Schreiben ohne Papier

Eine dunkle Gasse, irgendwo im Nirgendwo. Eine Gestalt liegt zitternd an der rußverschmierten Wand eines längst verlassenen Hauses. Sie atmet flach und langsam, die Augen sind geschlossen, fast, einen dünnen spalt weit offen vielleicht. Trübes, kaltes Mondlicht spielt träge mit den Schatten. Einer wogt über dem zusammengekauerten Körper, schmiegt sich fast liebevoll an seine Glieder.
Schritte nähern sich. Eine zerbrechlich anmutende Gestalt durchbricht den schalen Dunst des Zwielichts, kommt langsam näher. Sie summt vor sich hin, unbeschwert wie ihr Gang. Fremdartig erscheint sie in dieser düsteren Gegend, wie ein gefallener Engel, doch sie hat es weder eilig, noch fühlt sie sich fehl am Platz.
Fast scheint es, als würde sie die Gestalt am Boden übersehen. Schon ist sie vorbei, doch dann zögert sie, als habe sie ein Geräusch gehört, legt ihren Kopf leicht schief, so daß ihr Haar im Mondlicht golden glänzt. Dann, endlich, dreht sie sich um, und ihr Blick fällt auf den jungen Mann.
"Nun sieh einer an. Einen wie dich hätte ich hier nicht erwartet. Nunja, in Wahrheit hätte ich wohl niemand anderen eher erwartet als einen von eurer Art, aber nicht so, wie ein Stück Verpackung, achtlos weggeworfen. Normalerweise steht ihr doch da, als gehöre euch die ganze Welt, aufrecht und stolz und selbstgerecht."
Der junge Mann am Boden reagiert nicht. Sein Atem schleicht weiter durch sein seichtes Auf und Ab.
"Oh Mann, ich hab keine Zeit für so'n Mist." flüstert sie, doch dann geht sie vor ihrem Fund in die Hocke und starrt regungslos auf die vielleicht geschlossenen Augen.
Lange Zeit geschieht gar nichts.
Dann, schließlich, ein Flüstern. "Was wollt ihr von mir? Ich bin müde." Keine Regung verrät, daß der junge Mann gesprochen hat, selbst sein Atem bleibt gleich.
"Sieh an, es lebt." Der Spott in ihrer Stimme ist nur gespielt, und Sorge schimmert hindurch. "Solltest du nicht irgendwo durch die Welt zwischen den Welten düsen und Menschen ihre Geschichten bringen?"
Seine Augen öffnen sich ohne Vorwarnung. Eisiges Grün blitzt im Mondlicht auf, läßt selbst sie ein wenig zurückweichen.
"Keiner hat Euch nach Eurer Meinung gefragt!" Aus dem Flüstern ist ein Zischen geworden, mit giftigen Zähnen, zum Biß bereit.
Sie lacht auf, hell und klar und furchtlos. "Das sagst gerade DU, oh Mister Ihr-braucht-meine-Hife-Ihr-wißt-es-bloß-nicht? Solche Worte aus dem Mund eines Mantelträgers, das ist witzig." Und dann, mit einem mal, ist sie todernst. "Nein," sagt sie, wie zu sich selbst, "ist es nicht."
Mit einer Anmut, die unmöglich erscheint, setzt sie sich neben den jungen Mann. Die Schatten legen sich um ihre Schultern wie ein schützender Mantel.
"Ich kenne diejenigen Deiner Art", beginnt sie, "und ich will nicht behaupten, daß ich Euch abgöttisch liebe, aber ihr seid..." sie zögert, und ihre Hand tastet nach den Tasche ihres neuen Mantels, der sich wie ein Schatten an sie schmiegt. "...hilfreich. Lästig, manchmal, etwas aufdringlich, aber ihr meint es gut."
"Ja." Seine erste Bewegung. Langsam hebt er seinen Kopf, sieht sie an. "Ich meine es gut. Ich will immer nur das beste für alle. Und meist bekomme ich es auch. Mein Segen. Mein Fluch."
"Bitte!" Ihre Hand scheint gefunden zu haben, wonach sich ausgeschickt wurde, und tritt den Rückzug an. "Spar dir die Theatralik für die gewöhnlichen Sterblichen." Eine Päckchen Zigaretten taucht aus den tiefschwarzen Abgründen des Mantels auf. Sie öffnet es fast zärtlich, entnimmt ihm ein goldenes Feuerzeug. Dann hält sie ihm die Schachtel hin.
"Auch eine?" fragt sie routiniert. "Oder hast du Angst, die könnten am Ende noch dein Tod sein?"
"Eher unwahrscheinlich, denn ich habe kein Leben." Erwidert er schwach, dann greift er sich die letzte der Zigaretten. Es überrascht ihn nicht, daß auch sie im nächste Moment die letzte Zigarette entnimmt. Das gehört zu ihren Spielchen. Er lächelt müde.
Sie gibt ihm Feuer, und für ein, zwei Minuten sitzen sie schweigend nebeneinander, ziehen den Rauch in ihre Lungen und entlassen ihn im nächsten Moment ins Mondlicht. Als sie ihn aus dem Augenwinkel betrachtet, muß sie unweigerlich lächeln. Rauchen paßt nicht zu ihm. Es sieht aus, als währe es seine allererste Zigarette, und in gewisser Weise ist sie das auch. Diese und jede einzelne der abertausend davor.
Schließlich schnippt sie ihren Zigarettenstummel geschickt in die Dunkelheit. Wie ein kleiner Komet zischt er durch die Nacht, prallt funkenstiebend gegen eine Wand und kommt schließlich neben einer Bananenschale zur Ruhe, glüht noch ein, zwei Sekunden und verlöscht.
"Sag mal," fragt sie wie beiläufig, "was sollte das vorhin eigentlich bedeuten, mit dem kein Leben und so?"
Der Mantelträger versucht, ihr das Kunststück mit der Kippe nachzutun, und scheitert kläglich an der Einmetermarke. Der Stummel glüht noch einmal hämisch grinsend auf, dann verlischt er.
"Naja. Wie ihr wißt, suchen die Meinen die Vergessenen auf, jene, welche aus den Geschichten fallen, ungewollt, ohne Sinn..."
"... und ihr gebt ihnen eine neue Geschichte, eine, die nur ihnen gehört. Eine zweite Chance, die in Wahrheit die erste und letzte ist. Eine Wahl, die sie schon treffen, wenn sie Euch in die Augen sehen ecetera blah blah. In der Tat, ich weiß."
Er wirft ihr einen verärgerten Blick zu, aber ihre Gegenwart und das Nikotin haben ihn besänftigt, und so überhört er den leichten Spott in ihrer Stimme.
"Ja, so ist es. Nur..."
Und im nächsten Moment öffnet er seine Augen, öffnet sie wirklich, läßt sie ein, stößt sie in den Abgrund seiner Einsamkeit, in die Welt der tausend Augen, tausend Gesichter, tausend Geschichten, nur eine, eine einzige...
"... ich habe keine Geschichte. Keine für mich. Mein ist das Reich zwischen den Geschichten, auf ewig. Ich..."
Seine Stimme hat sie aus dem Bann gelöst. Jetzt versteht sie. Sie versteht nur zu gut. Die Verblüffung löst sie und...
Sie lacht.
Und lacht. Und lacht. Sie krümmt sich unter den Lachsalven, die an den Hauswänden widerhallen, klatscht vor Vergnügen mit einer Hand auf die Schenkel, versucht, sich auf die Lippen zu beißen und kann nicht, wirft den Kopf in die Höhe und lacht zu den Sternen, dem Mond, den Wolken und Schatten.
Ärgerlich packt er sie bei den Schultern. "Hört auf damit. Sofort. Was ist so lustig daran?"
Tränen steigen ihr in die Augen. Verzweifelt schnappt sie nach Luft. "Schreiben..." preßt sie kichernd hervor. "Schreiben ohne Papier."
Unverständnis schleicht sich in seine Augen, aber auch Neugierde, vertreibt den Ärger. Er richtet sich auf, und nun ist er es, der erwartungsvoll schaut. Grüne Augen ruhen geduldig auf ihr, warten, bis sie sich gefangen und die Tränen aus den Augen gewischt hat.
"Tut mir leid" meint sie beschwichtigend, mit einem Schalk in den Augen, der das Gegenteil behauptete. "Aber gerade du solltest doch bescheid wissen über das Schreiben ohne Papier."
"Ich weiß nicht, was Ihr meint." erwidert er ungeduldig und leicht gereizt.
"Ist wie das Klatschen mit einer Hand." fuhr sie immer noch breit grinsend fort. "Manche meinen, nur Geschichten, die auf Papier geschrieben sind, haben Substanz und Fortbestand. Das ist natürlich Unsinn. Das Schreiben ohne Papier ist es, was einen Unterschied macht. Man nennt es auch Erzählen, und es ist die Kunst, eine Geschichte lebendig werden zu lassen. Weißt Du, was die Menschen da draußen Tag für Tag tun? Sie schreiben ihre Geschichte, schreiben sie in andere Wesen, in ihre Erinnerungen, ihre Herzen. Das ist es, was du und Deinereins perfekt beherrscht. Das nennt man Leben."
"Aber sie vergessen mich." hält er trotzig entgegen.
"Nein. Sie erinnern sich bloß nicht an Dich. Aber du lebst in ihren Geschichten. Das ist es, was deine Unsterblichkeit ausmacht."

Mit diesen Worten erhob sie sich und wendete sich zum gehen.
"Warte."
Sie zögerte, drehte sich noch einmal zu ihm um.
"Ich..." er biß sich verlegen auf die Unterlippe. "Ich würde Euch gerne ein Stück begleiten. Wenn es Euch nichts ausmacht. Ich... ich will Euch nicht bedrängen oder nötigen oder eine Last..."
Sanft legte sie einen Finger auf ihre Lippen. "Schweig still, du Narr, und zerstöre nicht meine Illusion, du hättest etwas begriffen."
Dann reichte sie ihm die Hand.
Er ergriff sie, zuerst zögerlich, als habe er Angst, sie würde sie im letzten Moment wegziehen, dann aber mit Nachdruck, zog sich zu ihr hoch.
Einen Augenblick standen sie schweigend voreinander, blickten sich tief in die Augen. Dann mußte sie wieder lachen, und diesmal lachte er mit.
Später gingen sie los, den Mondlichtweg entlang.
"Eines habe ich noch nicht verstanden. Wie soll das gehen, Klatschen mit nur einer Hand?"
In einer dunklen Gasse, nahe einer rußverschmierten Hauswand, blieben zwei Mäntel zurück, die sich an den Ärmeln fast berührten.
"Du solltest öfter herzhaft lachen, dann wüßtest du es."
Aber vielleicht sind es ja nur Schatten. Wer weiß?

Stefan Brinkmann   Kunihostraße 8a   81929 München   Geb.dat: 08.12.1975
(1. Version fertiggestellt am 28.03.2000, 18.15)

 

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