf die Reihe zu bekommen. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Irgendwie gelangst Du wieder in Dein Auto und setzt Deine Tour fort. Es ist ein gottverdammtes Wunder, dass Du keinen Unfall baust. Alles scheint verschwommen. Die Lichter der Straßenlaternen ziehen lange, leuchtende Striche in den schwarzen Nachthimmel. Du siehst das Foto vor Dir, das Bild mit den zwei Monstern und der geschändeten Jenny, und versuchst verzweifelt zu verdrängen, was Du gleich tun sollst. Und mit wem. Vor allem, mit wem.
„Ich liefere nur eine Pizza aus“, flüsterst Du und reißt das Steuer rum, um Deinen Wagen wieder auf die richtige Fahrbahnseite zu bugsieren. „Liefere nur eine Pizza aus.“ Vor Deinem inneren Auge zerplatzt immer wieder der Kopf des anderen Monsters, in einer grotesken Endlosschleife. „Nur eine Pizza“, und dann, oh Wunder, bist Du wirklich da, hälst vor dem Haus, ein kleines, gemütliches Haus für eine kleine, gemütliche Familie. Es sieht nicht aus wie das Haus eines Monsters, aber das wäre auch zu einfach, nicht wahr? Monster sind nicht leicht zu erkennen. No, Sir, sie verstecken sich, verkleiden sich als gute Menschen, manchmal sogar als Monsterjäger. Du schüttelst den Kopf, vielleicht zum hundertsten Mal an diesem Abend. Die Welt verwischt kurz und kehrt dann gnadenlos klar zurück. Kein Verneinen. Kein Entkommen.
Du starrst auf das kleine Fläschchen in Deiner Hand, dann auf den Karton mit der Pizza neben Dir. Ist die letzte in Deiner Schicht. Die digitale Uhr auf dem Amaturenbrett blinkt Dir ein 11:32 entgegen. Showdown um Mitternacht wäre passender, denkst Du Dir, und kicherst. Gleich darauf reißt Du die Autotür auf und erbrichst ein klägliches Pfützchen Galle auf den Randstein.
So geht das nicht.
Du lehnst Dich zurück und atmest tief durch. Einmal. Zweimal. Dreimal. Die Welt hört auf, wie hinter Wasser hin und her zu wabern. Reiß Dich zusammen, sagst Du Dir, und denkst an das Foto. Er hat Jenny das angetan. Und er wird damit durchkommen, wenn Du nichts dagegen tust. Es ist nur gerecht. Nur gerecht.
Du öffnest den Pappkarton. Der Duft der bestenfalls lauwarmen Speziale lässt Dich wieder würgen, aber Du reißt Dich zusammen. Vorsichtig, ganz vorsichtig öffnest Du das Fläschchen. Sie hätten Dir Handschuhe mitgeben sollen, wenn das Zeug wirklich so gefährlich ist, aber jetzt ist das auch schon egal. Behutsam tröpfelst Du die Hälfte des Inhalts auf die Pizza. Deine Hand zittert dabei nur ganz leicht.
Irgendwer hat Dir mal gesagt: „Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen“, und das stimmt. Nachdem Du die Pizza wahrhaft speziale gemacht hast (wieder dieses Kichern aus Deinem Mund, wie von einem Fremden), ist der Rest gar nicht so schwer. Du schnappst Dir den Karton, wie Du es schon so oft getan hast die letzten Monate, gehst Du durch das kleine Gartentor, über die runden Steinplatten, die den Weg zur Haustür markieren, und klingelst. Kurz, Du machst das, was Du immer tust. Du lieferst eine gottverdammte Pizza.
Keine Reaktion zuerst, und Du denkst, vielleicht ist er schon schlafen gegangen. Du bist zu spät, deutlich zu spät, und vielleicht hatte er das Warten satt, oder ist vor dem Fernseher eingenickt. Der Gedanke erleichtert Dich, und er macht Dich wütend, beides zu gleichen Teilen. Du willst das nicht tun, aber Du musst, Du MUSST! Für Jenny. Die süße, kleine, immer fröhliche Jenny, die jetzt in ihrem Zimmer liegt und die Decke anstarrt mit leeren, glasigen Augen. Deine Hand wandert ein zweites mal in Richtung Klingelknopf, als auch schon Licht durch das kleine Fenster neben der Tür fällt. Die Tür öffnet sich, und er steht vor Dir. Schaut Dich mit wachen, berechnenden Augen an. Augen, die kalt geblieben sind, ohne Mitleid, als Jenny ihn angefleht hat, ihr nichts zu tun. Du kannst es fast vor Dir sehen.
„Du bist spät“, sagt er ruhig und lächelt leicht. Der Drang, ihm dieses Lächeln aus dem Gesicht zu prügeln, ist übermächtig. Stattdessen sagst Du: „Tut mir leid, Reifenpanne. Für die Pizza müssen sie natürlich nicht zahlen, die geht aufs Haus, ist sogar noch halbwegs warm...“
„Wie geht es Jenny?“ Er verzieht keine Miene, als er das fragt. Jedesmal fragt er Dich das, und warum auch nicht, er bearbeitet schließlich den Fall, ist nur ein Polizist, der etwas Mitgefühl zeigt. Der Bastard! Wie konntest Du nur so blind sein. Was musste es ihm eine perverse Freude gemacht haben, von ihren Leiden zu hören, und Du Idiot hast ihm freimütig davon erzählt, hast ihm Dein Herz ausgeschüttet, ja, bist sogar manchmal nach der letzten Lieferung noch mit ihm in seinem kleinen Wohnzimmer gesessen. Er lebt allein, geschieden, sagte er, seine Frau habe ihn verlassen, und seine Tochter, sie sei tot, aber darüber spricht er nicht gerne. Mein Gott, kommt es Dir in den Sinn, hat er sie etwa auch...? Hat seine Frau ihn deshalb verlassen?
Du merkst, wie er Dich komisch anschaut, fast besorgt. Merkt er etwas? Du siehst bestimmt schrecklich aus, und die Gedanken, die in Deinem Kopf Ping-Pong spielen, machen es sicher nicht besser. Reiß Dich gottverdammtnochmal zusammen. Du schluckst, und murmelst etwas von wegen ja, es gehe ihr den Umständen entsprechend ganz gut, reichst ihm die Pizza, drängst sie ihm regelrecht auf. Deine Beine fühlen sich an wie Gummistelzen. Du packst das nicht viel länger. Du musst hier weg.
„Junge, Du schwankst ja. Alles in Ordung?“
„Ja doch“, sagst Du, etwas zu hektisch. „Hören sie, ich muss weiter, ich...“ muss noch Pizzas ausliefern, willst Du sagen, aber zögerst im letzten Moment. Seine Lieferung ist immer die letzte, das weiß er, seit dem Unfall hast Du es so eingerichtet, um noch ein wenig mit ihm zu reden. Er war immer so nett, und Du wolltest alles wissen, über die Ermittlungen, ob es etwas Neues gibt, all das. Und mit ihm konntest Du über die ganze Sache reden, als einzigem. Deine Eltern, sie waren wie Jenny, wenn es um den Unfall ging, genauso stumm und leer und unnahbar. Und Deine Freunde, Gott, sie verstanden nichts. Sie wollten es, aber wie konnten sie? „Das schlimmste, was du einem Menschen antun kannst, dem du alles genommen hast, ist, ihm etwas Zerbrochenes zurückzugeben.“ Das stand in einem Roman von Stephen R. Donaldson. So etwas verstand man nur, wenn man es selbst erlebt hatte, und dieser Mann, er schien es wirklich zu begreifen. Ihr hattet geredet, die erste Nacht drei Stunden. Es hatte sich so gut angefühlt. Zum ersten Mal seit dem Unfall hattest Du das Gefühl gehabt, nicht mehr zu ertrinken.
[I]und dann werden seine Lungen versagen, ganz langsam. Ist wie ertrinken [/I]flüstert die Stimme des Onkel-Gesichts in Deinem Kopf. [I]Er hat Dir nur zugehört, weil er wissen wollte, ob Jenny ihm noch gefährlich werden kann. Denk nach, Pizzajunge. Es war sicher nicht geplant, dass sie überlebt. Schlampige Arbeit. Jetzt muss er sicher gehen, dass sie nicht plötzlich auspackt, von dem netten Polizisten petzt, der auf einmal gar nicht mehr so nett war, nachdem er sie in sein Auto gelockt hatte. [/I]
Dein Zögern war etwas zu lang.
„Papperlapapp“, sagt das Monster und schiebt Dich sanft, aber mit Nachdruck, über die Türschwelle. „Du bist käseweiß, Junge, so kann ich Dich nicht fahren lassen. Setz Dich kurz und trink ein Schluck Cola. Oder willst Du was anderes?“
Hinter Dir fällt krachend die Tür ins Schloss.
Da steht er vor Dir, schaut Dich an, immer noch lächelnd, immer noch mit diesem forschenden Blick. Er spürt, dass etwas nicht stimmt, da bist Du Dir sicher. Sieht es in seinen Augen. Die Panik kommt zurück wie eine riesige Welle, droht Dich unter sich zu begraben, den letzten Rest Deines Verstandes mit sich zu reißen. Würdest Du die Tür aufreißen und wegrennen. Und was dann? Vielleicht würde er Dir kopfschüttelnd nachschauen, sich kurz wundern, es sich dann gemütlich machen und die Pizza vorm Fernseher futtern, um dann mitten in Akte X qualvoll zu krepieren. Das war ein schönes Bild... aber dieser Blick, dieser misstrauische Blick. Wenn Du jetzt das Weite suchst, dann riecht er Lunte. Was, wenn er Pizza Pizza sein lässt und sich stattdessen aufmacht, das zu beenden, was er mit Jenny angefangen hat? Nein, Du kannst nicht weg. Du musst das durchstehen.
„Cola wäre nett“, hörst Du Dich sagen, von sehr, sehr weit weg. Wie in Trance folgst Du ihm ins Wohnzimmer.
Er geht in die Küche, gleich nebenan. Legt den Pizzakarton auf die Durchreiche. „Setz Dich doch“, sagt er im Plauderton, während er den Pappdeckel hochhebt. „Auch ein Stück?“
Du setzt Dich auf die Couch neben den niedrigen Fernsehtisch und lächelst verquält. „Nein danke, sie wissen doch, ich kann Pizza auf den Tod nicht ausstehen.“
Und da ist es wieder, dieses irre Kichern, was sich durch Deine Kehle pressen will. Auf den Tod nicht ausstehen! Was für ein Killerjoke!
Du beugst Dich vor, um aus dem Blickfeld des Monsters zu kommen, und beißt mit aller Kraft in die geballte Faust, um nicht laut loszulachen.
Aus der Küche hörst Du das glucksende Geräusch der Cola, die in ein Glas gefüllt wird.
„Sieh an, sie ist sogar noch lauwarm.“
Du schaust auf, und da steht er, vor der Mörderpizza, den Zeigefinger mitten in den Käse gepresst.
„Wirklich alles in Ordung mit Dir?“ fragt er, und hebt den Finger zum Mund. „Du bist käsebleich.“
Er leckt den Finger ab. Eine kleine, so furchtbar normale Geste, mit der er das erste bisschen Gift in sich aufnimmt. Wenn Dein Magen auch nur die geringsten Reserven gehabt hätte, Du hättest ihm mitten auf den schmucklosen Fernsehtisch gekotzt.
Ob das reicht, fragst Du Dich. War es das schon?
Er kommt zu Dir, stellt Cola und Pizza auf dem Tisch ab. Sein Gesichtsausdruck heuchelt echte Besorgnis.
„War ein langer Tag“ murmelst Du, und greifst nach der Cola. Das letzte, was Du jetzt tun willst, ist diese klebrige braune Brühe zu trinken, aber es erspart Dir, ihm in die Augen zu sehen.
Unschlüssig bleibt er vor Dir stehen.
„Hör zu, Junge, ich wollte mit Dir über etwas reden. Wir haben eine neue Spur, was Jennys Fall angeht. Aber das hat auch bis morgen Zeit. Wollte Deine Eltern eh aufs Revier bestellen...“
Du setzt das Glas wieder ab. „Mir geht’s gut. Ehrlich. Alles in Ordnung“, sagst Du, eine Spur zu hektisch. [I]Laber nicht rum, setzt dich endlich hin und iss die gottverdammte Pizza[/I], schreist Du ihn in Gedanken an. Irgendwie gelingt es Dir, ein Lächeln auf deine Lippen zu quälen. Sicher kein sehr überzeugendes, aber es scheint dem Schwein zu reichen. Er nickt und greift sich eine Akte von dem kleinen Telefontischchen neben der Treppe.
Was für ein Kunststück soll das jetzt werden? Neue Erkenntnisse? Hah! Der Kerl hat doch alle Erkenntnisse, die es nur geben kann. Er hatte Jennys Gesicht eigenhändig zerstört, und ihre Seele, und alles, alles, was sie ausmachte. Was für ein krankes Spiel ist das eigentlich? Vielleicht will es Dich testen? Rausfinden, was Du weißt?
Deine Kehle ist schmerzhaft trocken. Wie gebannt starrst Du die braune Akte an. Gott, mach, dass es endlich vorbei ist. Mach, dass er endlich die Pizza isst und verreckt. Du hältst das alles nicht mehr viel länger durch.
Aber die Pizza scheint für den Moment vergessen. Das Monster ist in seine gefälschten Spuren vertieft, blättert gedankenverloren durch die Papiere.
„Ah, hier“, sagt er und zieht ein Blatt aus der Akte. „Die Spurensicherung hat die Verletzungen in Jennys Gesicht mit anderen Fällen verglichen. Der Täter trug scheinbar einen Ring, mit zwei scharfen Kanten. Die Schnitte passen zu einer anderen Sache, die ich schon seit einem Jahr verfolge. Mehrere Kinder, die entführt wurden und dann...“ er schluckt, und wischt sich mit dem Arm über die Stirn. Eine dicke Schweißperle rinnt seine Wange hinab wie eine einzelne Träne.
„... ein paar der Kinderleichen, die wir gefunden haben, hatten ähnliche Schnitte im Gesicht. Wir haben einen russischen Kinderpornoring im Verdacht. Noch nichts konkretes, leider, bisher beruht alles auf Indizien und Vermutungen. Jennys Fall passt in das Schema. Seltsam ist nur, dass sie Jenny am Leben gelassen haben.“
Wie in Trance greifst Du nach dem Colaglas und nippst daran. Das klebrige Süß liegt zäh wie Gelee in deinem Mund. Deine Gedanken rasen, versuchen das, was Du da gerade gehört hast, einzuordnen, ihm einen Sinn zu geben.
Der Ring! Der Ring auf dem Foto, an der blutigen Hand. Du siehst ihn ganz deutlich vor Dir. Ein schwerer, goldener Ring, an einer großen, brutalen Hand. Er hatte fast zierlich gewirkt an dieser Pranke, die viel größer war als die Deines Gegenübers. So groß wie die Hand, die Dich vor knapp einer Stunde von hinten gepackt und auf den Stuhl gedrückt hatte...
Du schluckst.
Großer Fehler. Dein Magen ist gar nicht begeistert von dem süßen Nass und schickt es postwendend zurück. Alteingeübte Reflexe übernehmen, lassen Dich aufspringen und den Gang hinunter ins Bad rennen, während sich die Galle schon in Deinem Mund sammelt. Du schaffst er gerade so bis zur Kloschüssel.
Alles bricht aus Dir heraus. Die Galle, ein erstickter Schrei, die Erkenntnis, was für ein Riesentrottel Du bist. Die haben Dich benutzt. Die Kerle, die Jenny das angetan haben. Nur, um Dich zu ihrem Werkzeug zu machen. Sie hatten das von Anfang an geplant. Den Polizisten loswerden, und Dich zum Sündenbock machen. Der Ring, Ivans Ring, da bist Du Dir sicher, haben sie bestimmt irgendwo platziert, vielleicht in Deiner Pizzahose. Der durchgedrehte Pizzajunge, der kleine Mädchen killt, sich am Ende sogar an seiner eigenen Schwester vergeht, und dann den Polizisten vergiftet, der ihm auf die Spur gekommen ist. Und so, wie das ganze aussieht, werden die Russen Dich kaum dazu kommen lassen, Deine Version zu erzählen. Wahrscheinlich wartet Ivan oder ein anderer Gorilla draußen schon auf Dich...
Kraftlos und leise wimmernd sinkst Du neben der Kloschüssel auf den gefliesten Boden.
„Was ist los, Junge? Alles...“
Etwas fällt im Gang laut polternd zu Boden.
Oh Gott. Der Polizist! Wenn er von der Pizza gegessen hat...
Irgendwie bringt Dich der Gedanke wieder auf die Beine. Du stürzt aus dem Bad und stolperst fast über den Körper, der regungslos vor der Tür liegt.
Nein! Nein, nein, NEIN! Du rast ins Wohnzimmer. Die Pizza, Gott, lass ihn nicht...
Aber die Pizza liegt immer noch unberührt im Karton.
Der Finger, wie es sich in den Käse bohrt und danach im Mund des Polizisten verschwindet. Nein, bitte, das kann nicht...
Ein Stöhnen dringt aus dem Gang hinter Dir.
Du machst auf dem Absatz kehrt und eilst zurück zum Polizisten. Ja! Er bewegt sich, ein wenig, versucht sich aufzurichten. Ohne Erfolg, nicht mal im Ansatz, aber er lebt noch.
Noch.
Das Gegengift! Sie haben Dir doch so ein Etui mit dem Gegengift zugesteckt. Panisch durchsuchst Du die Taschen Deiner Pizza-Quick-Jacke, und ja, da ist es! Du willst es rausziehen, aber eine Ecke verhakt sich, es gleitet Dir aus den Fingern und fällt zu Boden.
Du erstarrst.
Kein Klirren. Lass es heil sein, betest Du und gehst vor dem Etui in die Knie. Vorsichtig hebst Du es auf und öffnest es mit zitternden Fingern.
Keine Scherben. Keine zerbrochenen Phiolen. Gar keine Phiolen, um genau zu sein, und auch keine Spritze. Nichts. Nichts! Rein gar nichts. Das Scheißteil ist leer!
Natürlich ist es leer, sagt eine seltsam kalte Stimme in Deinem Hinterkopf. Bist Du echt so blöde, dass Du ernsthaft glaubst, die geben Dir ein Gegengift mit? Damit Du zurück kannst, wenn Du Zweifel kriegst? Das war doch nur eine Finte, um Dich in Sicherheit zu wiegen.
Aber Du hast es doch gesehen, hast die Phiolen gesehen. Es GIBT ein Gegengift. Muss es geben.
Ja, sagt die kalte Stimme, aber Du hast es nicht, sondern die. Also, was nun?
Ein Krankenwagen! Du musst sofort den Notruf alarmieren. Nur, reicht das? Du hast ja keine Ahnung, womit Du ihn vergiftet hast. Aber warte, warte mal, Du hast noch die Hälfte von dem Gift übrig, und Du weißt, was es bewirken soll. Vielleicht ist das genug, um das Gegengift rauszufinden.
Du ziehst das kleine Glasfläschchen aus Deiner Innentasche. Kalt und glatt liegt es in Deinen zitternden Händen. Das gottverdammte Gift.
Du starrst auf die klare Flüssigkeit. Unfassbar, wie schnell diese kleine Menge den Polizisten Schachmatt gesetzt hat. Selbst, wenn der Krankenwagen schon hier wäre, glaubst Du kaum, dass sie schnell genug ein Gegenmittel beschaffen könnten. Und draußen warten mit Sicherheit die wahren Monster. Wenn die Blaulichter anrücken sehen, sind sie verschwunden, auf nimmer wiedersehen. Die haben bestimmt einen Notfallplan, wenn ihr Pizzajunge nicht nach ihren Regeln spielt. Und da ist immer noch Jenny, die kleine, unschuldige Jenny. Du bist durch all das hier gegangen, um sie zu beschützen. Wenn diese Kerle entkommen, dann ist ihr Leben auf ewig in Gefahr.
Das kannst Du nicht zulassen, sagt die kalte Stimme, und sie hat recht. Und noch etwas flüstert sie Dir zu. Die Chance, wenn auch verschwindend klein, den Polizisten doch noch zu retten.
Eine seltsame Ruhe erfasst Dich. Und ein Plan, ein vollkommen verrückter Plan, baut sich Stück für Stück in Deinem Kopf zusammen. Kein sehr realistischer Plan, aber, mal ehrlich, Du hast eh nicht mehr viel zu verlieren.
Du wirst einen letzten Blick auf den Polizisten und machst Dich an die Arbeit.

Ein paar Minuten später verlässt Du das Haus. Eine Hand hält etwas unter Deiner Jacke versteckt, die andere steckt tief in Deiner Tasche.
Vor dem Gartentor bleibst Du stehen und schaust Dich um. Das ist verrückt, vollkommen verrückt. Vielleicht ist Deine Phantasie mit Dir durchgegangen. Deine Mutter sagt immer, Du schaust zu viele Filme...
Ein Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern kommt langsam die dunkle Straße entlang. Also doch. Es hält neben Dir, und die Beifahrertür wird aufgestoßen.
Ivan und die Mündung eines Schalldämpfers grinsen Dir entgegen.
„Steig ein, Pizzajunge“, sagt er freundlich, aber bestimmt.
Du folgst seinem Befehl, was gar nicht so einfach ist, ohne die Hände zu benutzen. Aber wenn Dein Plan gelingen will, darf Ivan nicht zu früh Verdacht schöpfen.
Du windest Dich in den Sitz und starrst regungslos in Ivans Mündung.
„Mach die Tür zu“ befielt er barsch.
Du ziehst die Hand aus der Jackentasche und tust, was er sagt. Du hoffst nur, dass Dein Körper die Hand dabei gut genug verdeckt.
Ivan nickt zufrieden. „Und,“ fragt er, „alles glatt gegangen.“
Du deutest mit dem Kinn auf die Waffe. „Muss das sein?“
„Bin ein vorsichtiger Mensch“, sagt er, lässt die Mündung aber ein wenig sinken. Jetzt zeigt sie auf Deine tieferen Regionen, was nicht wirklich eine Verbesserung ist. „Also, was jetzt, ist das Schwein tot?“
Du nickst.
„Hat ja ziemlich lange gedauert“ stellt Ivan fest. Die Mündung wandert wieder etwas höher.
„Ich, ich...“ stotterst Du. Schluckst einmal kräftig. „Ich wollte keinen Verdacht erregen. Und ich hab was, das dürfte Euch interessieren.“
Lass die Bösen Jungs so neugierig sein wie im Kino, betest Du stumm.
„Ja?“ fragt Ivan, mäßig interessiert. „Was denn?“
„Eine Akte.“ Du ziehst die Hand unter der Jacke hervor.
Die Mündung schnellt nach oben.
„Langsam, Junge. Ganz langsam.“
So vorsichtig wie möglich holst Du die Akte ins Freie.
„Was steht da drin“, fragt Ivan.
Du zuckst die Schultern. „Weiß nicht“, sagst Du so tonlos wie möglich. „Die lag auf dem Tisch. Ich glaube, die wollte er mir zeigen.“
„Und Du hast nicht reingeschaut?“ fragt Ivan höhnisch.
„Doch, klar.“ Du öffnest den Pappdeckel. „Aber das sind nur so komische Berichte. Irgendwas von Verletzungen mit einem Ring, in Jennys Gesicht...“ Du lässt Deine Stimme abbrechen.
„Zeig her.“ Ivan reißt Dir die Akte aus der Hand. Die Pistole immer noch auf Dich gerichtet, wandert sein Blick zwischen Dir und dem obersten Blatt hin und her.
Er bleibt an Deiner nun leeren Hand hängen.
„Wieso hast Du Küchenhandschuhe an?“
Verdammt. Du hast gehofft, der Frage zu entkommen.
„Ich wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen. Hab alles abgewischt, was ich angefasst habe, und dann die Handschuhe übergezogen, um den Puls an dem Scheißkerl zu fühlen. Um nix zu hinterlassen, was weiß ich, ’n Abdruck, oder DNA, oder so was.“
Das ist eine selten dämliche Story, aber hey, sie halten Dich ja auch für einen selten dämlichen Jungen.
Ivan lacht laut auf. „Kluger Junge“, meint er herablassend, und widmet sich wieder der Akte. Mit der freien Hand versucht er, zur nächsten Seite umzublättern. Doch die Seiten kleben scheinbar aneinander. Natürlich tun sie das. Du hast etwas Klebestift auf die Ecken geschmiert. Nicht viel, nur gerade so viel, dass die Seiten sich nicht so leicht voneinander lösen konnten.
Alles hängt jetzt von Ivans Reaktion ab.
Der Kinderschänder murmelt etwas Verärgertes auf Russisch. Feuchtet dann den Finger mit der Zunge an, wie es so viele Menschen tun, wenn sie durch widerspenstige Seiten blättern.
Du schaffst es gerade so, Dir ein Grinsen zu verkneifen. Mit versteinerter Mine schaust Du zu, wie der Russe durch die Akte blättert, und wie sein Finger noch ein halbes Dutzend Mal zum Mund wandert.
Schließlich wirft er die Akte verächtlich auf den Rücksitz und widmet Dir wieder seine ganze Aufmerksamkeit.
„Gut gemacht, Pizzajunge. Aus Dir hätte echt was werden können.“
Seine Waffe wandert wieder nach oben. Aber das bemerkst Du kaum. Du starrst vielmehr auf Ivans Stirn. Dort funkeln dicke Schweißperlen im matten Licht der Straßenlaternen.
„Kennen sie den Film ‚Im Namen der Rose?’“ fragst Du, und jetzt endlich lässt Du Deinem Grinsen freien Lauf.
Ivan zögert. „Was ist das für eine dämliche Frage?“
Du fährst ungerührt fort: „In dem Film sterben Mönche in einem Kloster durch ein verbotenes Buch. Wissen sie, die Seiten sind in Gift getränkt, und beim Umblättern feuchten sie immer die Finger mit der Zunge an.“
In Ivans Augen leuchtet Erkenntnis auf, und blanke Angst.
„Kann ich einen Menschen töten?“ sagst Du kalt. „So ein Monster, das meiner Schwester all das angetan hat? Verdammte Scheiße Ja! Und es wird mir ein Vergnügen sein, dir Bastard beim Verrecken zuzuschauen.“
„Nein.“ Ivans Stimme ist kaum mehr als ein Krächzen. Er lässt die Waffe sinken und beugt sich rüber zum Handschuhfach.
Darauf hast Du gehofft. Blitzschnell greifst Du nach der schweren Pistole. Ivan versucht, sie festzuhalten, aber sein Griff ist schwach wie der eines Säuglings. Mit letzter Kraft schafft er es, das Handschuhfach zu öffnen, dann bricht er auf Deinem Schoß zusammen.
„Nicht so schnell“, flüsterst Du, und wuchtest den massiven Körper zurück auf die Fahrerseite. Hektisch durchwühlst Du das Handschuhfach. Und ja, da ist es, da ist es wirklich, ein kleines, schwarzes Lederetui. Mit zitternden Fingern öffnest Du es.
Drei kleine Phiolen und eine Spritze lächeln Dir entgegen.
„Das Gegengift?“ fragst Du Ivan, der auf dem Fahrersitz zusammengesunken ist wie ein großer Sack Kartoffeln und keuchend nach Luft ringt.
„Gib mir“, flüstert er. Seine Augen starrend Dich voller Angst an. So, wie Jennys Augen ihn ansahen, als er sie schlug, und in sie eindrang.
Du beugst Dich ganz nahe über sein schweißnasses Gesicht.
„Wo verstecken sich die Anderen?“
Er sagt es Dir.
Du nickst. Dann nimmst Du eine Phiole aus dem Lederetui und legst es neben Dich auf den Beifahrersitz. Kaum eine Armlänge von Ivan entfernt, aber genauso unerreichbar wie der Mond.
Wortlos nimmst Du das restliche Gegengift und steigst aus.
Ivans Waffe liegt schwer und kalt in Deiner Hand.

Es ist sicher schon nach Mitternacht, als Du in das Haus des Polizisten zurückkehrst. Aber die Nacht ist für Dich noch lange nicht vorbei. Der Polizist atmet noch, als Du ihm den Inhalt einer der Phiolen spritzt. Die andere legst Du neben ihn, zusammen mit einem Zettel, auf den Du hastig eine Adresse kritzelst.
Das Nest der Monster.
Das sollte Dir genug Vorsprung geben, flüstert die kalte Stimme Dir zu. Genug Zeit für einen kleinen Besuch. Sie klingt sehr laut, jetzt, wo es still geworden ist in Dir.
Du wählst die Nummer des Notrufs. Ignorierst all ihre Fragen, gibst nur die Adresse des Polizisten an, legst auf.
Dann gehst Du in aller Seelenruhe zu Deinem Pizza-Auto, legst die Pistole auf den Beifahrersitz.
Sie haben Dich gefragt, ob Du einen Menschen töten kannst.
Du fährst los, mit Jennys Gesicht vor Augen, wie sie Dich angelächelt hat, heute Morgen, vor hundert Jahren.
Du schuldest ihnen noch eine Antwort.

© 2005 Stefan Brinkmann

 

 

Die neusten
poetischen E-Cards

Nightly Poem
Gedichte des NachtPoeten mit Epilogen ca. 1x im Monat in Deiner Mailbox.
Hier kostenlos abonnieren.

The Golden Cage
TheGoldenCage_sm

Konzeptalbum, basierend auf der Novelle “Himmelsturm” des NachtPoeten Stefan Brinkmann
Projekt-Seite

NACHTVERTONT
NT-Cover_2
Gedichte des NachtPoeten, vertont und eingelesen/gesungen von professionellen Sprechern und Sängern.
Hier klicken für detaillierte Infos, Hörproben, Vorbestellungen.

NachtPoet-Kalender 2009
Kalender2009_sm

Bücher des NachtPoeten: