Zwischen den Geschichten

Irgendwo dort draußen schreibt jemand Geschichten. Es sind keine gewöhnlichen Geschichten, nein, es sind lebendige Geschichten, wahre Geschichten.
Ihr Verfasser hat viele Namen. Schicksal, Zufall, Leben und Gott sind nur einige. Und er hat viele Helfer, die wir Glück, Pech, Zeit, Mut und Verzweiflung nennen. Seine Geschichten sind mal lustig, mal traurig, manchmal hoffnungsvoll und dann erschreckend. Er behandelt sie alle gleich. Seine Akteure sind die außergewöhnlichen dieser Welt, die Träumer, denn die Geschichten selbst sind Träume, das Spiel von Licht und Schatten, und sie leben von ihren Gestalten.
Irgendwo dort draußen nähert sich eine Geschichte gerade ihrem Ende. Der Schreiber läßt den Stift sinken und lächelt zufrieden. Die Geschichte hält den Atem an, für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen. Dann beginnt die Geschichte, sich selbst weiterzuschreiben, denn es ist eine lebendige Geschichte, mit lebendigen Akteuren. Und manchmal, wenn der Geschichtenerzähler seinen Stift zur Seite legt, macht sich eine der Gestalten selbständig und übernimmt das Steuer. Aus dem Epilog wird eine Einleitung.
Was passiert mit einer Geschichte nach ihrem Ende? Was wird aus der zweiten Besetzung, die ihren Traumprinzen nicht finden konnte? Was wird aus den Schatten? Nun, wir werden sehen...

"Willst du diese Frau zu deiner angetrauten Ehefrau nehmen, sie lieben und ehren, in guten und in schlechten Zeiten, bis das der Tod euch scheidet?"
"Ja, ich will."
Dann der Kuß, und eine Welle des Glücks läuft durch die Gäste der Kirche, bricht sich an der Gestalt am Eingang und zerspringt in tausend scharfe Eissplitter.
Die Gestalt wendet sich ab und verschwindet leise durch die Hintertür. Eine Träne fällt zu Boden, dann schließt sich die kleine Pforte, und sie ist alleine mit der Nacht.
Sie beginnt, die Straße entlangzugehen, einfach, um irgend etwas zu tun, vielleicht der Schmerz davonzulaufen. Sie hatte nicht glauben wollen, daß es so weh tun würde. Nun, sie hat sich geirrt, und es ist ihre eigene Entscheidung gewesen.
Langsam laufen die Straßenlaternen an ihr vorbei, werden immer weniger. Aber das ist nicht weiter wichtig, denn der Vollmond scheint hell durch die Nacht. Sie weiß schon lange nicht mehr, wo sie sich befindet, aber das ist egal. Die Geschichte fand ihr Ende, sie hat ein Happy-End, nur, es ist nicht das ihre.
Und wieder der Gedanke: Sie hat es ja so gewollt.
"Und Du hast richtig daran getan."
Erschrocken blickt sie auf. Die Gestalt vor ihr schien direkt aus dem Nichts entsprungen zu sein, oder besser, aus den Schatten. Ihr weiter Mantel wehte in der frischen Sommerbrise, mußte aus sehr leichtem Stoff bestehen, vielleicht Seide. Er wallte um sie wie ein lebendiger Schatten, Materie gewordene Dunkelheit.
Ihr Gesicht stand im krassen Gegensatz zu diesem seltsamen Kleidungsstück. Es war schmal und bleich, wirkte im Vergleich zum Mantel wie ein weißer Fleck, ganz wie der Mond am schwarzen Firmament. Nur die Augen...sie waren von tiefen Grün, ein Blick genügte, um sich in ihrer Unendlichkeit zu verlieren. Sie ruhten ruhig auf der jungen Frau, und obwohl das Gesicht des Fremden ernst war, schien er zu lächeln.
Der junge Mann war ihr sofort uneingeschränkt vertraut, und doch umgab ihn eine Distanz, die unüberwindlich war. Das alles erfaßte sie in diesem kurzen Augenblick, es blitzte in ihrem Verstand auf und war im nächsten Moment vergessen. Nur die Ahnung eines Gefühls blieb, wie das Nachleuchten vor den Augen, wenn man kurz in grelles Licht blickte.
Der Zauber verflog, ein gestottertes "W-was?" verließ ihren Mund.
Nun wurde das Lächeln auch auf seinen Lippen sichtbar. Seltsamerweise wurde es dadurch weniger wirklich.
"Du hast das Richtige getan, deine Rolle in der Geschichte gespielt. Eines Tages wirst du deine eigene Geschichte erleben."
Sie hatte das Gefühl, als würden seine Worte ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. Für einen Moment schien die Welt sich wirklich aufzulösen. Sie kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder. Alles war normal, bis, natürlich, auf den Fremden, der immer noch vor ihr stand mit seinem regungslosen Blick. Sein Mantel hing nun leblos an seinen Schultern herab, schien schwer wie samt zu sein.
Einen Moment lang wollte sie weglaufen, aber dieses Bedürfnis verging so schnell wie das Schwindelgefühl. Statt dessen fragte sie:
"Wer bist du?"
"Der Fremde verbeugte sich, der Mantel wogte unter der schwungvollen Bewegung.
"Ich habe viele Namen, aber für euch werde ich der Poet der Nacht sein."
Wieder trafen sich ihre Augen, und für einen Moment schienen die seinen von innen heraus zu leuchten, ganz so, als würden Kerzen in einem dunklen Fenster stehen.
Die junge Frau war unfähig, sich zu rühren, erstarrt in kristallklarer Faszination.
"Was bist Du?" war ihre nächste Frage. "Ein Engel? Ein Dämon?" Ein Vampir? Was?"
Ein helles Auflachen, mit zurückgeworfenem Kopf, kein schönes Lachen, aber rein und unschuldig, voller Freude an ihren Worten.
"Nein." erwiderte er mit fröhlicher Stimme. "Ich bin ein Mensch wie du, und eine Seele der Nacht. Ein Wesen aus Fleisch und Blut, sterblich in seiner Unsterblichkeit." Er streckte ihr die Hand hin. "Komm mit." rief er ihr zu, und seine Worte hatten nichts gemein mit einem Befehl, waren nicht mehr und nicht weniger als eine Einladung.
Und wahrhaftig, sie ergriff seine Hand und folgte ihm hinaus in die Nacht.

"Willst Du diesen Mann zu deinem angetrauten Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, bis das der Tod euch scheidet?"
"Ich will."
Der Kuß, und eine Welle des Glücks strömte durch die Gemeinde, überrollte die dunkle Gestalt am Eingang. Sie ließ sich von den Gefühlen treiben, schwamm mit ihnen hinaus in die Nacht. Wieder eine Geschichte zu einem glücklichen Ende geführt. Doch es gab noch so viele, so viele. Seine Schritte führten ihn durch die Schatten, lenkten ihn weg von den hellen Lichtkreisen der Straßenlaternen. Es war...
"Ich wußte, du würdest kommen."
Verblüfft starrte er auf die Gestalt, die aus einer der dunklen Seitengassen getreten war. Ihr Kleid war strahlend weiß, und sie hielt den langen Schleier in ihren Händen. Triumph sprach aus ihren Worten, aber auch Angst und Schmerz. Das erste mal sah sie ihren Poeten vollkommen überrascht. Er hatte sie hier nicht erwartet.
Sein Blick wanderte haltlos umher, wich ihr aus. Dies war der Ort ihrer ersten Begegnung, und ihr Hochzeitskleid leuchtete im Licht des vollen Mondes.
"Du solltest nicht hier sein." flüsterte er. "Deine Geschichte wartet darauf, fortgesetzt zu werden. Sie liegt nun allein in deinen Händen."
Die anfängliche Maske der Selbstsicherheit auf ihrem Gesicht wurde durchsichtig, die Angst schimmerte nun deutlich hervor.
"Du gehst?"
Er nickte. "Du hast nun deine eigene Geschichte Aber es ist nicht die einzige. Es gibt noch so vieles zu erzählen."
Ihre Stimme verlor den letzten Rest Kraft der anfänglichen Entschlossenheit.
"Du hast meinen Platz eingenommen. Du gabst mir eine Geschichte und übernahmst den Platz am Rand."
Wieder nickte er. Sein Mantel spielte mit den Schatten. "Der Kreis hat sich geschlossen."
"Nein!" Die plötzliche Heftigkeit ihrer Stimme ließ ihn zusammenzucken, sein Mantel sackte ab. "Nein." wiederholte sie. "So einfach ist das nicht. Ich kenne dich nun schon so lange, und weiß so wenig von dir. Es gibt noch so viele Fragen."
Seine ewig strahlenden Augen begegneten den ihren und wurden trüb.
"Erinnerst du dich an den ersten Augenblick unserer Begegnung?"
Nun war sie es, die nickte. Ihr Kleid raschelte leise und doch viel zu laut in der atemlosen Stille. Doch es war ein zögerliches Nicken, und ihre Stimme zitterte leicht, als sie ihm antwortete.
"Ja...vage. Ein Gefühl der Vertrautheit, und da war noch etwas..."
Ein kurzes, grelles Aufblitzen in seinen Augen.
"Reicht das nicht?"
Und mit einem mal hatte sie Angst, furchtbare Angst. Aber sie stellte sich ihr, wie er es ihr beigebracht hatte, ließ sich von ihr durchdringen und löste sich dann davon, ließ sie in die Nacht verpuffen. Ein wenig Furcht blieb, und das war schlimm genug. Nie hätte sie gedacht, daß sie sich je vor ihm fürchten würde. Aber es ging. Es mußte gehen.
"Nein!" Ihre Stimme war fest.
Die grünen Augen senkten sich. "Dann frag."
Sie hatte so viele Fragen, so viele Rätsel, die zu lösen sie sich nie getraut hatte. Und wenn sie den Mut fand, dann waren sie verschwunden. Doch nun kehrten sie alle zurück und manifestierten sich in einem Wort.
"Warum?"
"Wegen der Schatten." Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern, aber für sie waren die Worte so deutlich, als würde er sie hinaus in die Nacht schreien. "Wegen der Schatten der Vergessenheit. Er hatte sich über dich gelegt, und diese Schatten ziehen die meinen an wie das Licht die Fliegen. Wenn Licht auf eine Fliege fällt, wirft sie einen Schatten, klein zwar und schwach, aber er ist da. Wenn die Schatten der Vergessenheit auf uns fallen, werfen wir Licht. Das ist nicht alles, und mehr, als da wirklich ist, aber es ist alles, was ich dir sagen kann."
Mit diesen Worten wandte er sich zum gehen, sein Mantel folgte ihm wie ein Schatten.
"Warte!" Etwas in ihrer Stimme brachte ihn dazu, stehenzubleiben. Sein Mantel umschmeichelte sanft seinen Körper.
"Nur noch eine Frage. Bitte!"
Eine Träne fiel zu Boden, und es begann zu regnen. Nur der Mond schien unbekümmert durch ein Loch in den Wolken.
"Nun gut." erwiderte er, ohne sich umzudrehen. "Frag."
"Zwischen Licht und Schatten, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gestern und Morgen. Ist das dein Platz? Die dünne Grenzlinie zwischen den Gegensätzen? Ist das wirklich alles? Ist dir das wirklich genug?"
Ein Wirbel aus Dunkelheit, unendlich tiefgrüne Augen bohrten sich in die ihren. Der Schleier fiel, und der Augenblick wiederholte sich. Nur, diesmal fehlte die Distanz, und für einen kurzen Moment verstand sie vollkommen.
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, sie wurde so bleich wie er, so, weiß wie ihr Kleid. "Zwischen den Geschichten." flüsterte sie, dann brach sie ohnmächtig in seinen Armen zusammen.
Sanft streicht er ihr das Haar aus der Stirn und küßt die bleiche Haut. Dann legt er sie vorsichtig in den Lichtkreis einer Straßenlaterne. Ihr Mann wird sie finden, und sie wird sich an nichts erinnern. Dies ist nicht länger seine Geschichte, war es nie wirklich. Es ist vorbei.
"Möge die Nacht dich segnen, mein Kind." Seine Abschiedsworte, nur die Nacht selbst kann sie hören. Dann wird auch der Mond von den Wolken verschluckt, und die Gestalt verschwindet mit den Schatten.

Irgendwo dort draußen schreiben sich Geschichten, bahnen sich an und laufen aus. Es sind lebendige Geschichten, und ihr Vater sieht lächelnd zu, wie sie sich entwickeln. Er macht keinen Unterschied zwischen ihnen, er liebt sie alle. Aber es sind lebendige Geschichten, und so entscheiden sie sich selbst.

 

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