Weg aus Licht

Keine Nacht ist wirklich dunkel. Tausende von Lichtern sind überall zu finden. Ferne Sonnen erscheinen uns nicht heller als die Lichter einer nahen Stadt oder vielleicht das Glühwürmchen, keine Armeslänge entfernt. Sie alle lassen die Dunkelheit nie absolut sein.
Sie alle machen die Dunkelheit erst Real. Denn ohne sie würden wir nie begreifen, was Dunkelheit ist.
Weit weg von allen Lichtern, inmitten eines einsamen Wiese, umgeben von dunklen Wäldern, nimmt ein einsamer Lichtstrahl seinen Anfang. Er durchschneidet die Dunkelheit wie ein leuchtender Stab, und der Nebel umgibt ihn wie eine glühende Aura. Regungslos steckt er in der Schwärze, und an seinem einen Ende...

... ihr war kalt. Zitternd drückte sie sich ein wenig näher an Steve, kuschelte sich noch tiefer in seine Arme, zog die Decke enger um ihren zitternden Körper. Zwecklos. Die Kälte kam von innen. Sie schwitze und zitterte zugleich. Manchmal schluchzte sie leise.
Steve strich ihr beruhigend durch das volle Haar, das vom Schweiß und vom Nebel schwer geworden war. Er fühlte sich so hilflos. In ihm brodelte Haß, quälender, brennender Haß auf den Menschen, der ihr, der ihnen das angetan hatte, es immer und immer wieder getan hatte.
"Wir sollten zur Polizei gehen." Er hatte sie ermahnt, gebeten, angefleht, doch ihre Angst war zu groß. "Es weiß doch sonst niemand. Wer wird mir schon glauben? Sie werden sagen, ich habe ihn provoziert. Gott, ich schäme mich so." Sie hatte sich gewaschen, bis ihre Haut sich gerötet und sogar entzündet hatte. Doch der Schmutz wollte nicht von ihr weichen. "Ich stehe das nicht durch, verstehst Du? Ich kann ihn nicht anzeigen. Kannst Du das nicht verstehen? Er ist mein Vater. MEIN VATER!"
Sie waren noch keine 3 Monate zusammen. Steves Feinfühligkeit, seine inne Stärke und äußere Zärtlichkeit hatten sie fasziniert. Er war für sie der einzige Halt in diesem Wahnsinn, eine Insel, auf die sie sich flüchten konnte. Schon zweimal war sie verheult und zitternd vor seiner Haustür aufgetaucht, und er hatte sie die ganze Nacht in den Armen gehalten und gewiegt wie ein kleines Kind. Doch erst heute hatte sie ihm erzählt was wirklich geschehen war. Die ganze gräßliche Wahrheit. Und immer wieder dieser Satz. Er ist doch mein Vater!
Steve hatte sie in sein Auto gepackt und war mit ihr losgefahren. Einfach weg. So weit es ging. Weg von dieser Perversität, weg von diesem Monster, das behauptete, ihr Vater zu sein. Weg von allem.
Nun lagen sie auf dieser verlassenen Wiese, eingehüllt in die Wolldecken, die sonst als Bezüge für die Rücksitze dienten, und neben ihnen die Taschenlampe, gelehnt an einen Baumstumpf, die ihren Lichtstrahl in den Weltraum sandte.
Hilflos. So hilflos. Steve spürte ihre Angst, ihr Grauen, ihren Ekel. Es spürte diesen tiefen Bruch in ihrer Seele. Aber was konnte er schon tun, außer für sie da zu sein? Wie konnte er ihr die Hoffnung wiedergeben, den Glauben an diese Welt...?
Vielleicht konnte er sie vergessen lassen, sie wenigstens für ein paar Augenblicke in eine fremde Welt entführen, weit, weit weg von allem, was war, weiter noch als dieses Feld. Viel weiter.
Er begann zu sprechen, leise, aber eindringlich, so, wie er immer sprach, wenn er etwas erzählte, daß die Wirklichkeit verließ.
Glaubst du, es ist möglich, auf einem Lichtstrahl zu wandern?
Zuerst keine Reaktion. Er fragte noch einmal, dann hob sie ihren Kopf und blickte ihn fragend an.
Er lächelte. Ja, so muß ich wohl auch geguckt haben, als der alte Mann mich das fragte.
Sie schaute immer noch verwirrt, aber da war etwas in ihren Augen, Neugierde vielleicht. Er hatte ihr Interesse geweckt.
Welcher alte Mann? Steve wovon redest Du?
Der alte Mann natürlich, von dem ich diese Taschenlampe gekauft habe.
Er deutete auf die Lampe, die an dem Baumstumpf lehnte und einen ganz neuen Stamm aus Licht in die Höhe wachsen ließ. Es war eine dieser neuen, superstarken Taschenlampen, groß, schwer und ganz in Schwarz. Ihr Lichtstrahl schien wirklich direkt zu den Sternen zu reichen.
Weißt Du, ich traf ihn einmal, als ich mit dem Fahrrad ins nirgendwo unterwegs war. Er stand hinter einem Holztisch, den er unter einer uralten Eiche auf der Spitze eines Hügels aufgestellt hatte. Er lächelte mir zu, und da war etwas in diesem Lächeln, was mich veranlaßte, mein Rad abzustellen und zu ihm hochzukommen.
Auf diesem Tisch lagen alle möglichen Dinge. Nichts ungewöhnliches, auf dem ersten Blick. Ein altes Taschenmesser, eine noch verpackte Kaffeemaschine, ein Zylinder mit der Aufschrift ‚Bobbys Zauberhut, Ein Dosenöffner, eine Packung mit Sammelkarten, eine Taschenlampe...
‚Glaubst du, es ist möglich, auf einem Lichtstrahl zu wandern fragte der Alte mich mit einem mal. Ich war ziemlich überrascht, zumal ich noch vertieft in seine seltsame Auswahl war.
Verwirrt blickte ich ihn an, so, wie du mich vorhin angeschaut hast. Aber er sah nicht so aus, als ob einen Scherz gemacht hätte. Freundlich lächelte er mich an.
‚Glaube mir, mein Junge, es ist möglich. Natürlich nur, wenn du drei ganz entscheidende Dinge hast.
Der Junge machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen, und der Effekt blieb nicht aus.
Welche waren das? fragte das Mädchen. Da war etwas in ihrer gebrochenen Stimme, ein funken Hoffnung vielleicht. Die Geschichte tat ihre Wirkung.
Das fragte ich ihn auch. Du hättest sein Grinsen sehen sollen, es war unglaublich breit. Die Zähne dahinter waren gelb, einige fehlten, aber das war unwichtig, wenn du dieses Grinsen sahst. Es war so voller ehrlicher Freude.
‚Zunächst einmal natürlich eine magische Taschenlampe. Sonst würden ja alle Leute plötzlich auf Lichtstrahlen herumwandern. Auf Autoscheinwerfern oder dem dünnen Strahl, der durch eine Tür fällt, auf Fahrradlichtern oder eben dem Schein einer jeden Taschenlampe. Nein, mein Junge, das gäbe ein gar grausiges Chaos. Du brauchst schon eine magische Taschenlampe, so wie diese hier.
Er hob die Taschenlampe hoch, die ich mir als letztes angesehen hatte, eine von diesen neuen Dingern, superstark, schwer und tiefschwarz.
Das Mädchen streckte sich ein wenig in seinen Armen. Sie schien ein wenig zu wachsen.
Und die anderen beiden?
Das wollte ich natürlich auch wissen. ‚So ungeduldig, ihr jungen Leute. So ungeduldig. Das zweite, was Du brauchst, ist natürlich Hoffnung. Die Hoffnung, das es nicht vergebens ist, nach den Sternen zu greifen. Denn deswegen wollen natürlich alle auf Lichtstrahlen wandern. Es ist der beste Weg, um zu den Sternen zu gelangen.
Jetzt wurde ich langsam neugierig. Natürlich glaubte ich nicht so recht an das, was der Alte da laberte von wegen auf Lichtstrahlen wandern und so. Aber was er erzählte, hatte so eine ganz eigene Wahrheit.
‚Was also ist die dritte Sache? fragte ich ihn.
‚Neugierig, was? Der Alte schien sich köstlich zu amüsieren. Es machte ihm sichtlich Spaß, mich zappeln zu lassen.
‚Nun sag schon. Umspielte da nicht ein leichtes Lächeln ihre Lippen?
‚ Na gut. Also, die dritte Sache, sagte er, ‚das ist selbstredend das Vertrauen. Licht alleine kann keinen Menschen tragen, das wußte schon Einstein. Aber mit etwas Glaube und Vertrauen, das es wirklich gehen kann, damit kann man selbst auf einem Dunstschleier wandern, vorausgesetzt...
Vorausgesetzt, es ist ein magischer. Jetzt lächelte sie wirklich ein wenig. Steve wurde es etwas leichter um sein Herz.
Ja. Genau. Natürlich glaubte ich immer noch nicht daran, das es wirklich eine magische Lampe war, aber ich fand die Geschichte so schön, ich mußte sie einfach kaufen. Außerdem, die Vorstellung, auf einem Lichtstrahl zu den Sternen zu wandern, hatte schon etwas. Aber eines wollte ich noch wissen.
‚Aber was passiert, wenn die Batterien versagen?
Da lachte der alte Mann, und sein Bauch hüpfte ganz hektisch auf und ab dabei. ‚Mein Junge, du hast es wirklich noch nicht verstanden. Diese Lampe läuft doch nicht mit Batterien. Sie wird von Liebe gespeist. Batterien, das ist wirklich gut. Und er lachte weiter und weiter.
Steve grinste sie breit an. Da war wieder dieses altbekannte Leuchten in ihren Augen. Er hatte das richtige getan.
Und? Sie hob ihre Augenbraun und schaute ihn erwartungsvoll an.
Und was? Ich habe die Lampe gekauft, und da steht sie nun.
Ich meine, hat sie nun Batterien?
Steve zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung. Sie läßt sich nicht aufschrauben. Aber ich habe sie nun schon eine halbe Ewigkeit, und sie ist nie schwächer geworden.
Das Mädchen strich ihm mit der Hand über die Wange. Danke. Dann wand sie sich aus seinen Armen, stand auf und ging zur Taschenlampe hinüber.
Steve folgte ihr. Für ein paar Minuten standen sie vor der Lampe, Hand in Hand, und sahen dem Spiel der Nebelschwaden im Lichtschein zu.
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Hast du es jemals probiert?
Auf dem Lichtstrahl zu wandern? Er schüttelte den Kopf. Weißt Du, Ich hatte nie das Vertrauen in diese Geschichte. Es hätte nicht geklappt bei mir. Außerdem hat der alte Mann bei seinen Bedingungen wohl eins vergessen.
Und was?
Man muß es wirklich wollen.
Kurzes Schweigen, dann löste sich die Hand des Mädchens, und sie stieg auf den Baumstumpf, stellte sich neben den schrägen Lichtstrahl. Sie blickte nach oben, in den Nebel hinein.
Schade, daß heute die Sternen nicht zu sehen sind. sagte sie leise, fast wie zu sich selbst. Dann wendete sie sich Steve zu.
Ich möchte es probieren.
Was?
Sie lächelte wieder. Aber in diesem Lächeln war eine verzweifelte Hoffnung, der Wunsch, allem zu entkommen.
Ich möchte auf dem Lichtstrahl wandern, zu den Sternen, weg von Ihm. Ich möchte es versuchen.
Steve war wie vor den Kopf gestoßen. Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee...
Sie legte den Finger auf ihre Lippen, und Steve verstummte. Dann blickte sie auf den Lichtstrahl, drehte sich so, daß sie in Richtung des leuchtenden Pfades schaute.
Einmal blickte sie sich noch um. Da war tiefe Angst in ihren Augen, und sie nagte auf ihrer Unterlippe.
Steve?
Ja?
Bitte... Sie mußte schlucken. Bitte paß auf, daß Er nicht die Lampe wegzieht. Nicht dieses mal.
Steve konnte nur nicken. Sie glaubte es. Sie glaubte es wirklich. Was hatte er da angestellt?
Ich liebe Dich.
Es war nicht mehr als ein Murmeln, und er war nicht sicher, ob sie es gehört hatte, aber sie nickte kurz, und eine Träne entkam ihrem linken Auge.
Dann wendete sie sich dem Lichtstrahl zu
Setzte ihren linken Fuß auf den Weg aus Licht
Dann den rechten
Und ging los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
 

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