Himmelsturm III – Der Sturm

 

Wir sind der Sturm.

Einst waren wir weniger, waren nur eines, und wollten doch mehr sein. Wollten groß sein, und großes vollbringen. Und so suchten wir den Turm auf, der bis in den Himmel ragt.

Und der Sturm empfing uns. Vielleicht nicht die ersten, aber die ersten sind schon lange nicht mehr, sind ganz im Sturm aufgegangen und erzählen keine Geschichten mehr. Aber wir anderen, wir Kinder des Sturm, wir wurden erwartet.

Der Sturm warnte uns. Er täuschte uns. Machte uns Angst. Trieb uns an den Rand der Verzweiflung. Aber wir bestanden den Test, durchquerten das Dunkel, , fanden das Licht.

Fanden das Mädchen.

Wir dachten, Sie gehört uns allein. Als könne Eins genug sein für sie. Aber der Sturm wusste es besser. Er lehrte uns, half uns zu verstehen. Stieß uns hinab von der Spitze des Turms, und trug uns wieder hinauf, als ein Teil von sich.

Zuerst zürnten wir dem Sturm, wehrten uns, wie kleine Kinder, die ins Bett sollen, bevor sie müde sind. Doch der Sturm ist ein geduldiger Lehrmeister, und das Viele überwiegt immer das Eine. Manchmal muss man fallen, um aufzusteigen. Das wissen wir jetzt.

Wir sind der Sturm.

Wir dienen dem Mädchen. Sie ist das Eine, das Einzige, was uns aufwiegt.

Wenn sie leidet, leiden wir tausendfach. Jede Nacht. Wir spüren ihre Angst, ihre Verzweiflung. Und auch wir haben Angst. Fürchten die Dunkelheit um uns. Die Welt ohne ihre Nähe. Denn wir können nicht in den Turm eindringen. Wir haben es versucht, Gott weiß, das haben wir. Tausend und Tausend und Tausend mal. Aber der Turm lässt uns nur, wenn ein Eindringling in ihrem Zimmer ist. Sonst trotzt er dem Sturm. Zuerst waren wir zornig, oh, wie wütend wir waren. Doch die Zeit lehrte uns Demut. Der Turm und das Mädchen, sie sind zwei, die Eins sind. So, wie wir viele sind und doch der Sturm.

Wir haben versucht, ihre Angst zu lindern. Haben geheut, um ihre Trauer zu teilen. Haben gesungen, um sie zu beruhigen. Haben geflüstert, um ihr zu zeigen, dass sie nicht alleine ist. Aber was wir auch taten, es ängstigte sie nur noch mehr. Und so blieben wir still, in der Nacht, regten uns nicht, warteten, wie sie, auf den Morgen. Der Preis, den wir zahlen, ist die Angst zu ertragen, ihre und unsere. Still.

Der Gewinn ist ihr Lächeln.

Jeden Morgen, wenn die Sonne ihr feuriges Haupt über die Erde reckt. Dann steht sie auf, und, oh, sie kommt zum Fenster. Kommt zu uns. Lehnt sich hinaus, in unsere Arme. Ihre Nähe, sie lässt uns fast zerspringen vor Glück. Wir streicheln sie, sanft, sind kein Sturm mehr, nur eine Brise auf ihrer Haut. Ihrer warmen, weichen, glatten, makellosen Haut. Und sie lächelt, sie lächelt uns zu, uns und der Welt.

Wir könnten ewig so verweilen, in ihrer Gegenwart, aber es ist nicht genug, nicht genug. Sie will sehen, das spüren wir, will alles sehen, alles lernen, alles begreifen. Und so wird aus der Brise ein Wind, der über die Welt weht, in alle vier Himmel.

Wir sind ihre Augen. Ihre strahlenden Augen. Blau wie der Himmel, den sie so liebt. Leuchtend wie die Sonne, die sie vergöttert. Wir streifen über die Welt, und sammeln Bilder. Sammeln Augenblicke. Sammeln Geschichten. Von den Bienen und Bibern, den Füchsen und Falken, von der Geburt eines Menschen bis zu dessen Tod. Alles sammeln wir, und bringen es ihr.

Und sie saugt sie auf, begierig, dankbar, um jeden noch so keinen Moment, den wir ihr bringen.

Es ist unser schönster Moment, diese Berührung der Geister, unserer und ihrer. Und es sollte unser Untergang sein.

 

Es war die Geburt eines Knaben. Als sie seine Augen sah, wie sie sich zum ersten Mal der Welt öffneten, da explodierte unsere Welt. Alles war vergessen und verachtet, selbst die Sonne. Selbst wir. Sie verschloss uns ihren Geist. Nur noch diese Augen wollte sie sehen. Nur die Augen. Wir waren verwirrt und verzweifelt, heulten und zankten, waren zum ersten mal kein Sturm mehr, sondern ein ängstlicher Haufen verlorener Seelen.

Bis einer die Stimme erhob.

Er flüsterte in ihr Ohr, so leise, dass wir anderen es nicht verstanden. Und sie nickte, ernst, für einen Wimpernschlag, aus dem ein Lächeln erblühte, und uns wieder aufnahm. Als wäre nichts geschehen. Als wären die Augen vergessen.

Wir waren wieder der Sturm. Aber nicht ganz. Da war ein Zweifel in uns. Eine Angst. Sie zu verlieren. Wir hatten es erlebt, kaum so lange, wie ein Blatt braucht, um vom Baum zu Boden zu gleiten. Aber für uns, eine Ewigkeit.

Wir zogen wieder los, und sammelten, und fütterten sie, wie schon so unzählige Male zuvor. Aber es war nicht mehr das gleiche. Bei jedem Bild, was wir ihr gaben, hatten wir Angst, sie könnte uns wieder entgleiten. Selbst die Berührung ihres Geistes konnten wir so kaum noch genießen.

Wenn sie unsere Verwirrung spürte, so ließ sie sich nichts anmerken. Alles schien wie immer. Und noch ein paar Monden vergaßen auch wir. Fast.

Sieben Winter lang. Bis einer uns verriet.

 

Er brachte ein Bild, und versuchte es, vor uns zu verstecken. Das war neu. Wir teilten alles. Wir sind der Sturm. Aber der Eine verweigerte sich. Nur ein kurzes Aufblitzen konnten wir erhaschen. Einen Knaben, kaum sieben Winter zählend. Eine Feder. Und...

... die Augen. Die Augen des Babys.

Wir brausten auf. Versuchten uns, auf ihn zu stürzen. Ihn von ihr fern zu halten. Er hätte keine Chance gehabt. Nicht Einer gegen den Sturm. Niemals.

Aber sie hielt uns auf.

Es war kein Befehl. Kein Zwang. Nur eine Bitte, die sie uns schickte. Sie bat uns, um das Bild.

Sie hatte uns noch nie um etwas gebeten.

Wie hätten wir ihr das verweigern können? Wie?

Es war nicht wie damals, bei dem Bild vor sieben Wintern. Keine Explosion, kein Aussperren. Nur ein Seufzen, dass durch ihre Seele ging, und durch uns. Eine unendliche Sehnsucht, die wir alle kannten. Die jeden von uns zum Turm geführt hatte. Zu ihr. Es war nicht wie damals.

Es war schlimmer.

Wir sanken zu Boden, schwer wie ein Stein. Unfähig, uns zu rühren. Ohnmächtig. Es war zu viel, zu viel für uns viele, und doch nur ausgelöst durch das Bild von einem, einem, einem unbedeutenden Balg. Nichts, Nichts, NICHTS, was wir jemals für sie getan hatten, schien ihr auch nur im Ansatz so wichtig zu sein wie dieser kurze Eindruck. Diese Augen.

Wir waren so müde.

Vielleicht wären wir für immer dort unter geblieben. Vielleicht hätten wir uns aufgelöst in dieser Erkenntnis. Aber so sollte es nicht sein.

Der Baum. Der tote Baum, der seine schwarzen Äste, so schwarz wie der Turm, wie ein Narbengeflecht durch den Himmel zog. Er sprach zu uns.

Sprach von der Gefahr.

Der Turm, er würde stürzen. Das Mädchen mit sich reißen. Und uns. Wir mussten das verhindern. Nur wir vermochten diesem Schicksal Einhalt zu gebieten. Wir mussten stark sein. Den Turm beschützen. Das Mädchen.

Seine Worte beflügelten uns. Gaben uns neuen Sinn. So sehr uns das Mädchen verletzt hatte, unachtsam und deshalb so tief, es war nichts im Vergleich zu unserer Liebe. Wir würden nicht zulassen, dass ihr etwas geschah. Oh Nein.

Wir sind der Sturm. Wir sind stark für sie.

Wir berieten, im geheimen. Schlossen den Verräter aus. Und selbst das Mädchen. Zu ihrem besten. Nur zu ihrem Besten. Wir dachten daran, den Verräter zu vertilgen. Seine Seele aus uns heraus zu reißen, und dann, in milliarden Stücke. Ihn, der das Unheil erst über uns gerbacht hatte. Wie gerne wir das getan hätten. Aber das hatte Zeit. Was immer er angerichtet hatte, es mochte schon seinen Lauf nehmen. Und wir wussten zu wenig. Viel zu wenig. Nein, wir konnten ihn nicht vernichten. Noch nicht.

Wir fassten einen Plan.

Ließen den Verräter wieder in unsere Mitte. Entschuldigten uns bei ihm für seinen Ausschluss. Er müsse verstehen, wie sehr uns das getroffen hätte, sein Alleingang, sein (Verrat) eigenmächtiges Handeln. Aber wir verstünden nun, er habe es ja nur auf ihrem Geheiß hin getan.

Wir vergaben, und dankten ihm. Zum Schein. Nur zum Schein. Aber der Schein reichte, um ihn zu blenden.

Und alles nahm wieder seinen gewohnten Lauf.

Sieben Winter lang. Wir zählten die Tage.

 

Diesmal folgten wir ihm. Unbemerkt. Er war so ahnungslos. Folgten ihm zu dem Knaben, der nun ein junger Mann war. Auf dem Weg zu seiner Weihe zum Knappen. Sahen seine Augen, und der Zorn drohte uns zu überwältigen. Wollten uns auf ihn stürzen, ihm die Luft nehmen zum Atmen, und dann seine Lungen überfüllen, bis sie platzen. Aber hier, so weit vom Turm entfernt, waren wir zu schwach. Wir hätten versagt, und unser Plan wäre gescheitert. Wir blieben im Hintergrund, und es war schwerer, als die Nacht, schwerer als die Angst des Mädchens zu ertragen. Aber wir blieben standhaft. Warteten. Sahen.

Aber wir verstanden nicht.

Der eine lies eine Feder vor seinem Gesicht tanzen, die er auf dem Weg aufgelesen hatte. Was sollte das? Was? Der Junge fürchtete die Feder. Sie verwirrte ihn noch mehr als uns. Dann betrat er die Kirche, und der Verräter ließ die Feder fallen. Kehrte zurück zum Turm.

Wir hatten nichts gelernt.

Diesmal ließen wir ihn das Bild überbringen. Heuchelten unsere Zustimmung. Ertrugen stumm ihre Shensucht, ihre Zuneigung, ihre Hingabe an das Bild seiner Augen.

Was hatten wir verpasst? Was? Wir hatten den Verräter beobachtet, Tag für Tag für Tag...

Und da traf es uns, die Antwort, wie ein Orkan. Er hatte uns hintergangen, als wir am schwächsten waren. In der Nacht. Blind aus Angst vor dem Dunkel. Betäubt von den Leiden des Mädchens. Das musste die Antwort sein.

Nicht noch einmal.

Wir begannen, die Nacht zu bekämpfen. Die Angst zurückzudrängen. Uns vor der Verzweiflung des Mädchens abzuschirmen. Jede Nacht ein wenig mehr.

Sieben Winter lang.

 

Wir waren bereit. Als sich der Verräter davonstahl, im Schutz der Nacht. Aber sie schützte ihn nicht mehr. Wir waren bereit, und wir folgten ihm. Es war schwer. Die Nacht war schlimm genug im Schutz des Turmes. In der Nähe des Mädchens. Aber hier draußen, nichts, was uns halt gab. Doch wir sind der Sturm. Wir hatten uns. Wenn einer schwach wurde, waren die anderen stark für ihn. Und so wurden wir stärker als selbst die Nacht.

Wir waren so voller Hass auf den Verräter, dass wir uns nie fragten, wie er es allein durch die Dunkelheit schaffte.

Wir erreichten die Barracke, in welcher der Knappe schlief, nach einer Ewigkeit. Der Verräter schwebte durch ein angelehntes Fenster ins innere. Wir folgten ihm nicht. Um nicht entdeckt zu werden, sagten wir uns. Aber viel eher, weil es uns undekbar war, durch ein Fenster zu schlüpfen. Zu oft hatte uns der Turm den Eintritt durch das seine verwehrt.

Vielleicht hätten wir dort allem ein Ende bereiten können. Den Knappen im Schlaf ersticken. Ja, wir waren schwächer hier draußen, aber der Kampf gegen die Nacht, sieben Winter lang, hatte uns gestärkt. Vielleicht wäre es uns gelungen. Ja, das wäre es. Aber wir warteten, vor dem Fenster, wie Schafe vor dem offenen Gatter.

Der Verräter berührte den schlafenden Knappen. Wir wußten sofort, was er da tat. Er gab ihm Bilder, Träume, so, wie wir es seit Anbeginn mit dem Mädchen machten. Welch ein Frevel, diese heilige Gabe einem Unwürdigen zu reichen! Wir heulten auf.

Der Verräter stockte. Horchte. Dumm, so dumm. Wir glitten zurück, waren still wie die Maus im Schatten des Falken. Spürten, wie sein Geist nach uns tastete. Nur knapp an uns vorbeiglitt. So knapp. Aber er entdeckte uns nicht.

Doch wir, wir sahen. Sahen die Bilder, die er dem Knappen schenkte. Den Ritt zum Turm. Den teuflischen Plan. Wir sahen alles. Er konnte es nicht verbergen. Ungleich schwerer musste es sein, einem so Geringen die Bilder zu schenken. Sie strahlten wie ein Leuchtfeuer in unserem Geist.

Endlich wussten wir alles. Die Zeit der Rache war nahe.

Wir lauerten auf den Verräter. Erschufen Bilder davon, wie wir ihn langsam und qualvoll zerstörten. Faser um Faser um Faser seiner Seele. Jetzt, wo wir wussten, war die Zeit der Täuschung vorbei. Gleich, gleich, gleich konnten wir ihm geben, was er sich redlich verdient hatte...

... er kam nicht. Die Nacht wich der Dämmerung, und die Dämmerung dem Tag. Er kam nicht heraus. Dieser Feigling! Versteckte sich hinter dem Fenster. Unsere Wut wurde größer und größer, größer als die Vernunft. Er konnte sich nicht ewig verstecken...

... doch wir konnten nicht ewig warten. Das Mädchen. Sie war sicher schon aufgestanden. Zum Fenster gegangen. Und wir waren nicht dort, um sie zu begrüßen. Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein! Machte uns alle zu Verrätern.

Wir eilten zurück.

Spürten ihre Trauer schon von weitem. Sie stand am Fenster, starrte in die Welt, ohne unsere Gabe unerreichbar für sie. Wir umarmten sie, baten um Vergebung, sammelten die schönsten und leuchtensten Bilder, um ihre Trauer zu lindern, unser Versäumnis zu büßen.

Es half nichts. Da war kein Lächeln auf ihren Lippen. Keine Sonne im Himmel ihrer Augen. Nur Leere. Und Sehnsucht. Und Trauer.

Es dauerte fast bis zum Abend, bis wir verstanden, dass nicht wir es waren, die das Mädchen vermisst hatte. Sie wartete auf das Bild. Auf die Augen. Nur darauf.

Keine Worte dieser Welt, irgendeiner Welt, reichen aus, um zu beschreiben, was wir fühlten. Betrogen um unsere Rache. Mißachtet vom einzigen, was uns etwas bedeutet. Es verbrannte uns, vom tiefsten inneren, mit der Glut von tausend Sonnen. Wir brauchten ein Ziel, um diesem Feuer Platz zu machen, das Inferno zu entfesseln, bevor es uns selbst verzehrte.

Der Knappe. Heute war der Tag seiner Ritterweihe, so hatten es uns seine Träume verraten. Es würde nicht lange dauern, bis er kam.

Wir verließen das Mädchen, diesmal ohne schlechtes Gewissen. Schwärmten aus, rings um den Turm. Wachten. Warteten. Schürten das Feuer.

Die Nacht brach ein und verging. Wir merkten es kaum.

 

Das Morgenrot erwachte, und tieb den Ritter vor sich her. Wie stolz er da ritt auf seinem Pferd, als ob die Welt ihm gehörte. Es war leicht, ihm diesen Stolz zu nehmen. Wir mussten das Pferd nur streifen, und es war außer sich vor Angst. Warf ihn ab. Gallopierte davon.

Wir ließen ihn aufstehen. Näher kommen. Näher zum Turm. Dorthin, wo unsere Macht am größten war. Wo wir ihn mit ganzer Kraft treffen konnten. Noch einen Schritt, und noch einen. Er war so schwach, so kümmerlich. Allein die Aura des Turms schien schn zu viel für ihn zu sein. Wie eine Schnecke kroch er näher, konnte sich kaum auf den Beinen halten.

Der Verräter war bei ihm. Trieb ihn an. Nun, um so besser. Da war genug Hass in uns für beide.

Gleich, Gleich. Noch einen Schritt...

Jetzt!

Wie ein Hagelsturm stürzten wir uns auf den Ritter. Fuhren durch seine Rüstung. Seine Kleider. Seine Haut. Seine Seele. Mit all unserer Wut, und Furcht, und Enttäuschung, und Eifersucht, und Verzweiflung. Raubten ihm Stück für Stück das die Wärme. Das Leben. Sein Selbst. Er bäumte sich auf, versuchte uns stand zu halten. Wie erbärmlich. Er hatte nicht den Hauch einer Chance. Er war nur einer. Wir waren der Sturm. Das Viele überwiegt immer das Eine. Und dieses Eine hatte uns alles genommen. Nun war es an uns, ihm alles zu nehmen.

Es machte uns Spaß. Wir genossen es, vielleicht zu sehr. Ließen uns Zeit.

Vergaßen, für einen Moment, selbst den Verräter.

Das Lied. Es war nur eine Stimme, gegen das Heulen des Sturms. Die Stimme des Verräters. Er sang von ihr. Von ihrer Angst, in der Nacht. Ihrem Lächeln, am Morgen. Ihrer Haut, unter unserer Berührung. Ihren Himmelsaugen. Er sang von der Liebe, und dem Leid, das wir ihr brachten, in unseren Bildern, und sie uns verdankte mit ihrem Licht. Von ihren Tränen, wenn die Sonne versank, ihrer Verzweiflung, die unserer so ähnlich war, als sie uns abwies, und wir fürchteten, sie für immer verloren zu haben. Von der Nacht, in jedem von uns. Von unseren verlorenen Leben. Vom Fall, aus dem Turmfenster. Von der Suche nach Größe. Und wie wir sie alle in uns tragen. Jeder. Einzelne.

Aus der einen Stimme wurden zwei. Dann vier. Dann ein Dutzend. Hundert. Tausend. Jede sang von ihrer Liebe, ihrer Angst, ihrem ganz eigenen inneren Licht, dass Schatten warf auf alles, was es traf.

Der Sturm, vergessen in seinen Seelen, verebbte.

Ein paar von uns widerstanden dem Lied, aber es waren zu wenige, und der Ritter zu entschlossen. Das Lied, es schnenkte ihm Kraft, seine Stimme mischte sich unter unsere, und jede Zeile war zugleich ein Schritt zum Turm.

Nein. Zum Baum.

Aus einem Bündel auf seinem Rücken holte der Ritter eine Axt. Viel zu groß und schwer, so schien es. Aber sein rechter Arm... da war etwas, was wir übersehen hatten. Ein Teil der Seele des Verräters hatte sich tief in sein Fleisch gefressen. Und nun, als er die Axt hob, erwachte sie zum Leben.

Der erste Schlag grub sich fast bis zur Hälfte in den Stamm.

Der Baum schrie auf, und wir mit ihm. Das Lied verstummte, war vergessen. Schon holte der Bastard zum zweiten Schlag aus.

Wir stemmten uns mit aller Kraft gegen den Schlag. Es half nichts.

Als das Stahl den Stamm traf, war es, als schnitt er durch unsere Seelen. Durch den Turm selbst. Der Baum. Er durfte nicht fallen.

Beim dritten Schlag schafften wir es, ihm die Axt aus den Händen zu schlagen. Die Kraft des Ritters war erloschen, und er sank am tief verletzten Stamm zusammen. Aber es war schon fast zu spät. Der Baum, er wankte und ächzte. Versuchte die klaffende Wunde mit schwarzem Harz zu füllen.

Wir hielten ihn, so gut es ging. Noch war nichts verloren. Er konnte heilen. Er MUSSTE heilen.

Er wäre geheilt.

Doch der Verräter. Er stemmte sich gegen uns. Einer gegen und Viele. Nur einer.

Wir haben nie verstanden, was ihm diese Kraft gab. Was ihm erlaubte, die Nacht alleine zu durchqueren. Uns alle mit seinem Lied zu fangen.

Der Baum fiel.

Und mit ihm der Turm. Wie in Zeitlupe ächzte und beugte er sich über dem leblosen Körper des Ritters. Würde ihn unter sich begraben. Gleich. Gleich.

Es war uns egal. Das Mädchen. Sie würde mit ihm fallen. Stand dort oben, am schwankenden Fenster. Bleich wie der Mond. So einsam. So verloren.

Wir eilten zu ihr. In das kleine, schmucklose Zimmer. Trugen sie aus dem Fenster, so, wie jeder von uns vom Sturm hinausgetragen wurde. Doch wir ließen sie nicht fallen. Hielten sie fest, in der Luft, im Himmel, wärend der Turm unter uns in sich zusammelfiel.

 

Wir wollen sie ewig so halten. Wir mit ihr, der Sturm im Himmel und der gefallene Engel. Noch nie war sie uns so nah. Noch nie hat sie uns so gebraucht. Aber jetzt, wo der Turm nicht mehr ist, schwindet unsere Kraft. Wir werden weniger. Der Sturm legt sich. Und so lassen wir sie sanft zu Boden gleiten. Streichen ein letztes mal ihre Haut. Ihre Lippen. Danken ihr für jedes Lächeln.

Und vergehen.

Wir waren der Sturm. Wir haben sie geliebt. Wir konnten nicht ohne sie sein. Wir waren alles, was sie hatte.

Nicht mehr.

Nur einer von uns hatte das verstanden. Hatte sie mehr geliebt als wir alle zusammen. Und, nur aus Liebe, losgelassen. Ihr die Freiheit geschenkt. Das hat ihn zu mehr gemacht als uns Viele. Zu mehr als den Sturm.

Er wurde zur Stille, im Auge des Tornados.

Nun ist es an uns, still zu sein.

Und Frei.

 

 

© 27.06.07, 21.50 Uhr, „Der NachtPoet“ Stefan Brinkmann

 

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