Tag und Nacht

Ich wußte, irgend etwas war nicht in Ordnung.
Es lag nicht daran, daß ich ekelhaft erkältet war und mich so fühlte, als ob sich mein ganzer Körper in irgendeine schleimige Substanz auflösen wollte. Es war auch nicht nur, daß sich meine Schwester nun schon seit gut drei Jahren nicht mehr bei mir gemeldet hatte, nur um mich gegen zwei Uhr früh aus dem Bett zu klingeln. Immerhin war ihr Mann vor nicht ganz einem Monat gestorben, und die Beerdigung lag nicht mehr als zwei Tage zurück. Dort hatte ich sie auch das erste mal seit dieser langen Zeit zu Gesicht bekommen. Aber nicht für lange. Wir hatten nur ein paar Worte gewechselt, und nachdem ich ihr ein verquältes Lächeln abgerungen hatte, machte sie mir ziemlich schnell und deutlich klar, daß sie jetzt lieber alleine sein wollte.
Claudia war immer ein Mensch gewesen, der meinte, was er sagte, und so schwer es mir auch gefallen war, ich hatte sie gehen lassen. Und nun, vor nicht ganz einer halben Stunde, rief sie an. Mich, ihren großen Bruder. Und scheinbar nur, um Erinnerungen auszutauschen.
Nein, irgend etwas stimmte ganz und gar nicht.
Wir redeten gerade über die Streiche, die wir unseren Eltern gespielt hatten, und wie wütend sie manchmal wurden, wie unsere Mutter dann immer rot anzulaufen pflegte und ich manchmal wirklich Angst bekam, sie würde keine Luft mehr bekommen. Ich erinnerte sie an den Schultag, an dem wir blau machten, um an den Strand zu fahren und uns ein wenig in den ersten Strahlen der Frühlingssonne zu amüsieren. Wir kannten da eine kleine, weit abgelegene Bucht, die nur mit den Fahrrädern zu erreichen war und gut fünf Meilen von unserem Haus entfernt lag. Nun, an diesem speziellen Nachmittag zogen mit der typischen Art unseres Landstriches Wolken auf. Eben noch strahlender Himmel, war die Sonne im nächsten Moment von einem schwarzen Watteberg verschluckt. Wir rannten zu unseren Fahrrädern, um möglichst nach Hause zu kommen, bevor der anfänglich leichte Nieselregen in einem wahren Wolkenbruch ausartete. Doch irgend jemand hatte die Luft aus unseren Reifen gelassen, und so mußten wir die Räder die ganzen fünf Meilen zurückschieben. Schon nach den ersten paar hundert Metern waren wir bis auf die Haut durchnäßt. Ich hatte geflucht wie ein Rohrspatz, doch Claudia begann, nach kurzer Zeit zu singen, Lieder wie "I'm singing in the rain" oder "I do my crying in the rain.", aber auch Stücke wie "Here comes the sun." und dann ließ sie ihr Fahrrad einfach fallen und begann, auf ihre unbeschwerte Art zu tanzen, mitten auf der Straße, die mittlerweile mehr einem kleinen Bach glich. Sie tanzte im Regen, lachte und sang, und ihr Lachen hörte sich schöner an wie jedes Lied, das ich kannte.
Auch jetzt lachte Claudia, als sie sich an diesen Tag erinnerte, aber ihr Lachen war leer, erschreckend leer. Mich schauderte. Das alles lag nun gut dreißig Jahre zurück, doch ihr Lachen hatte sich in dieser Zeit nie verändert. Es hatte immer so geklungen, als ob nichts in der Welt ihr wirklich etwas anhaben könne.
Bis zum heutigen Tag.
Als ihr Lachen verklungen war, schwiegen wir beide für ein paar endlose Sekunden. Man konnte fast hören, wie jeder von uns nach Worten suchte, die unausgesprochen in der Luft lagen. Was konnte man jemandem sagen, der den liebsten Menschen in seinem Leben verloren hatte?
Steve war alles für sie gewesen. Eigentlich seltsam, wie gut die beiden sich verstanden, denn Steve war so grundverschieden von meiner Schwester. Er trat immer sehr selbstsicher auf, blieb aber lieber im Hintergrund, viel nie besonders auf. Sein Humor war von der tiefsinnigen und nicht immer leicht zu verstehenden Sorte, und er konnte einen Witz erzählen, ohne die Miene zu verziehen. An manchen Tagen jedoch benahm er sich wie ein junger Hund, konnte nicht ruhig sitzen, mußte mit jedem seine Scherze treiben. Trotzdem verlor er dabei nie die Kontrolle, und niemand hatte ihn wohl Zeit seines Lebens dabei erwischt, daß er etwas unüberlegtes getan hätte. Kennengelernt haben sich die beiden in einem kleinen Café in der Stadt, in der er als Polizist arbeitete. Sie war eigentlich nur auf der Durchreise, auf dem Weg zu einer Lesung ihres neuen Romans, und hatte nur gehalten, um eine heiße Schokolade zu trinken. Auch so eine Eigenart von Claudia. Manchmal bekam sie den Drang, irgend etwas zu essen oder zu trinken, und dann mußte sie es haben, koste es, was es wolle. Jemand, der sie nicht kannte, mochte sie für permanent schwanger halten. Nun, sie saß also in diesem Café und trank ihre heiße Schokolade, und Steve, zwei Tische weiter damit beschäftigt, seine Mittagspause auszufüllen, beobachtete sie fasziniert. Nach zehn Minuten stand er auf, setzte sich unaufgefordert zu ihr und sagte in seiner typischen ruhigen Art: "Ich möchte Dich gerne näher kennenlernen." Dann stützte er seinen Kopf auf seine Hände, ganz so wie ein verliebter Schuljunge, und schaute sie einfach so lange an, bis sie lachen mußte und ihm einen Teil ihrer Schokolade direkt ins Gesicht prustete.
So fing also alles an.
Und vor nicht ganz einem Monat endete es. Ebenso abrupt, ebenso ungewöhnlich. Man fand den Streifenwagen von Steve in der Teufelsschlucht. Er hatte die Absperrung durchbrochen, war in dieser verfluchten Kurve einfach gerade aus weiter gefahren. Nichts deutet darauf hin, daß er auch nur versucht hatte, auszuweichen. Man fand den Wagen vollkommen ausgebrannt, die verkohlte Leiche von Steve zwischen Sitz und Lenkrad eingeklemmt. Kein Alkohol im Blut, keine Drogen, nichts, was auch nur den kleinsten Hinweis gegeben hätte, was passiert war.
Ich erfuhr von alledem erst zwei Tage vor der Beerdigung, durch eine kleine, schwarz eingerahmte Einladung und einem beigefügten Zeitungsabschnitt. Dazu eine kurze, mir dem Computer gedruckte Erklärung.
Claudia hatte ihn wirklich geliebt. Noch eine ihrer Besonderheiten. Sie war einer der wenigen Menschen, die wirklich aus ganzem Herzen lieben konnten. Nach seinem Tod muß eine Welt in ihr zusammengebrochen sein. Ein Teil von ihr stürzte mit ihm in diese Schlucht.
Dieser Teil fehlte nun in ihrem Lachen.
Claudia war es, die schließlich das Schweigen durchbrach.
"Du spürst es auch, nicht wahr?"
Ich nickte, so wie ich es immer zu tun pflegte, wenn sie auf so selbstverständliche Art meine Gedanken erriet. Dann merkte ich, daß sie mich ja nicht sehen konnte, und wollte zu einer Antwort ansetzen. Doch meine Schwester kam mir zuvor.
"Ja, das tust Du. Du hast genickt, nicht war? Immer noch der Alte. Ja, Du bist der Alte geblieben." Eine kleine Pause, so als müsse sie Schlucken. Und dann:
"Erinnerst Du dich noch an Tag und Nacht?"
Ja, ich erinnerte mich. Und diese Erinnerungen machten meine Kehle trocken. Tag und Nacht, die beiden Mäuse meiner Schwester, unsere ersten und einzigen Haustiere. Mein Gott, wie lange hatten wir gebettelt, bis unsere Eltern endlich klein bei gegeben hatten. Tag und Nacht. Eine strahlend weiße Maus mit kleinen, schwarzen Knopfaugen, und eine pechschwarze, mit etwas größeren, aber genau so schwarzen Augen. Sie gehörten uns beiden, und wir liebten sie, so wie nur Kinder etwas lieben können. Daß heißt, Claudia liebte sie wohl noch ein wenig mehr. Ich verlor viel schneller das Interesse an etwas neuem. Obwohl mein Interesse an den Mäusen lange Zeit anhielt.
Nun, die Mäuse hatten auch nur ein sehr kurzes Leben.
An einem herrlichen Sommernachmittag wollten wir, wie so oft, an den Strand fahren, und Claudia bildete sich ein, sie müsse die Mäuse mitnehmen. Ich hatte in meinem Leben schnell gelernt, daß meine Schwester nicht vom Gegenteil zu überzeugen war, hatte sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt. Also gab ich es nach den üblichen Alibiversuchen auf und half ihr, den Käfig auf dem Gepäckträger zu befestigen.
Wir verwendeten drei Lagen Klebeband und ein Seil. Trotzdem fiel der Käfig an der verfluchten Kurve vom Rad und sprang auf. Wir sahen gerade noch, wie Nacht in hohem Boden emporgeschleudert wurde, über die Teufelsschlucht, die gleiche Schlucht, in die dreißig Jahre später Claudias Mann stürzen sollte, sich einmal um die eigene Achse drehte, den Scheitelpunkt ihrer Flugbahn erreichte, und fiel. Ich schrie auf, und ich glaube, Claudia schrie auch. Sie ließ ihr Fahrrad fallen und rannte zu dem Käfig.
Tag lag in einer Ecke, zitternd, aber scheinbar unverletzt. Das Klebeband war fein säuberlich durchgenagt, genau wie das Seil.
Fassungslos standen wir vor dem Käfig, ich weiß nicht, wie lange. Dann bückte sich Claudia und nahm Tag heraus. Sie gab der immer noch zitternden Maus einen Kuß auf die Schnauze und schleuderte sie dann mit aller Kraft in die Teufelsschlucht.
Als mir klar wurde, was sie tun wollte, war es schon zu spät. Noch während ich ihren Arm packte, sah ich Tag gegen die Sonne fliegen, und in meinem Geist zeigte sich das irre Bild einer kleinen, liegenden Untertasse, die steuerlos in den riesigen Gasball flog und gleich verglühen würde, dann begann auch Tag zu fallen.
Zuerst war ich wie gelähmt. Ich starrte zur Schlucht, dann auf meine Schwester. Dann begann ich sie zu schütteln. "Warum? Warum? Warum?" schrie ich, immer und immer wieder. Sie wartete einfach, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte, dann sagte sie in ihrer unumstößlich sicheren Art:
"Es war besser so."
"Aber warum?" Ich brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande.
"Tag kann nicht ohne Nacht sein." Mit diesen Worten riß sie sich los, hob den Käfig auf und warf ihn den Mäusen hinterher. Dann schwang sie sich auf ihr Rad und schlug den Heimweg ein.
Unseren Eltern erzählte sie die ganze Geschichte, nur fiel in ihrer Version gleich der ganze Käfig in die Schlucht. Ich bestätigte diese Version, denn ich wußte, alles andere wäre zwecklos.
Dann verdrängte ich diese Geschichte.
Bis zum heutigen Tag.
"Ja. Ja, ich erinnere mich."
Meine Stimme war, wie damals, nur noch ein Flüstern.
"Hast Du mir das jemals verziehen?"
"Ja. Natürlich. Du weißt doch, ich kann Dir nichts übel nehmen. Aber ich kann nicht behaupten, ich hätte es jemals verstanden."
"Nein." Wieder diese Pause. "Weißt Du, ich glaube, es war wirklich besser so."
Dann legte sie auf.
Es dauerte ein, zwei Sekunden, bis mir klar wurde, was sie mit diesen letzten Worten meinte. Als es endlich Klick machte in meinem Kopf, donnerte ich den Hörer auf die Gabel, nahm ihn wieder auf und wählte die Nummer des Hotels, in dem sie abgestiegen war. Die Dame an der Rezeption teilte mir in ihrer unverbindlich freundlichen Stimme, Madame wäre nicht auf ihrem Zimmer, ob ich eine Nachricht hinterlassen wolle. Statt zu antworten, donnerte ich den Hörer wieder auf die Gabel, nur, um ihn gleich wieder aufzunehmen und die Nummer der Polizei zu wählen.
Noch bevor ich das Freizeichen hörte, legte ich auf.
Sie würden zu spät kommen. Bis ich all die Fragen beantwortet hatte, die in solchen Fällen üblich waren, wäre alles zu spät. Verdammt, Steve war bei der Truppe gewesen, und ich hatte manch einen Pokerabend mit ihm verbracht. Er war ein verdammt guter Bluffer, und er hatte mir erzählt, wie die Bürokratie der Polizei funktionierte. Es gab nur eine Chance.
Ich schnappte mir die Jacke, von der ich wußte, daß in ihr die Autoschlüssel steckten, und rannte in Pantoffeln hinunter zur Garage. Auf halben Weg merkt ich, daß die verfluchten Schlüssel doch in der anderen Jacke steckten, kehrte also um und holte sie mir. Kostbare Minuten verstrichen, und als ich endlich im Auto saß, wußte ich, daß ich zu spät kommen würde. Das Hotel war nur unwesentlich weiter entfernt von der verfluchten Kurve als mein Haus, und Claudia hatte sich einen guten Mietwagen geleistet. Als Schriftstellerin verdiente sie nicht schlecht. Für eines ihrer Bücher hatte sie sogar die Filmrechte verkauft.
Nun, dachte ich mir, falls ich wirklich zu spät kommen sollte, würde der Film gute Skandalpresse bekommen.
Ein irres Lachen stieg in mir auf, und ich konnte es nur mit Mühe unterdrücken.
Was nichts daran änderte, daß ich wie ein Irrer fuhr. Zweimal verursachte ich beinahe einen Frontalzusammenprall, und ein Wagen kam von der Straße ab, als ich eine Kurve etwas zu hektisch nahm.
Trotzdem wußte ich, daß ich zu spät kommen sollte.
Und so war es. Als ich die Teufelsschlucht erreichte, sah ich gerade noch, wie sie am Rand stand, in ihrem Hochzeitskleid. Sie mußte es das ganze Gespräch über angehabt haben. Sie war schön wie der Tag, und ihr Kopf drehte sich zu meinem herannahenden Wagen als sie sprang.
Und so sah ich meinen Tag in die Nacht fliegen, wie ein Engel, der in den Himmel emporsteigt. Sie schrie nicht, als sie fiel. Wahrscheinlich hatte sie auch damals nicht geschrien. Doch in der Nacht hatte sie geweint. Ich habe es gehört, auch wenn sie versucht hatte, es in ihrem Kissen zu ersticken. Ich lag in meinem Bett und hörte sie weinen, und vor meinem inneren Auge sah ich immer wieder, wie Tag in die Sonne flog, um danach seinem Artgenossen in den Tod zu folgen.
Sie hatte die Mäuse geliebt, und sie hatte Steve geliebt. Und deshalb schrie sie nicht, als sie in die Teufelsschlucht stürzte, glänzend wie ein Stern im Licht der Autoscheinwerfer.
Aber ich schrie. Und schrie. Und schrie.
Das alles geschah vor nicht mehr als einer halben Stunde. Ich stehe immer noch am Rand der Schlucht, ins Licht von zwei Paar Autoscheinwerfern getaucht.  Doch um diese Zeit ist diese Straße fast nie befahren. Ich habe schon lange aufgehört zu schreien. Ich stehe hier und starre hinunter auf die Leiche meiner Schwester. Wissen sie, ich glaube, ich verstehe sie jetzt. Vielleicht war es wirklich besser so.
Man kann so etwas nur verstehen, wenn man seinen eigenen Tag verliert.
Ich habe die Antwort in ihren Augen gesehen als sie sprang. Sie waren so voller Frieden.
Ich verstehe sie.
 

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