Abschied

 Sein leerer Blick streift durch seine Wohnung. Seltsam, er hat nun sechs Jahre seines Lebens in diesen vier Wänden verbracht, und doch fühlt er sich nun nur noch fremd hier. Die Bilder an der Wand, welche sie ausgesucht hatte und die ihm nur deshalb gefallen, weil sie ihr gefallen, das gute Geschirr im Glasschrank, von ihrer Großmutter, die einmal zu oft geflickte Decke auf der Couch, die sie so lieb und in die sie sich immer einwickelte, wenn sie zusammen einen guten Film sahen, und unter der sie sich unzählige male geliebt hatten, alles hier erinnert ihn an sie, schien ihr zu gehören. Doch jetzt hatten all diese Dinge ihren Zauber für ihn verloren, erinnerten ihn nur noch daran, was er verloren hatte.

Für einen Moment steht er noch so da, unfähig, sich zu rühren, seinen Blick von der Decke auf der Couch zu lösen. Dann durchfährt ihn ein Ruck. Mit schnellen Schritten steuert er zielstrebig auf die alte Kommode aus ihrer Studentenwohnung hin, ein hässlich kitschiges Stück, dass sich fürchterlich beißt mit der sonst so elegant-distanzierten Einrichtung, und gerade deshalb etwas entscheidendes hinzufügte: Seele. Doch dieser Raum hatte für ihn keine Seele mehr. Er war tot, die Seele ausgeflogen, hatte nicht viel mehr hinterlassen als einen schalen Nachgeschmack.

Er öffnet die oberste Schublade, die kleine, welche immerzu klemmte. Heute nicht, heute geht sie auf wie frisch geölt. In ihr sind Schlüssel, duzende, kleine und große, solche für Vorhängeschlösser, andere für Schubladen, einige für Türen, ein paar wenige, von denen niemand mehr wusste, was sie verschließen können, oder öffnen. Eine ihrer Marotten: Jeder Schlüssel, den sie fand, wurde in diese Schublade verbannt. Sie konnte den Anblick von Schlüsseln einfach nicht ertragen, ebenso wenig wie verschlossene Türen. Welch Paradoxon, dieser Versuch, alle Schlüssel wegzuschließen. Aber das ist jetzt egal. Zielstrebig pickt er eine handvoll Schlüssel aus dem Nest, auch den für die Schlüsselschublade, dann schiebt er sie vorsichtig zurück und verschließt sie.

Er erinnert sich daran, wie sich ihre Augen ein letztes mal schließen, als könne sie der Welt nicht mehr ins Antlitz sehen, oder ihm... und verscheucht das Bild mit einem widerwilligen Kopfschütteln. Es gab so viele Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit, so viel schönes. Daran wollte er sich erinnern, nicht an den Albtraum der letzten Wochen.

Er geht in das Zimmer am Ende des Ganges. Das Zimmer der Ideen, hatte sie es immer genannt, und gelacht, als wäre das der lustigste Witz der Welt. Ihr Lachen. Das würde er am meisten vermissen. Niemand konnte ernst bleiben, oder traurig, wenn sie lachte. Aber das Lachen hatte sie als erstes verloren.

Wieder ein Kopfschütteln, und er betritt das Zimmer.

Als erstes versperrt er die Schubladen am Schreibtisch. Sperrt das angefangene Manuskript ein, dass sie immer „Unser Meisterwerk nannte, obwohl doch nur einer von ihnen es verfasst hatte. Doch natürlich hatte sie recht. Es war ihr gemeinsames Werk. Ihre Phantasie, sein kritisches Auge für die Details. Verrückt, er hatte immer geglaubt es müsse anders herum sein. Egal, der Schlüssel dreht sich mit einem leisen klick. Abgeschlossen.

Dann ist der kleine Schrank dran, danach die Truhe, auch ein Überbleibsel aus ihrer Studentenzeit. Sie hatte immer behauptet, die Truhe wäre magisch, innen Größer als außen. Er hatte gelacht, so wie er immer lachte, wenn sie mit diesem mystischen Kram anfing.

Klick. Abgeschlossen.

Er streift durch den Raum wie ein unruhiger Tiger, dreht Schlüssel in jedem Schloss, das er finden kann. Ein letzter Rundblick, der an einem alten Kerzenständer hängen bleibt, eine weitere Geschichte, an die er sich nicht erinnern will, ein Versprechen, das sie sich gegeben hatten. „Wenn einer von uns sich verirrt, dann soll der andere für ihn eine Kerze anzünden, ihm ein Licht geben für den Weg nach hause. Er greift sich den Kerzenständer mit der halb abgebrannten schwarzen Kerze. Es erscheit ihm passend. Dann verlässt er das Zimmer.

Klick. Abgeschlossen.

Er geht zu dem kleinen Tisch am Fenster, von dem aus man den alten Baum im Garten sieht, ein riesiger Stumpf mit nur einem mächtigen Ast, der blüht und gedeiht wie das wahre Leben. Ihr Beschützer. Sie hatte immer geglaubt, ein guter Geist wohne in diesem alten Krüppel. Sein Lachen hatte sie nie beirrt.

In die Mitte des Tisches stellt er die Kerze, dann tastet er sein Jackett nach Streichhölzern ab. Es war schon seltsam, Zigaretten schmeckten ihm nur, wenn er sie mit einem Streichholz anzündete, und eine Kerze mit einem Feuerzeug zu entzünden erscheint ihm wie eine Entweihung der Kerzenflamme. Er glaubte vielleicht nicht an Magie, aber er glaubte an Romantik, an Gesten und Zeichen. Das hatte sie verbunden.

Seine Hände berühren auf der suche nach Zündhölzern das Amulett auf seiner Brust und zucken zurück. Es ist kalt, eiskalt. Kalt wie die zugefrorene Hölle. Kalt wie sein Herz. Wieder eine Erinnerung. Ein alter, kleiner Mann, mit einem Krimskramsstand irgendwo an einem Weg ins nirgendwo. Da lag dieses Medaillon, kreisrund mit einem Loch in der Mitte, überzogen mit Runen und seltsamen Zeichen, die er weder davor noch danach irgendwo gesehen hatte. Als er es aufnehmen wollte, zerfällt es in zwei Teile. Er war verblüfft, setzt es wieder zusammen, und es sieht aus wie aus einem Guss, die gezackte Nahtstelle fügt sich unsichtbar in das Wirrwarr aus Zeichen und Linien. Er hatte es gekauft, teils, weil er wusste, dass es ihr gefallen würde, teils weil es einem Ehering am nächsten kam. Sie wollte nie heiraten, er wollte nur mit ihr zusammen sein, und so ging das in Ordnung, aber er liebte einfach Zeichen und Symbolik. Und es passte so gut zu ihnen. Wie die beiden Hälften, so ergänzten auch sie sich nahtlos. Sie hatten beide von jenem Tag an eine der Hälften getragen an einer Silberkette um den Hals, und niemals wieder abgelegt.

Seine Finger wandern weiter, finden die Packung Streichhölzer, fischen sie aus der Innentasche und entzünden damit die Kerze. Die Flamme zittert unruhig in der abendlichen Dämmerung, wirft sich jagende Schatten an die Wände, aber sie bleibt stark, brennt stetig weiter. Hoffnungsvoll klammert sie sich an ihr kurzes Leben von, wie lange, vielleicht zwei Stunden? Am Ende wird sie kleiner werden, immer kleiner, und dunkler, und schwächer, wird sich vielleicht noch einmal aufbäumen, und dann verlöschen, zu rauch werden, der sich noch kurz um die Dunkelheit windet, als könne er nicht aufgeben, und dann...

Ein Schluchzen bricht aus ihm heraus, mit der Gewalt einer Flutwelle, und zum ersten mal, seit der Tod das Zimmer 203 des örtlichen Krankenhauses besucht hatte, fließen die Tränen. Es sind drei Arten von Tränen. Tränen des Schmerzes und der Trauer für alles, was er verloren hat, am meisten für sie, Tränen der Erleichterung, weil es endlich, endlich vorbei ist, das Leiden, das Warten, der Gestank von Krankheit und Tod. Und dann noch Tränen des Schams, weil er erleichtert war. Die Flut all dieser Gefühle zerrt an ihm und will ihn mit sich reißen, aber er hält fest, klammert sich an das hier und jetzt. Er ahnt, was passiert, wenn er loslässt, Die Dunkelheit und der Wahnsinn, der ihn dann erwartet. Er will sich an das Schöne erinnern, an den Duft ihrer Haut. Aber da ist nur der Gestank von Krankenhaus, dieser Sterile, von Leid und Schmerz durchzogene Geruch. Er will an ihre Augen denken, an diese grünen Planeten inmitten ihrer Tiefe, aber auch hier: nur Schmerz, der seine eigene Pein spiegelt. Er hatte alles versucht, um ihr diesen Schmerz zu nehmen, hatte mit ihr gelebt, als gebe es für sie kein Morgen, hatte das Leben genossen und sie genießen lassen. Eine Zeitlang ging es gut, aber dann schlug der Krebs mit aller Kraft zu, die Chemo hatte versagt, für eine Operation war es zu spät. Er hatte versucht, stark zu sein, für sie. Aber er konnte es nicht, und da verlor sie ihr Lachen. Er hatte gewusst, das es keine Hoffnung mehr gab, als sie aufhörte zu lachen. Das war das eigentliche Ende gewesen. Von da an konnte er es nicht mehr ertragen, das Krankenhaus, ihre Gegenwart, den Schmerz in ihren Augen, seine eigene Angst, sie zu verlieren. Was hätte er dafür gegeben, mit ihr zu Tauschen. Seine Position war so viel leichter als ihre. Er wusste, was ihn erwartete. Sie nicht.

Die Wut trifft ihn vollkommen unerwartet, wie eine Faust in den Magen. Es war nicht fair! Immer hatten sie alles geteilt, Freud und Leid, hatten einander Kraft gegeben. Nun ist sie frei, und er bleibt allein zurück auf weiter Flur, ohne Heimat, ohne Halt, allein mit seinem Schmerz! Womit hat er das verdient? Warum er? Was hat Gott gegen ihn, oder wer immer dort oben das Zepter schwingt? Wieso starben Menschen in der Mitte ihres Lebens? Und wieso diese Zeit des Leides, des Verzehrens, des aufgefressen werdens? In des letzten Tagen war es immer häufiger passiert, dass er sie fast nicht mehr erkannt hätte, und was noch viel Schlimmer war, es kam ihm so vor, als würde auch sie ihn nicht mehr erkennen. Als wäre sie weit weg, hätte sich schon versöhnt mit dem Gedanken an den Tod. Hätte schon Abschied genommen von ihm. Aber er wollte sie nicht loslassen, konnte es nicht, kann es doch immer noch nicht. Er will doch einfach nur Leben, mit ihr Leben. Verdammt, sie war sein Leben.

Nun war er leer und tot.

Seine Hand hat seine Hälfte des Medaillons umklammert, ohne das er es bemerkte. Es brannte in seiner Hand, war nicht mehr kalt, sondern erfüllt vom Feuer seiner Wut, verzehrte die Hitze, verbrannte seinen selbstgerechten Zorn. Es war vorbei, und nichts konnte das ändern. Das Leben ging weiter, der Tod eines einzelnen konnte es nicht aufhalten. Und das war gut so. Er liebe sie immer noch, so sehr wie am ersten Tag. Aber er musste sie loslassen. Um ihretwillen. Um seinetwillen. Sie war immer noch da, würde immer da sein, würde auf ihn warten, so wie er auf sie warten würde. Sie würden sich wiedersehen. Das Medaillon versprach es ihm. Und er wusste, das es stimmte.

Die Kerze war zu einem kläglichen Stumpfen heruntergebrannt. Die Flamme bäumte sich noch einmal auf, flackerte kurz, zischte und fauchte, klammerte sich an die letzten Sekunden und hörte dann auf zu existieren. Der Rauch stieg auf, umkreiste ihn, durchdrang ihn. Er hatte verstanden. Nicht alles, aber ein wenig. Es musste reichen. Es war Zeit, loszulassen.

Er merkte kaum, wie seine Hände aus den verbliebenen Streichhölzern ein Wort bildeten, ein einzelnes Wort, das alles zusammenfasste. Er blickte sich noch ein letztes mal um, stand auf, ging zur Couch und ließ seine Hand über die Wolldecke gleiten. Sein art, Abschied zu nehmen. Dann nahm er das Medaillon ab, legte es zu dem Streichholzwort.

Löste sich auf in Wohlgefallen.

 

Als sie nach hause kam aus dem Krankenhaus, war es schon Nacht. Ihr Freund hatte schon am Nachmittag den Kampf gegen den Krebs endgültig verloren, aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, in ihre gemeinsame Wohnung zurückzukehren. Ziellos war sie durch die nächtlichen Straßen gewandert, ohne zu wissen, wo sie war oder was sie tat, hatte geweint, vor Trauer und Schmerz, vor Wut und Erleichterung, und vor Scham, weil sie lebte und er nicht. Bis sie letztendlich vor ihrer Haustür stand und nicht wusste, wie sie dorthin gelang war.

Noch bevor sie das Licht anmachte, roch sie die frisch verbrannte Streichhölzer.

Für einen Moment dachte sie, er wäre alles nur ein Traum gewesen, er säße an dem kleinen Tisch am Fenster, an seiner alten Schreibmaschine, gerade wieder in Gedanken verloren, in einer Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, und die er nun zu Papier brachte. Ihre Hand verharrte über dem Lichtschalter. Aber das war Unsinn, er war dahingeschieden, von ihr gegangen, TOT. Sie roch das nur, weil sie es gewohnt war, genau das zu riechen, wenn sie die Tür öffnete. Mit einem leisen Klick legte sie den Schalter um.

Sie konnte sich nicht erinnern, die Kerze aus seinem Zimmer auf den kleinen Tisch gestellt zu haben. Oder, was das anbetraf, dass sie Streichhölzer auf dem Tisch verstreut hatte. Und seine Zimmertür, sie war immer offen gewesen. Das hatte ihr das Gefühl gegeben, er würde jeden Moment nach hause kommen. Mit zitternden Gliedern ging sie auf den kleinen Tisch am Fenster zu.

Da lag seine Hälfte des Medaillons, dass er bis zu seinem Tode vor ein paar Stunden getragen hatte. Erst jetzt merkte sie, wie ihre Hälfte warm und beruhigend auf ihrer Haut pulsierte. Und die Streichhölzer, sie bildeten ein Wort, ein einziges Wort, das ihr für den Moment alles bedeutete.

VOLLKOMMEN.

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