Himmelsturm I: Der Junge

 

„Ich muss ihn sehen“, sagte ich zu meinem Wirt, einen freundlichen, kleinen, etwas rundlichen Kerl mit einem mächtigen, schwarzen Bart.

„Den Turm?“ fragte er entsetzt. „Seid ihr eures Lebens müde?“

Ich lachte. „Ihr glaubt doch nicht an die Geschichten von Magiern, Geistern und Göttern?“

„Das sind Ammenmärchen“, sagte mein Wirt mit ernster Miene. „Aber der Turm ist älter, als einer von uns zu sagen wüsste. Der Urgroßvater meines Urgroßvaters hat schon Geschichten von dem Himmelsturm erzählt. Damals noch von einem Engel, der Gott gegenüber ungehorsam war und als Strafe von ihm in den Turm gesperrt wurde, auf dass er Seine Schöpfung besser verstehe. Es ist ein verdammtes Wunder, dass diese riesige Steinsäule nach all den Jahren noch steht. Würde mich nicht wundern, wenn sie in sich zusammenfällt, sobald einer dumm genug ist, auch nur einen Fuß da rein zu setzen. Und die Treppe selbst, die wird nach all den Jahren so löchrig sein wie eine erste Beichte, und ebenso verlässlich. Nein, werter Herr, der Turm ist wirklich ein sehr gefährlicher Ort, wenn auch die Gründe um einiges profaner sind, als ihr sie vielleicht gerne hättet.“

„Ach was,“ erwiderte ich leichtfertig, „wenn er schon so lange steht, was sollte er dann ausgerechnet heute einstürzen?“

Sagte es, und machte mich auf den Weg.

 

Der Turm hatte etwas zutiefst verstörendes an sich. Schwarz und riesig ragte er in den Himmel, wie der Schaft eines gigantischen Speeres, den ein wütender Gott der Erde tief ins Herz gerammt hatte. Kein Wunder, das die Menschen sich Geschichten ausdachten, um ein solches Bauwerk zu erklären. Wer hatte ihn erschaffen? Und zu welchem Zweck? Ich wanderte nun schon seit ein paar Jahren durch die Lande, auf der Suche nach den Wundern dieser Welt, nach neuen Geschichten, neuen Abenteuern, hatte schon viele wunderliche Dinge erblickt, prunkvolle Schlösser und fabelhafte Wesen, aber etwas derartiges wie diesen Turm... Jeden Schritt, den ich auf ihn zumachte, schien er noch ein Stück gen Himmel zu wachsen, oder ich ein Stück zu schrumpfen. Bald schien der Turm die ganze Welt auszufüllen, und ich selbst war nicht viel mehr als eine winzige Ameise. Schritt für Schritt verdeckte er auch noch die Sonne, und fesselte, wie mir schien, selbst den Wind um seinen riesigen Stamm. Ich hörte ihn heulen und wüten in seinem Kampf, von dem Turm freizukommen oder ihn umzuwerfen, ein Geräusch, dass mir bis ins Mark drang und mir ein Schaudern vom Rücken bis in die Zehenspitzen jagte. Das seltsame war nur: Am Fuße des Turmes regte sich kein Lüftchen.

Gott, es war fantastisch! Mein Herz raste, und meine Knie fühlten sich an wie Gelee, aber das alles war nicht wichtig, wenn wo sonst als in solch einem Turm konnte sich die perfekte Geschichte verbergen?

Ich entdeckte eine Tür in der von Meisterhand erbauten Wand, so ebenmäßig waren die Steine gehauen, so nahtlos aneinander gefügt. Kein Wunder, dass der Turm all die Jahre überdauert hatte. Leider galt das offensichtlich auch für die Tür. Schwarz und massiv sah sie aus, wie sie dort der Wand wachte und jeden des Weges verwies. Sie sah nicht so aus, als wolle sie für mich eine Ausnahme machen. In meiner jugendlichen Begeisterung hatte ich nicht daran gedacht, vielleicht ein Brecheisen mitzubringen, wobei die Tür so aussah, als würde sie mit Leichtigkeit auch roher Gewalt standhalten. Für einen kurzen Augenblick wollte ich resignieren, mich umdrehen und meiner Wege ziehen, neuen Geschichten, neuen Abenteuern entgegen. Dieses markdurchdringende, triumphierende Heulen des Windes machte es auch nicht besser.

Doch da war dieses Gefühl, wie ein unausgesprochenes Versprechen, welches ich schon verspürte, seit mein Blick das erste mal auf den Turm fiel. Etwas wundervolles erwartete mich dort drinnen, ein Schatz, eine Geschichte, ein Traum, ich vermochte es nicht zu sagen. Wie ein Irrlicht tanzte es immer knapp neben dem, was ich wirklich erfassen konnte. Aber es war da. Irgendwo hinter dieser verdammten Tür.

Und nun, da ich schon einmal da war, konnte ich genauso gut mein Glück versuchen. Ich ging also hin und drückte versuchsweise die Klinke herunter.

Und war mehr als erstaunt, als mir die Klinke regelrecht in die Hand fiel. Dort, wo sie eben noch in der Tür gesteckt hatte, gähnte ein faustgroßes Loch.

Die Tür selbst schien ebenso überrascht wie ich, zögerte noch ein paar Momente und zerfiel dann mit einem leisen Seufzen zu schwarzem Staub.

Ich starrte etwas verdutzt auf die Klinke in meiner Hand, dann auf den Haufen vermoderten Holzes, zuckte mit den Schultern, warf dann die Klinke achtlos beiseite und betrat den Turm. Wie leicht man sich doch täuschen konnte.

Es war dunkel da drin. Ich meine, wirklich dunkel. Die Tür befand sich ausgerechnet auf der Nordseite, und kaum hatte ich drei Schritte in den Turm gemacht, konnte ich schon nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Diese Schwärze, ich vermeinte zu spüren, wie sie unter meine Kleidung kroch wie Pech und sich Stück für Stück über meine Haut legte. Ja, natürlich, ich hatte eine Fackel dabei, und einen Feuerstein, ich bin ein Geschichtenerzähler, aber nicht ganz auf den Kopf gefallen. Aber selbst, nachdem ich die Fackel entzündet hatte, wich die Dunkelheit kaum drei Fuß von mir. Zumindest konnte ich den Fuß der Treppe erkennen. Vorsichtig testete ich die unterste Stufe mit dem Fuß und verlagerte langsam mein ganzes Gewicht darauf. Sie schien zu halten. Zum Glück war die Treppe aus Stein gehauen, ebenso gekonnt wie die Wände. Die ersten Stufen tastete ich mich Schrittchen für Schrittchen voran, aber bald schon war ich von der Verlässlichkeit der Treppe überzeugt, und ich nahm geschwind eine Stufe nach der anderen.

Es ist schon seltsam, wie die anderen Sinne sich schärfen, wenn das Auge nicht viel zu tun hat. Der Wind, der draußen mit lautem Tosen und Heulen den Turm umrundet hatte, war hier drinnen nur noch als Flüstern zu hören. Ja, es schien fast so, als bestünde er aus tausend Stimmen, die alle gleichzeitig tausend Geschichten erzählten. Mit der Zeit erschien er mir immer mehr wie ein komplexer Gesang, ein Chor von verlorenen Seelen, der mich einlullte und meine Gedanken umkreise wie zuvor die Wände des Turms.

Ohne dem wirklich gewahr zu sein, stieg ich immer schneller empor, nahm zwei Stufen auf einmal, als folgte ich dem geheimen Versprechen einer alten Liebe, dass sich nun endlich erfüllen sollte.

So vertieft war ich in dem seltsamen Lied des Windes, dass ich kaum das Ächzen und Stöhnen der Treppe unter mir bemerkte. Erst als ich spürte, wie die Stufe, von der ich gerade mein Gewicht nahm, nach unten wegsackte, wurde mir klar, was passierte. Ich warf mich mit aller Kraft nach vorne, biss mir tief in die Unterlippe, als mein Kinn hart auf einer Stufe aufschlug, und krabbelte sofort weiter nach oben.

Keine Sekunde zu früh, denn schon lösten sich die Stufen, auf denen ich eben noch lag, und stürzten laut krachend und polternd in die Tiefe. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie sie auf weitere Teile der Treppe trafen und sie mit sich in die Tiefe rissen. Der Krach war ohrenbetäubend, auch ohne das Echo, welches sich wieder und wieder von den Wänden mit mächtigem Donnern auf mich warf.

Ich lag regungslos da, schwer atmend und mit geschlossenen Augen, bis auch der letzte Hall der Zerstörung verklungen war. Erst, als ich die Augen wieder öffnete, wurde mir klar, dass auch meine Fackel sich mit in den Abgrund verabschiedet hatte. Da saß ich also, in der absoluten Dunkelheit, auf einer mit einem mal gar nicht mehr so stabilen Treppe.

Ohne einen Weg zurück.

Es war kalt. Unglaublich kalt. Wieso hatte ich bisher nicht bemerkt, wie kalt es in diesem Turm war? Zitternd zog ich mein dünnes Hemd fester um mich. Da draußen war es ein lauer Sommertag, aber hier... wie lange hatte schon kein Licht mehr den Weg an diesen Ort gefunden? Diese Kälte, sie war vielmehr die vollkommene Abwesenheit jeglicher Wärme, allen Lichts. Ich konnte spüren, wie sie sich langsam durch meine sinnlos geöffneten Augen einen Weg in mein Herz suchte.

Ich war eingesperrt im Nichts, ohne Hoffnung, diesen Turm je wieder verlassen zu können. Die Treppe unter mir, zerstört. Die Wände zu perfekt, zu glatt, um an ihnen hinabzuklettern, ich war schon zu weit oben und es war zu Dunkel, viel zu DUNKEL! Vielleicht, dachte ich, als ich so dalag, wäre es besser gewesen, mit der Treppe hinab zu stürzen. Ein schnelles Ende, besser, als in der Dunkelheit langsam zu verenden. Ich nahm diesen Gedanken, drehte und wendete ihn wie einen kostbaren Dolch.

Immer noch säuselte der Wind sein ewig neues Lied, flüsterte tausend Geschichten. Ich schloss die Augen, wohl aus Gewohnheit, nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, und lauschte seinem Gesang. Es beruhigte mich etwas. Vielleicht schlief ich ein. Vielleicht träumte ich vom Fliegen, der Sonne entgegen, dem schönsten Licht der Welt. Vielleicht war es auch eine Geschichte, die der Wind mir erzählte. Ich weiß es nicht mehr. Was blieb, war der Gedanke, der Wunsch, nein, die unbändige Sehnsucht, noch einmal die Sonne zu sehen. Nicht hier zu sterben, in dieser kalten, leeren Finsternis. Dort oben. An der Spitze des Turmes war Licht. Warmes, lebendiges Licht. Ja.

Ich raffte mich auf und ging ich weiter. Dass heißt, ich kroch weiter, auf allen vieren, um mein Gewicht besser zu verteilen, jede Stufe neu ertastend. Ich dachte an meinen Wirt, an seine ernsten Augen, und verfluchte seine Prophezeiung mit jeder Stufe. Ich dachte an die Welt da draußen, an die Mädchen, und wie es sich anfühlt, verliebt zu sein. Wie Sonnenlicht auf dem Herzen. Ich schrie vor Frust und Verzweiflung, brach zusammen und kroch dann doch wieder weiter.

Der Aufstieg dauerte ewig.

Ich glaubte ein paar mal, das Licht zu sehen, über mir, einen kleinen, leuchtenden Punkt. Aber jedes Mal verschwand er wieder. Egal, es gab mir die Kraft, noch ein paar Stufen mehr zu bewältigen. Ich weinte sehr oft, und sage das, ohne mich zu schämen. Diese Schwärze hätte den stärksten Mann in die Knie gezwungen, und das Krachen und Poltern der stürzenden Treppe hallte immer noch in meinen Ohren. Ich weinte noch mehr, als nach einer Ewigkeit oder zwei der Lichtpunkt nicht verschwand, sogar größer wurde mit der Zeit. Fast wäre ich übermütig geworden und aufgesprungen, auf das rettende Licht zugerannt, und damit in den sicheren Tod. Nach den Stunden und Stunden des Krabbelns hätten meine Beine mich kaum getragen. Ich wäre einfach umgeknickt und den Teilen der Treppe in die Tiefe gefolgt. Aber ich riss mich zusammen und nahm verbissen eine Stufe nach der anderen. Ja, ich versuchte sogar, das Licht ganz aus meinen Gedanken zu verbannen, konzentrierte mich so gut es ging auf den überraschend glatten Stein unter meinen dennoch wunden Händen. Auf den Schmerz in meinen Knien. Auf mein mehr als beleidigtes Kreuz.

Es gelang mir nicht ganz, immer wieder lugte ich nach dem größer und größer werdenden Punkt, bald ein Rechteck, größer und höher. Wie eine Maus. Eine Katze. Ein Hund. ein... großer Hund.

Ein Mensch.

Wie ein Verdurstender zur Quelle kroch durch die Tür in das wärmende Licht.

Das Licht... es blendete mich fast ebenso sehr wie die Dunkelheit, aus der ich kroch, und bohrte sich zudem wie feurige Nadeln in meine Augen. Ich musste sie schließen, mich in eine Ecke kauern, und sie unter Tränen der Erleichterung und des Schmerzes langsam, ein Blinzeln ums andere, an das Licht gewöhnen.

Und so sah ich sie zunächst, in kurzen Bildern, als dunkler Schatten vor dem brennend hellen Quadrat des Fensters. Ich hielt sie zuerst für eine Statue, so regungslos stand sie da. Aber wer würde schon eine Statue direkt vor ein Fenster stellen? Jedoch, wenn sie aus Fleisch und Blut war, wieso hatte sie mich dann noch nicht bemerkt? Ich schluchzte wie ein kleines Kind und keuchte wie ein alter Mann. Das musste sie doch hören.

Aber sie regte sich nicht. Stand einfach nur da und sah aus dem Fenster. Nur ihr Haar, ihr langes, schwarzes Haar, bewegte sich sanft schwingend im Wind.

Ich versuchte aufzustehen, und im dritten Anlauf gelang es mir auch. An die Wand gelehnt und wackelig auf den Beinen, meine Knie mussten sich erst wieder an die Idee gewöhnen, ausgestreckt zu sein, aber ich stand wieder aufrecht.

Ich wollte etwas sagen, mich irgendwie bemerkbar machen. Nicht, dass sie erschrak, wenn sie sich umdrehte und mich so sah. Überall an mir klebte der jahrhunderte alte Staub des Turmes, vermengt mit meinem Schweiß und meinen Tränen. Meine Hosen waren an den Knien aufgescheuert, und sowohl Knie als auch Hände waren aufgeschrammt und blutig. Auch von meiner Lippe tropfte Blut, dass ich mir verschämt mit dem Ärmel abwischte. Nicht, dass es meine Erscheinung wesentlich verbessert hätte. Wäre hinter dem Eingang ein Spiegel gehangen, ich wäre sicherlich vor Schreck gleich wieder die Treppe hinunter gepurzelt.

Ich brachte immer noch nicht mehr hervor als ein heiseres Schluchzen.

Der Gesang des Windes war wieder da. Ich hatte ihn auf meinem Weg, dort unten, durch die Dunkelheit, vollkommen verdrängt, oder vielleicht war er auch verstummt. Jetzt hörte ich ihn wieder, deutlicher noch als zuvor. Er klang jetzt drängender, ganz so, als hätten sich nun alle Stimmen auf eine Richtung geeignet, wenngleich sie immer noch verschiedne Worte, ja Sprachen gebrauchten.

Unbeholfen stütze ich mich an der Wand ab und arbeitete mich in Richtung der Gestalt vor. Ich bemerkte kaum die rote Spur, welche meine wunde Hand auf den makellosen Stein zeichnete.

Immer noch keine Regung von ihr. Vielleicht lag es an dem Wind, dass sie mich noch nicht bemerkt hatte, denn um so näher ich ihr kam, um so lauter wurde er, das Flüstern wurde wieder zu einem Heulen, das Singen zu einem Kreischen. Wie seltsam, dachte ich noch, dann stand ich neben ihr.

Ihr Raum war nicht groß, und die letzten paar Schritte, vorbei an der kleinen Pritsche, in die Wand gebettet, hatte ich aus eigener Kraft geschafft. Die Pritsche war auch alles, was sich außer uns noch in dem Zimmer befand. Weder Tisch noch Stuhl, kein Herd, keine weitere Tür. Nur das Bett, das Fenster, und dieses Mädchen in weiß, mit den langen, schwarzen Haaren, die zärtlich mit dem Wind spielten.

Wie schön sie war! So anmutig und grazil wie von Meisterhand aus feinstem Elfenbein geschnitzt. Ihre Augen... sie leuchteten wie grüne Smaragde in der Abendsonne. Ihr Blick zur Sonne war so traurig wie der Blick einer Verliebten, die ihrem Schwarm auf ewig und viel zu lange Lebwohl sagen muss. Dabei strahlten diese Augen viel heller als die Sonne, viel heller als jedes Licht, dass ich bis dahin gekannt, ja, bis zu diesem Augenblick hatte ich nie wirklich gewusst, was das ist: Licht.

Und da stand ich, eifersüchtig auf den Wind, der sie so ungeniert liebkoste, unter ihr weißes Kleid kroch und durch ihr Haar fuhr, eifersüchtig auf die Sonne, der sie so selbstlos ihr Herz schenkte, wütend, weil sie mich keines Blickes würdigte, selbst jetzt, da ich neben ihr stand, sie musste mich einfach gesehen haben, warum zeigte sie keine noch so kleine Reaktion? Ich rief :“Hey! Hallo!“, aber der Wind heulte so laut auf, dass ich mein eigenes Wort nicht verstand. Ich wollte sie packen, zu mir umdrehen, aber wieder war es der Wind, eine Böe, so kräftig wie ein Faustschlag, die mich zurückwarf und ins taumeln brachte. Wie ein betrunkener torkelte ich rücklings gegen die Pritsche, fiel hinten über und stieß mir zu allem Überfluss noch den Kopf an der Wand.

Sie stand ungerührt am Fenster, sah der Sonne zu, wie sie gemächlich im Horizont versank.

Ich war fassungslos. War ich nicht nur um Haaresbreite dem Tode entkommen? Hatte ich nicht die Dunkelheit durchquert, auf Händen und Knien? War es da nicht das mindeste, dass sie mich zur Kenntnis nahm? Sie konnte mich doch nicht einfach so ignorieren, als ob hier jeden Tag einer reinmarschierte, der sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt hatte. Sie war das Licht, wegen dem ich dem Tode getrotzt hatte, der Verzweiflung und Finsternis. Ich musste ihr doch sagen, wie sehr ich sie liebte... denn ja, ich liebte sie, seit der Wind mir in der Dunkelheit ihren Namen zugeflüstert hatte. Ich liebte sie mehr als das Licht. Mehr noch als mein Leben. Mehr als die Liebe selbst. Ich liebte sie mit der Kraft von Tausend Herzen!

Ich sprang auf. Alle Zaghaftigkeit war von mir gewichen. Ich war noch etwas benommen von dem Aufprall, aber das hinderte mich nicht daran, mit aller Kraft auf sie zuzustürmen. Sollte der Wind doch versuchen, mich diesmal aufzuhalten. Sollte er nur! Ich würde es ihr zeigen! Mich. Mein Herz. Mein...

Die letzten Strahlen der Sonne verschwanden hinter dem Horizont, und mit einem Seufzen aus tiefster Seele wandte sie sich vom Fenster ab.

Der Wind hielt mich nicht auf. Im Gegenteil, er blies mir mit aller Kraft in den Rücken. Als ich aus dem Fenster stürzte, vermeinte ich noch, ihn lachen zu hören.

 

Sie kamen. Hoben mich aus den zerschmetterten Überresten meines Körpers. Riefen die Tiere des Waldes, um das zu entsorgen, was sie nicht brauchten. Hoben mich empor, immer höher hinauf, bis zur Spitze des Turmes. Dort warten wir, jede Nacht, bis sie sich am Fenster zeigt. Dann liebkosen wir sie, zerzausen ihr Haar und glätten es wieder, kriechen unter ihr Kleid und streichen wie Schmetterlingsflügel über ihre makellose Haut. Sie haben mir all die Gesänge beigebracht, die ihre zeitlose Schönheit lobpreisen, und manchmal denken wir uns neue Lieder aus. Wir sind nicht böse. Wenn einer wie Du sich dem Turm nähert, so versuchen wir Dich mir Tausend Zungen zu warnen. Wir können Dich Dinge glauben machen. Manche machen halt vor der Tür. Manche geben auf, wenn die Treppe vor ihnen einzustürzen scheint. Aber wir können auch nicht aufhören, von ihrer Vollkommenheit zu erzählen, und so gehen die meisten bis zum bitteren Ende.

Sie wird Dich nicht sehen. Nichts lebendiges, was ihr so nahe ist, wird jemals von ihrem Blick erfasst. Und wir lassen nicht zu, dass Du sie verletzt.

Wenn Du ihr nahe sein willst, dann komm zu uns.

Hier ist immer ein Platz frei.

Auf Immer und Ewig.

 

 

© “Der NachtPoet” Stefan Brinkmann, 17.02.2003, 13:00 Uhr

 

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