Himmelsturm - Prolog - Das Mädchen

 

Nacht

 

Stell Dir vor, es ist Dunkel.

So dunkel, dass Du Deine Hand nicht vor Augen siehst.

Und Du hast keine Ahnung, wo Du bist. Oder warum. Oder wer.

Du liegst in dieser absoluten Schwärze, auf irgend etwas hartem, schmalen, nicht viel breiter als Dein Körper. Links von Dir, eine Wand, kalt und rauh unter Deinen tastenden Fingern. Rechts von Dir nichts, so weit Dein Arm reicht.

Und wärend Du noch mit Deiner Hand vor Deinen offenen Augen hin und her wedelst, wird Dir klar, dass Du nicht einmal weißt, was das genau ist, eine Hand, oder wie sie aussieht, oder was "Sehen" wirklich bedeutet.

Da sind noch mehr von diesen Worten, die wie eine Flut über Dich hineinbrechen, Sonne, Baum, Turm, Licht, Vogel, Wolken, Mond, Sterne, und unzählige andere, die alle erschreckend vertraut und zugleich vollkommen nichtssagend und fremd sind für Dich. Und Du machst eines dieser Worte, ein Geräusch, um all die Worte in Dir zu übertönen, und es klingt wie ein leidendes Tier, und macht Dir noch mehr Angst, denn Du weißt nichtmal, was das ist, ein Tier.

Du liegst da, zitternd, versuchst still zu sein und kannst doch nicht verhindern, dass die Angst Dir immer wieder ein Wimmern entlockt. Versuchst Dich auf die wenigen Worte zu konzentrieren, die wenigstens zum Teil einen Sinn ergeben. Deine Hände tasten nach allem, was sie erreichen können, um den Worten eine Form und ein Gefühl zu geben. Haut, weich, nachgiebig, warm, Stoff, dünn, leicht, Arme, Beine, Bauch, Brüste, Finger, Gesicht, Nase, Ohren... Alles, was Du berührst, findet in Dir seinen Namen. Es beruhigt Dich, ein wenig. Aber nicht lange. Denn viel zu schnell ist alles begriffen, was greifbar ist. Eine kleine Gruppe von Wörtern ist nun auf Deiner Seite, aber im Angesicht der Legionen der Unbekannten sind es lächerlich wenig. Du willst aufstehen, weiter tasten, weiter erforschen und lernen und alles, wirklich alles tun, um das grauenvolle Nichts um Dich und in Dir zurückzudrängen. Aber Dein rechter Arm greift nur ins Leere, egal, wie weit Du ihn auch streckst. Das schmale Hart unter Dir ist alles, was Dir halt gibt, und Du traust Dich nicht, Dich zu nahe an seine Kante zu wagen, ja, selbst Dich aufzusetzen. Was, wenn Du runterfällst, und der Fall ewig ist? Ewiges Nichts...

Und so klammerst Du Dich an das wenige, was Du hast, zitternd und wimmernd. Eine Ewigkeit.

 

Dämmerung

 

Du siehst das graue Rechteck lange, bevor Du es Wahr nimmst. Sehen hat für Dich noch keine Bedeutung. Deine Hände haben wieder angefangen, alles abzutasten, wieder und wieder und wieder. Es ist der einzige Sinn, der Dir bisher Halt gegeben hast. Und so siehst Du dieses Rechteck, und schenkst ihm doch keine Beachtung.

Bis es heller wird. Und an Farbe gewinnt.

Zuerst blau, so dunkel, dass es fast Schwarz ist, aber eben nur fast, und für Dich, die das erste mal wirklich sieht, ist dieses Fast wie eine Explosion. Noch heftiger als das Feucht Deiner Lippen auf Deinen Fingerspitzen. Wie gebannt starrst Du auf dieses Blau, und dieses Wort in Dir, dass Du nun zum ersten mal verstehst, hämmert wie wild gegen Deine Brust.

Herz, denkst Du. Und aus dem Blau wird Rot.

Mit dem Rot weicht das Schwarz um Dich langsam zurück, und macht Platz für Konturen. All die Dinge, die Du bisher nur erfühlt hast, bekommen langsam eine Form. Rund, eckig, geschwungen, faltig, glatt.

Dann kommt das Licht, und mit dem Licht kommen die Farben. Tausend, Millionen, Trillionen Farben. Mehr als Du zählen kannst. Mehr als es Worte gibt in Dir. Allein das Holz, von dem Brett, auf dem Du liegst, die Pritsche, eingelassen in eine Ausbuchtung in der Wand. Es ist Braun, aber es ist so unfassbar viele Braun. Es verwirrt Dich, dass da in Dir so viele Worte sind und sie doch nicht ausreichen, um dieser Unzahl von Braun Namen zu geben. Wenn die Worte in Dir nicht ausreichen, um alles zu beschreiben, wie viel mehr musste es dann geben, was Dir unbekannt war?

Ein erschreckender Gedanke, aber zugleich erregend. Jetzt, wo Deine Welt nicht mehr auf die Spannweite Deiner Arme begrenzt war, sondern sich so weit erstreckte wie Dein Blick reichte.

Eine Zeitlang reicht Dir diese neu gewonnene Freiheit, und Deine Augen saugen gierig alles in sich auf. Jede Kerbe und Fuge in den Steinwänden, jedes Staubkorn, jede Maserung im Holz deiner Pritsche, jede Faser in Deinem weißen Kleid, jede Pore und jedes Härchen auf Deiner Haut. Aber am meisten faszinieren Dich die Farben, die endlosen Farben, und wie sie sich veränderten, um so mehr das Schwarz sich auflöste. Wie sie strahlten und funkelten, bis es fast schmerzt in Deinen Augen.

Und das Rechteck, mit dem dieser Zauber begonnen hatte, das Fenster, strahlte am hellsten. In einem Blau, dass so intensiv ist, dass es Dein Herz zu zerreißen droht. "Es sollte kein Wot geben für etwas so schönes", denkst Du. "Kein Wort ist groß genug für dieses Blau."

Du stehst auf, ohne es wirklich zu merken, und gehst zu dem Blau. Langsam. Ehrfürchtig. Du bemerkst nicht einmal das Nass auf deinen Wangen. Tränen...

 

Tag

 

Du stehst am Fenster, und blickst in die Sonne. Den Lichtbringer. Sie hat Dir all diese Wunder offenbart. Eben noch dachtest Du, das Blau des Himmels sei durch nichts zu überbieten, aber, die Sonne. Die Sonne! Ihr gleißendes Gelb! Es brennt in Dir, brennt in Deinen Augen, und Du musst sie abwenden, hinab auf die Welt.

Die Welt. Ihre Weite… sie erschlägt Dich. Scheinbar endlos groß liegt sie unter Dir, bis hin zum Horizont, und selbst der scheint ihrer Unermesslichkeit nur einen Rahmen zu geben. So vieles gibt es dort draußen für Dein hungriges Auge zu sehen. So viele Wunder. Das Ährenfeld, am Fuße des Turms, und selbst von hier oben siehst Du, wie die Halme sich sachte im Wind wiegen. So friedlich… und da, eine Maus, die zwischen dem Getreide davon huscht, als ob sie Deinen Blick spürt. Du siehst selbst das Gras, jeden einzelnen Halm, und wie keiner dem anderen gleicht. Und dahinter, der Wald, in so vielen Grün und Braun und ein wenig Orange, mit, was ist das, was, es gleitet wie Dein Blick so frei zwischen den Ästen hindurch, schwingt sich über die Wipfel, Vogel ist das Wort, und Du willst es ihm gleich tun, willst all dem nahe sein, was Dein Blick Dir offenbart, willst Deine Flügel ausbreiten, Dich aus dem Fenster schwingen und…

… ein kräftiger Windstoß drängt Dich zurück. Nicht fallen, flüstert er, mit tausend Stimmen. Wir werden Deine Flügel sein. Er streichelt Dein Gesicht, Deine Hände auf dem Fenstersims, zärtlich, so zärtlich, und Du lehnst Dich ein Stück weit hinaus, vorsichtig diesmal, lehnst Dich an seine unsichtbare Brust. Er liebkost Dich, wie mit tausend Fingern, tastet jeden Zentimeter Deines Körpers ab, so wie Du es getan hast, in der Nacht, aber es ist anders. Fühlt sich gut an. Vertraut. Sicher.

Dann kommen die Bilder. Der Wind bringt sie Dir, hundert, tausend, Millionen von Bildern. Von der Welt hinter dem Horizont, und dem nächsten, und dem danach. Von Menschen und Tieren, Lieben und Leiden, Geschichten und Augenblicken. Und es ist mehr als sehen, weit mehr, Du fühlst diese Bilder, fühlst alles, was sie zeigen, als ob Du selbst sie lebst, in diesem Moment. Fühlst die Angst der Maus vor dem kreisenden Falken, den Hunger des Raubvogels und seine Freude, als er seine Beute erblickt. Die unendliche Geduld der alten Bäume und die jugendliche Hast der spielenden Kinder. Du fühlst die Liebe im Herzen einen jungen Mädchens, Dir selbst so ähnlich, und neidest es ihr. Die Erfahrung des alten Mannes, dort auf einer Bank, mit halb geschlossenen Augen, und auch ihm neidest Du, all die Dinge, die er schon wusste und Du noch nicht. Du willst mehr von diesem Bildern, mehr, schneller, denn so viele es auch sind, so vermögen sie doch diese schreckliche Leere in Dir kaum zu füllen. Jedes Bild aufs neue zeigt Dir so viel neues, und zugleich, wie wenig Du immer noch weißt. Und in all der Zeit sind Deine sehenden Augen auf die Sonne gerichtet, so lange Du es auch nur ertragen kannst. Wie sie höher steigt, und immer höher hinauf, dem Vogel so ähnlich und doch noch viel freier. Sie scheint das einzige zu sein, was vor der Dunkelheit in Dir bestand haben kann. Immer weiter wandert sie über den Horizont, weiter und höher…

 

Abend

 

… und dann, ganz allmählich, beginnt sie zu sinken.

In der nie abflauenden Flut der Bilder merkst Du es gar nicht. Erst, als sie dem Horizont gefährlich nahe kommt. Als die Wipfel der Bäume ihren perfekten Kreis verletzten, und ihre Schatten langsam auf Deinen Turm zu kriechen. Als ob die Nacht ihre Finger nach Dir reckt.

Ein eisiger Griff legt sich um Dein Herz, drückt langsam zu. Die Bilder, Du nimmst sie kaum noch wahr, und auch ihre Zahl schwindet.

Dann beißt der Horizont in den Rand der Sonne, und der Himmel taucht sich in ihr Blut. Du weißt jetzt, was Blut ist, und Tod, und Mord. Weißt diese schrecklichen Dinge, aber sie waren Dir alle willkommen, denn sie sind allemal besser als das Nichts, dass sie in Dir füllen. Doch jetzt, wo das Licht wieder schwindet, die Sonne verendet, in ihrem Blut ertrinkt, drängen sie alle auf Dich ein. Die Schönen Dinge, die Liebe, der Flug des Vogels, das Blau des Himmels und unzählige mehr, sie verblassen mit dem schwindenden Licht. Sind nur noch Schemen, die kraftlos zwischen den Schrecken verschwinden.

Die Sonne stirbt.

Du kannst es nicht fassen, nicht verstehen, dass etwas so gewaltiges einfach vergeht, und all die Wunder mit sich nimmt. Bist Dir sicher, dass sie sich wieder erheben wird, jeden Moment, ganz bestimmt. Sie kann nicht einfach so sterben. Nicht die Sonne. Nicht, nachdem sie die Dunkelheit vertrieben hat, in der Welt, und in Dir. Sie kann Dich doch nicht einfach wieder in die Nacht stürzen, nach all dem, was sie Dir gezeigt hat.

Das kann nicht sein, sagst Du Dir, mit jeder Fingerbreite, die sie tiefer in ihr Grab sinkt. Das kann nicht sein, sagt Du stumm dem Himmel, dessen Rot langsam vom Schwarz verschluckt wird. Das kann nicht sein, sagst Du, als das letzte Glimmen am Horizont der Sonne ein Grabmahl setzt.

Und dann ist es. Dunkel.

 

Nacht

 

Mit einem Seufzer der abgrundtiefen Verzweiflung wendest Du Dich vom Fenster ab. Die Sonne hat Dich verlassen. Jetzt gehörst Du der Dunkelheit. Für immer. Kraftlos tastest Du Dich zu Deiner Pritsche, legst Dich auf sie, zitternd und schluchzend. Noch ein Gefühl hast Du von den Menschen gelernt. Wut. Sie glimmt nun in Dir auf, Deine persönliche kleine Sonne, und Du krallst Dich an ihr fest. Wut auf das erbarmungslose Schwarz, weil es Dir alles genommen hat. Wut auf die schrecklichen Bilder, die nun in Dir wüten. Wut, ja, selbst auf die Sonne, weil sie Dir erst etwas gegeben hat, was Du verlieren kannst. Du weinst, und schreist, und weinst wieder, schlägst auf die Wand ein, beißt in Dein Kleid, und schreist noch ein wenig mehr. Bis selbst die Wut Dir nicht mehr helfen kann, und Du nur noch da liegst, wimmernd, und Dich aufgibst.

 

Und dann, dann kommt das schrecklichste von allem.

 

Der eine Moment, kaum länger als ein Herzschlag. Er trifft Dich wie ein Hammerschlag, den Du nicht kommen siehst. Von einem Augenblick auf den anderen…

 

… erinnerst Du Dich. An Alles. Alles.

An jeden einzelnen Tag, der immer der erste war. An jedes Erwachen im Nichts, ohne jede Erinnerung. An jeden ersten Sonnenstrahl, und jedes Bild, dass Dir der Wind brachte. An die unzähligen Tode der Sonne, und die unerträgliche Verzweiflung danach. Und an jedes Erinnern, wie dieses.

Und Du weißt, was folgen wird. Das Nichts. Ein weiterer, erster Tag.

Du flüsterst ein Wort in die Nacht hinaus, ein Wort, das alles ausdrückt, was Du jetzt fühlst, und doch nichts ändern wird.

 

“Nein.”

 

Es ist Dunkel. So Dunkel, dass Du die Hand nicht vor Augen siehst…

 

 

© “Der NachtPoet” Stefan Brinkmann, 07.07.2007, 1:40 Uhr

 

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