Schön II - Bin ich schön?

„Bin ich schön?“

Er schluckt. Und nickt.

„Wie schön? Erzähl mir davon.“

Er zögert, blickt auf seine sauber manikürten Hände. Faltet sie, lässt sie umeinander ringen.

„Nun mach schon. Bitte?“

„Du bist so schön,“ erzählt er, „wie der Morgentau, wenn er das erste Licht der erwachenden Sonne bricht. So schön wie das Flüstern des Windes, wenn er von seinen Geheimnissen spricht. So schön wie der sich im Meer spiegelnde Mond, und alle Sterne zusammengenommen, und selbst das reicht nicht aus. So schön, dass die Vöglein verstummen, wenn sie deiner gewahr werden, bis auf die Nachtigall, die Königin der Stimmen, und sie allein besingt deine Pracht. So schön wie das Erwachen in deinen Armen, und das Einschlafen zum Flüstern deines Atems. Wie die Jugend in der Erinnerung des Alters und die Zukunft in der Phantasie eines Kindes. So schön wie die Sehnsucht selbst es uns verspricht. So schön, dass ich nie genug Worte finden kann, um sie auch nur annähernd zu beschreiben, oder was sie mir bedeutet...“

„Warum schaust du mich nicht an?“ Ihre Stimme klingt brüchig, wie morsches Holz. „Wie willst du mich denn auch beschreiben, wenn du mich nicht anschaust?“

Seine Hände ziehen weiter ihre Kreise umeinander. Er hebt seinen Kopf, aber nur ein wenig, bis zu der Hand, die sie ihm entgegen streckt.

„Wenn ich dich ansehe“, erklärt er, „dann bin um Worte verlegen. Dermaßen geblendet durch dein Licht, dass ich nicht mehr zu sehen, zu erkennen vermag. Allein die Erinnerung ist Filter genug, um überhaupt ein Wort für dich zu finden.“

„Wie lustig du manchmal redest.“ Sie lacht ihr helles, klares Lachen, bis es unerbittlich in Husten sich ertränkt. „Das mag ich so an Dir“ fügt sie an, als sie wieder zu Atem kommt. Leiser als zuvor, fast zärtlich.

„Komm, erzähl weiter. Erzähl mir mehr.“

Er nimmt ihre ausgestreckte Hand und erschrickt, wie kalt sie in seiner liegt.

„Du bist so schön“, flüstert er, “wie der Phönix, wenn er neu geboren der Asche entsteigt. So schön wie das Farbenspiel im Herbst, das Spiel von Licht und Tod und Wiedergeburt. So schön wie das Zerspringen am Höhepunkt der Vereinigung. Wie das Spiel der Falten am Ende eines erfüllten Lebens. Wie das friedliche Lächeln auf dem Gesicht einer schlafenden Prinzessin. So schön wie die Flamme, welche die Motte lockt. So schön wie die Dämmerung, dieser kurze Augenblick, wenn Tag zu Nacht und Nacht zum Tage wird. So schön...“

Ihre Hand in seiner verliert alle Form, ist nur noch ein Bündel haltloser Knochen in Haut gewickelt. Er lässt den Blick höher gleiten. Wie seltsam, seine Augen wollen ihm glauben machen, dass ihre Brust sich immer noch hebt und senkt. Aber sie liegt still. Er zwingt sich, zwingt seinen Blick höher, bis hin zu ihrem Gesicht, ihrem vom Krebs zerfressenen Antlitz, die straff über Knochen gespannte Haut, dort, wo es nicht Wunde war und offenes Fleisch, anstatt Wange und ein Auge und die halbe Stirn.

Ihr anderes Auge ist geschlossen und auf ihren Lippen, kaum mehr als dünne, blassrote Narbe auf diesem seltsamen Konstrukt des Grauens, liegt ein Lächeln, voller Friede und Dankbarkeit.

Und jetzt, da sie ihn nicht mehr hören kann, wo all die Lügen das letzte waren, was sie vernommen und mit sich nahm, jede einzelne davon wie ein Messerstich, geführt von eigner Hand in seinen Unterleib, bitter wie Galle und ätzend wie Gift, die Erinnerung, aus der sie gebaut Stück für Stück zerfressend und vergiftend mit ihrer neu gewonnenen Scheußlichkeit, jetzt steht er auf, lehnt sich über sie, seine Lippen ganz nah an ihr Ohr, und flüstert leise Wahrheit, zum ersten mal seit so langer Zeit. Flüstert all die Abscheulichkeit, die er in ihr sieht und versteckt hat zwischen bittersüßen Worten, bricht sich aus in Worten, die grausam sind und ordinär, nicht schönes mehr in sich tragen, fügt nahtlos eine Abartigkeit an die nächste, immer und immer weiter, bis seine Seele sich ausgekotzt hat und nichts mehr in sich trägt als Leere und Kälte und Einsamkeit.

Erst dann lehnt er sich zurück, schaut sie ein letztes mal an, ihr selbstverliebtes Lächeln, und sagt, weil er nicht anders kann:

„Und dennoch, trotz alledem, hast du nie aufgehört, schön für mich zu sein.“

 

© 2004 Stefan Brinkmann

 

 

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