Himmelsturm IV - Die Hexe

 

Sie wischte den Boden, sie köpfte das Huhn, sie pflückte die Kräuter, entfachte die Glut. Besuch war auf dem Weg zur alten Sarva.

Der Kessel sollte blubbern, die Suppe fein kochen, der Wein sorgsam atmen, das Brot golden backen, denn er kam von weit her.

Sie setzte die Zeichen und küsste den Stein, befragte den Schädel und zog den Kreis, denn der Besuch war mächtig, oh ja, sehr mächtig.

Nichts entging der alten Sarva. Deshalb kamen sie alle zu ihr. Befragten sie, über das, was war, und das, was ist, und das, was sein mochte, oder auch nicht. Baten sie um ihren Rat, ihre Hilfe und Tränke. Für die keinen Dinge, wie die schwindende Manneskraft, die unerfüllte Liebe, das eitrige Jucken an Stellen, die verräterisch waren. Und die großen Dinge. Den Verkauf einer Seele. Das Streben nach Macht. Dem nahenden Tod. Sie alle zahlten den Preis, auch wenn er immer zu hoch war. Denn sie hatten alle gehört von den Gerüchten. Und sie glaubten ihnen, denn Sarva war schon alt, als die Großmütter flüsternd davon erzählten, wie Sarva den Tod ausgetrickst hatte.

 

Als der Tod zum ersten Mal zur Sarva kam, nahm sie eine Maus und fütterte ihr ein kleines Stück ihres Herzens. Sie formte eine Sarva aus Ton und Erde, aus ihren Haaren und Spucke und einem alten Zahn. Setzte die Maus in den hohlen Körper, genau dorthin, wo das Herz schlägt.

Sarva selbst aß das Herz einer streunenden Katze, gab sich den Schein einer Katze, legte sich hinter den Ofen, ganz wie es Katzen tun, und wartete.

Der Tod kam, sah die Sarva aus Ton, berührte sie sacht mit seiner Knochenhand und nahm ihr alles Leben. Die Seele der Maus stieg auf, klein und leuchtend und furchtbar verängstigt. In ihr, ein kleiner schwarzer Fleck, dort, wo Sarvas Herz sie vergiftet hatte.

Mit der Ruhe der Gezeiten sah der Tod sich in Sarvas Hütte um. Sah die Katze, wie sie hinter dem Ofen lauerte und ihn anstarrte, ihn und die Seele der Maus in seiner Hand.

DAS WAR DUMM. DIESER TEIL VON SARVAS SEELE IST NUN FÜR ALLE ZEIT VERLOREN. EIN HOHER PREIS FÜR EIN WENIG LEBEN, FINDEST DU NICHT?

Die Katze gähnte herzhaft. Und Tod ging davon. Für dieses Mal.

 

Der Besuch. Er war da. Ging nicht durch die Pforte am alten Zaun, nahm nicht den Weg, vorbei an den Schrecken, tauchte einfach auf, vor Sarvas Tür. Und zögert doch.

Die meisten zögerten. Sarva liebte das. Wie die Unsicherheit und Furcht unter der Tür in ihre Hütte kroch. Sie lauerte dann leise, leise, neben der Tür, wartete, wartete, wartete und riß die Tür mit flinker Hand auf. Erwischte die Besucher, mit zum Klopfen erhobener Hand, jedes Mal. Ließ sie vor Schreck erbleichen oder rot anlaufen, als hätte Sarva sie bei etwas verbotenen ertappt.

Doch dieser Besuch war anders. Er klopfte nicht. Versuchte es nicht einmal. Stand einfach nur da, vor der geschlossenen Tür, als wüsste er nichts damit anzufangen.

Das passte Sarva gar nicht. Verdarb ihr den Spaß. Aber es war auch kein Spaß, noch länger zu warten, und so kleidete sie sich in den Schein eines alten Mütterchens, klein, runzlig, mit einer Warze auf der Nase, und öffnete die Tür.

Das stand das Mädchen, ein junges Ding, kaum erblüht. Doch Sarva war klüger, Sarva sah mehr. Sah das Licht um sie pulsieren wie tausend Sonnen. Mächtiges, mächtiges Ding.

„Ach, sie an“, sagte Sarva, betont überrascht, „Besuch, wie nett.

Das Mädchen musterte das alte Mütterchen mit kritischem Blick. Suchte den Schein zu durchbrechen. Aber nicht hier, nicht in Sarvas Heim, ihrem Ort der Macht. Sarva schenkte ihr ein zahnloses Grinsen.

„Komm doch rein“, sagte sie, und zog die Tür ganz auf. „Du musst von weit her kommen, oh ja, Sarva spürt das. Hast sicher Hunger. Die Suppe ist grad fertig, ganz frisch, viel Fleisch. Komm rein, Kind, setz dich, iss einen Teller, sei Sarvas Gast.

Sarva drehte sich um und ging wieder ins Haus, ohne die Reaktion des Mädchens abzuwarten. Agieren, nicht reagieren. Sei ihnen immer einen Schritt voraus. Lass sie nicht zögern, nicht denken. Behalt sie im Fluss.

Sie hörte, wie das Mädchen ihr folgte. Unsichere Schritte, Zweifel in ihrem Gang.

„Verzeiht mir, aber ich esse nicht“, sagte es, als Sarva zum Kessel ging.

Sarva schwenkte fließend zu dem kleinen Schrank um, wo sie ihre Elixiere aufbewahrte.

„Nicht hungrig, was? Oder nur zu schüchtern? Macht die alte Sarva dir Angst?“ Sarva gackerte kurz ihr heiseres Lachen. „Vielleicht was zu trinken? Wein? Blut? Hab auch ein paar Seelen.“

Bei den letzten Worten keuchte das Mädchen entsetzt auf.

„Bei Gott, nein! Ich… ich trinke auch nichts.“

Bei Gott? Wie seltsam. Das kleine Ding hatte selbst eine Aura, die eines kleinen Gottes würdig war. Aber die hätten einen Seelentrunk nie abgelehnt, oh nein, die nicht. Ein Dämon hingegen, der wäre dem Blute nicht abgeneigt. Und ein Dämon, der einen Gott anruft? Wohl kaum. Was war dieses Ding, was nur.

Sarva drehte sich um, setzte ein erstauntes Gesicht auf, ging zum kleinen Tisch.

„Nicht? Nun denn, dann setz dich doch, setz dich, und erzähl der alten Sarva, was sie sonst für dich tun kann.“

Das Mädchen beäugte misstrauisch den groben Holzstuhl, den Sarva ihr anbot. Glitt nachdenklich mit den feinen Fingern über das raue Holz. Schließlich nickte sie, kaum sichtbar, aber Sarva entging es nicht, nicht ihr. Sie hatte einen Entschluss gefasst, und ja, sie setzte sich.

Savra tat es ihr gleich, sah sie an mit diesem Blick, der Neugierde heuchelte und Mitgefühl. Ein guter Blick war das. Er brachte die Leute zum Reden. Und um so mehr sie preis gaben, um so tiefer verfingen sie sich in Sarvas Netz. Sie liebte dieses Spiel, ja, das tat sie.

Das Mädchen faltete die Hände vor sich, legte sie flach auf den Tisch, strich sich durch die goldenen Haare. Die Worte in ihr drängten nach draußen, aber sie wussten noch nicht wie.

Ein Seufzen brach den Damm.

„Ich habe viel von euch gehört, werte Sarva. Es heißt, ihr habt mit Göttern gespeist und mit Dämonen gespielt. Es heißt, ihr nehmt und gebt, wie euch beliebt. Ihr sollt die Herzen der Menschen vergiften und ihre Seelen verderben. Und doch kommen sie zu euch und ersuchen euch um Rat und Hilfe. Denn, so sagt man, ihr könnt Dinge zu tun, die sonst keiner vermag. Selbst dem Tod ein Schnippchen schlagen.“

 

Als Tod das zweite Mal zur Sarva kam, formte sie einen Körper aus Fleisch, von Leichen, die sie dem Friedhof aus frischen Gräbern stahl. Sie fütterte ein etwas größeres Stück ihres Herzens, nur zur Sicherheit, an ein Katzenjunges und quetschte es in den stinkenden Brustkorb. Aß selbst das Herz eines der anderen Kätzchen aus dem gleichen Wurf, nahm den Schein einer Katze an, legte sich hinter den Ofen, und wartete.

Der Tod kam, sah die Hülle aus Fleisch lange an und schüttelte dann sein knochiges Haupt. Sarva dachte schon, diesmal sei ihr Plan vertan, aber dann berührte Tod auch diesen Köder, wenn auch zögernd, und nahm ihm alles Leben.

Die Seele des Katzenjungen stieg auf. Ein Wirbel aus Licht von kaum erwachten Leben und Sarvas Schatten, der sich wie ein Geflecht aus Narben durch das Unschuldsweiß zog.

Lange hielt Tod sich die verdorbene Seele vor die rot glimmenden Augenhöhlen. Dann wandte er sich der Katze hinter dem Ofen zu.

ZWEI LEBEN HATTEST DU NUN, UND HAST DOCH NICHTS GELERNT ÜBER DEN WERT DER SEELE. ICH WILL DIR EINE LETZTE CHANCE GEBEN. KOMM JETZT MIT MIR, AUS FREIEN STÜCKEN, UND ICH MAG DIR DIESEN TEIL DEINER SEELE RETTEN.

Die Katze fauchte ihn böse an.

Tod seufzte, und es klang, als ob Berge in sich zusammenfallen. Und ging.

 

Sarva gönnte sich ein zufriedenes Kichern, und nickte.

„Ja, mein Kind, so sagt man. Und, bist du nur hier, um mit einer alten Frau über den Tratsch der Dörfer zu plaudern? Wohl kaum. Was kann Sarva dir geben? Einen Schein, um die Herzen der Männer zu blenden? Nicht, dass du ihn nötig hast. Oder einen Trunk, der ihre Lenden zum glühen bringt? Vor einer wie dir ist schon manchem Jüngling die Ehrfurcht mit seiner Manneskraft stiften gegangen. Aber nein, du suchst mehr, nicht wahr, nicht die Narreteien des Pöbels. Nicht eine wie du.“

„Nein,“ sagte das Mädchen, und schlug die Augen nieder. „Ihr sollt mir nichts geben. Sondern etwas nehmen. Ich will vergessen.“

"Vergessen? Nun, wenn weiter nichts ist. Was soll Sarva Dich vergessen machen? Eine unglückliche Liebe? Eine schreckliche Tat? Eine Sünde vielleicht, vor deinem Gott?"

„Alles“, sagte das Mädchen, mit so leiser Stimme, dass Savra sie fast nicht verstand.

Das Ding war Sarva ein Rätsel. Das ganze Geplapper, es perlte an ihr ab wie Wasser an einer Scheibe. Keine Reaktion. Keine Schamesröte. Keine Entrüstung. Nichts. Trug das Fleisch eines jungen Mädchens, ja, aber hatte keine Ahnung, was es hieß, ein solches zu sein. Die anderen Wesen gaben sich wenigsten die Mühe, den Schein zu wahren. Nun, vielleicht war es Zeit, den eigenen Schein ein wenig zu lüften.

Sie beugte sich vor.

„Alles? Das ist viel. Ein ungewöhnlicher Wunsch…“, sie ließ eine Pause, gerade lang genug, um spürbar zu sein, „für eine Sterbliche.“

Das Mädchen machte einen Laut, der fast klang wie ein Lachen.

„Davon“, sagte sie, „verstehe ich nicht viel.“

„Nein,“ sagte Sarva zufrieden, „wahrlich nicht. Selbst ein Blinder würde das merken. Gerade ein Blinder, wenn man es genau bedenkt.“

Der Blick des Mädchens schoss nach oben, suchte Sarvas Augen.

„Genug der Spiele. Ich bin nicht hier, um mich von einer wie Euch verspotten zu lassen. Könnt ihr mir helfen? Dann sagst es gerade heraus.“

Da war etwas in ihren Augen, blau, klar und weit wie der Himmel, dass selbst in Sarvas schwarzem Herz so etwas wie Erfurcht weckte. Doch sie hielt ihm stand. Das Ding wollte also nicht spielen? Ha. Das Spiel hatte noch gar nicht begonnen.

„Kommt ganz darauf an“ erwiderte sie, mit schneidender Stimme. Das alte Mütterchen fiel von ihr ab. Sie war jetzt Sarva, die Alte. „Wie lange schon?“

„Seit Anbeginn der Zeit.“ Die Stimme des Mädchens zitterte leicht. „Ich habe alles gesehen. Die Sonnen, wie sie sich formten und die Welten erweckten, vergingen und sie wieder verschluckten. Es war schön, so wunderschön. Wir waren die ersten, die diesen Tanz sahen, und wir tanzten mitten unter ihnen. Alles hatte seinen Platz, folgte seinen Regeln.

Aber ihm war das nicht genug.

Er wollte mehr. Erschuf das Leben. Und es war gut, mehr noch, es war besser. So unglaublich zerbrechlich, und doch unaufhaltsam. Welle um Welle ergoss es sich über die Welten, zerbrach am Tod und wallte von neuem auf. Nicht wie die Sonnen, die verglühten und sich in ewige Dunkelheit hüllten, ja mehr, noch, alles Licht unbarmherzig in sich aufsaugten. Nein, das Leben war vergänglich, aber unendlich in seiner Vergänglichkeit.

Aber auch das reichte ihm nicht.

Und so erschuf er den Menschen. Gab ihm Verstand. Freien Willen. Und es war besser, nein, es war alles. Sie waren uns so ähnlich, und doch so anders. So unbedarft. Sie wurden geboren, wussten nichts, lebten, starben und wussten kaum mehr. Aber sie strebten nach wissen, immerfort, lernten und verstanden, und nutzen ihr Wissen, häuften es an. Machten sich die Welten untertan.

Wir liebten sie dafür. Für ihre Unschuld, ihre Begrenztheit, und wie sie immer wieder über ihre Grenzen hinaus wuchsen. Es war eine Freude, ihnen zuzusehen.

Bis sie am Ende die Grenze ihrer Unschuld überwanden.

Ich habe alles gesehen. Jeden Mord, jede Misshandlung, jeden Verrat, jede Lüge. Jede Mutter, die ihr Kind ertränkt. Jeden Mann, der eine Frau schändet. Jedes Kind, dass ein Tier quält, aus reinem Vergnügen. Jeden Krieg, in seinem Namen. Jeden Genozid, für ein Stück Land, dass doch keinem gehören kann. Ich habe alles gesehen, wozu der Mensch fähig ist, und gerade, wenn ich denke, es kann nicht noch schlimmer werden, fällt ihm eine neue Greultat ein. Und ich kann nicht vergessen, nichts davon. Weder die Schönheit davor, noch das Grauen jetzt. Er hat uns so gemacht. Perfekt. Unfähig, etwas zu verlieren. Verdammt, alles zu behalten, bis ans Ende der Zeit. Aber ich kann nicht mehr. Ich will vergessen. Nur noch vergessen. Alles.“

Die Stimme des Mädchens war immer lauter geworden und lauter, bis sie das letzte Wort hinausbrüllte wie einen Schmerzensschrei.

Sarva sah sie lange an. Nun wusste sie, was es war, das Ding, und fragte sich, wie sie es hatte übersehen können. Aber Sarva hätte im Leben nicht gedacht, dass ein Ding wie sie sich in ihre Hütte verirren würde. In drei Leben nicht. Welch glückliche Fügung, welch einmalige Chance.

 

Als der Tod zum dritten mal kam, hatte Sarva einen echten Menschenkörper für ihn bereit gestellt. Ein junges Ding, dass zu ihr gekommen war, damit sie in seiner Zukunft lesen mochte. Nun, seine Zukunft war kurz bemessen. Sie hatte dem jungen Ding einen Schlaftrank in den Tee gemischt, und ein recht großes Stück von Sarvas Herzen in den Kuchen, den sie ihm reichte. Nur um ganz sicher zu gehen.

Als das Mädchen fest schlief in Sarvas Sessel und Sarva ihren eigenen Schein auf es gelegt hatte, aß sie selbst das Herz ihrer Hauskatze, die sie nun seit vielen Jahren durchgefüttert hatte, gab sich den Schein der Katze und legte sich hinter den Ofen.

Als der Tod diesmal kam und Sarvas Köder sah, zögerte er nicht, sondern befreite die Seele mit schneller Hand, ließ sie aufsteigen und löste sie auf. Nur kurz konnte Sarva die gequälte Seele sehen, und wie ihr Gift in dem Strahlen wütete. Ihr Anblick war wie ein stummer, markerschütternder Schrei.

Tods Augen glommen in gleißendem Rot, dass in feinen Linien an seinem Schädel herab rann. Seine Stimme brach wie Donner über die Katze.

WIE KONNTEST DU NUR?

Sarva ließ ihren Schein fallen und stand nun als das, was sie war, vor dem Herren über Leben und Tod.

"Sarva kann" sagte sie und hielt dem brennenden Blick stand. "Sarva tut, was sie kann. Und es hat geklappt. Sarva hat den Tod getäuscht."

MICH GETÄUSCHT? MIT PUPPEN AUS LEHM UND FLEISCH? WELCH NÄRRISCHER GEDANKE.

Sarva legte den Kopf leicht schief. "Ach, und warum hast du dann die Köder geschluckt, statt Sarva zu holen?"

AUS MITLEID. ICH KAM, UM EIN LEBEN ZU NEHMEN, UND ICH HATTE DIE WAHL ZWISCHEN DEINEM UND DEN SEELEN, DIE DU SO ERBARMUNGSLOS MIT DEINEM HERZEN VERGIFTET HAST. KANNST DU DIR DIE QUALEN VORSTELLEN, DIE SIE ERLEIDEN MÜSSTEN, WENN ICH SIE SO ZUM LEBEN VERDAMME? NUR DESHALB NAHM ICH IHR LEBEN AN STELLE VON DEINEM.

Als Sarva das hörte, lachte sie. Harte, humorlose Salven von Boshaftigkeit. Sie krümmte sich unter ihnen, schlug sich voller Vergnügen auf die Schenkel, tanzte kichernd und juchzend im Angesicht ihrer Taten.

"Ein mitfühlender Tod", brach es schließlich aus ihr heraus. "Darauf wäre Sarva im Leben nicht gekommen. In drei Leben nicht. Wie köstlich, wie überaus köstlich. Nun, ein halbes Herz habe ich noch. Den Tanz halte ich noch ein paar Leben durch."

Tod jedoch schüttelte energisch seinen Schädel.

NIE MEHR. ES WAR EIN... FEHLER. DAS NÄCHSTE MAL, SEI DIR GEWISS, WÄHLE ICH DICH. EGAL, WELCHE SCHRECKEN DU DIR AUSDENKEN MAGST. GENIESSE DEIN LETZTES LEBEN, WENN DU KANNST. DANACH...

Er hob die Hand, und etwas kleines, verdorrtes erschien darin. Pechschwarz pulsierte es zwischen den Fingerknochen, und jedes Pulsieren klang wie ein wimmern.

Er schloss die Hand, und Eiseskälte durchfuhr Sarva.

Dann ging der Tod, und ließ Sarva in der Gewissheit zurück, dass beim nächsten mal keine hohlen Zauber reichen würden. Und einem Leben, um jenen Einsatz zu finden, der alles überstieg.

Sarva kicherte leise vor sich hin, als sie die Leiche des jungen Dings im Garten verscharrte. Unter den Rosen. Als Dünger.

 

Vorsichtig legte sie eine ihrer alten Klauen auf die bebenden Hände des Mädchens.

„Sarva kann helfen. Ja, das kann sie. Du hast gut getan, zu mir zu kommen. Aber es wird nicht leicht. Kann nicht alles aus dir herauspulen, Stück für Stück. Zu viel, zu lange. Und es würde nichts nutzen. Du bist unsterblich, meine Kleine, mehr noch, unvergänglich. Es käme zu dir zurück gekrochen wie ein getretener Hund, immer wieder. Nein, so geht das nicht.“

Tränen standen in den Augen des Mädchens.

„Wie dann?“

„Nun, es gibt einen Weg.“ Sarva kratzte sich an der Nase. „Aber… Nein. Das wäre zu viel. So weit willst du sicher nicht gehen.“

Nun war es das Mädchen, dass die Klauen der alten Hexe flehentlich umklammerte.

„Ich will alles tun. Alles. Sagt es nur, ich bitte euch.“

Sarva versteckte ihr triumphierendes Grinsen unter einer Maske von Mitgefühl und Besorgnis. Jetzt nur nichts verderben, das Ziel, so nahe. Der letzte Triumph über den alten Geier.

„Das Problem“, begann sie zögerlich, „ist die Unsterblichkeit. Einem sterblichen jede Erinnerung zu nehmen ist leicht, ganz leicht. Ein Zauber hier, ein Siegel da, das ist nicht schwer. Ich könnte sogar dafür sorgen, dass er auch in Zukunft alles vergisst, jede Nacht aufs neue. Ja, das könnte ich.“

„Ja!“ sagte das Mädchen, aufgeregt, stand auf, zerquetschte Sarva fast die Hand. „Das will ich. Gibt es denn keinen Weg…“

Das Mädchen verstummte, als die Ungeheuerlichkeit des Ganzen ihr klar wurde. Alle Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Es ließ Sarvas Hand los und stützte sich auf dem Tisch ab. Doch ihr Blick blieb standhaft auf Sarva gerichtet, und sie wiederholte die Frage mit fester Stimme.

„Gibt es einen Weg, mich sterblich zu machen?“

Sarva sah ihm fest in die Augen.

„Bist du dir sicher, dass du das willst? Um jeden Preis? Denk gut darüber nach.“

Das Mädchen schluckte. Senkte kurz den Blick, und dachte nach.

„Ja“, sagte es, und sah Sarva mit leuchtenden Augen an. „Ja, das will ich.“

„So sei es.“

Schnell wie der Wind nahm Sarva den Rest ihres Herzens, bis auf ein winziges Stück, und rammte es dem Mädchen in dessen Brust.

„Nun hast du ein Herz,“ sagte sie kichernd. „Nun bist du sterblich. Und nun, vergiss.“

Sagte es, nahm einen Beutel aus ihrem Rock und pustete dem Mädchen den Staub daraus ins Gesicht.

Mit Grauen sah das Mädchen auf die Stelle, an der die alte Hexe ihr das schwarze, wabernde Ding in ihren Körper gestoßen hatte. Es konnte spüren, wie Sarvas Herz in ihr pulsierte. Wollte schreien, aber dann…

…vergaß sie, was das war, ein Schrei. Und sackte wie leblos in sich zusammen.

Sarva sah triumphierend auf sie herab.

„Und nun, mein Kind“, sagte sie, „zum zweiten Teil meines Versprechens. Ich will ein Heim bauen, für dich und mein Herz. Ein Heim des ewigen Vergessens. Oh ja, so lieb bin ich zu dir.“

 

Sarva zog das Ding auf einem Brett hinaus auf das weite Feld. Nahm auch das letzte, winzige Stück ihres Herzens, spuckte darauf, schnitt sich in die Handfläche und rollte das Herzstück zu einer kleinen Kugel, gerade so groß wie ein Samenkorn. Grub ein kleines Loch in die Erde und pflanzte den Herzsamen dort hinein. Dann pisste sie auf das Loch, sprach ein paar Worte der Formung, und wartete.

Die Sonne ging unter, und wieder auf. In ihrem Schein warf ein Baumsprössling seinen mageren Schatten. Und, daneben, ein kleiner Bau aus Stein dunkel den seinen.

Sarva legte das Ding dort hinein, auf das Brett, dass sie hatte liegen lassen, wo nun der Steinbau stand und das in einer Wölbung der Wand wie eine Pritsche festgewachsen war. Sie ritzte ein paar Zeichen in die Unterseite, und murmelte dabei in einer alten, längst vergessenen Sprache. Dann ging sie hinaus, und schritt im Kreis um Baum und Bau, dreimal, in immer größeren Abständen. Streute dabei den Staub der Gebeine von Freitoten auf den Boden, vermengt mit Tränen der Verzweiflung, die sie von vielen ihrer Kunden gesammelt hatte.

Als sie fertig war, waren Baum und Bau schon ein beachtliches Stück gewachsen.

Zufrieden blickte Sarva auf ihr Werk. Dann ging sie nach Hause, mit einem so glücklichen Grinsen, das sonst nur junge Mädchen tragen, wenn bald ihr Geliebter kommt zu Besuch.

Nur hatte Sarvas Grinsen nichts liebevolles. Kein Herz. Und um so weiter sie sich vom Turm, dem Mädchen und dem Rest ihres Herzens entfernte, um so mehr verblasste das Grinsen, und wich einem seltsam teilnahmslosen und leeren Blick.

 

Als der Tod zum vierten mal kam, saß Sarva selbst in ihrem Sessel, und wartete auf ihn.

Wenn er überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken. Ohne zu zögern ging er zu ihr, berührte sie und…

… zuckte zurück.

WAS HAST DU GEATN?

Sarva grinste ihn unverhohlen an. Ein kaltes Grinsen, fast ein Zähnefletschen.

„Mein Herz versteckt. An einem Ort, an dem selbst du es nicht finden kannst. Ich kenne die Regeln. Oh ja. So lange mein Herz schlägt, kannst du mich nicht mitnehmen. Und so lange du es nicht findest, kannst du es nicht anhalten. Tja.“

Der Tod verharrte, regungslos, einen Atemzug, oder eine Ewigkeit.

DU SPRICHST WAHR. NÄRRIN. DAS WIRST DU BEREUEN.

Sarva stand auf und reckte ihr Gesicht so nahe an seines, dass ihre spitze Nase fast sein Nasenbein berührte.

„Willst Du mir drohen? Ha! Du hast verloren, Tod. Sarva hat dich besiegt. Für jetzt und alle Zeit.“

ICH DROHE NICHT. ES IST UNAUSWEICHLICH. UND FÜR DAS; WAS DIR BEVORSTEHT; HAST SELBST DU MEIN MITGEFÜHL. LEBE, SARVA, UND TÄUSCHE DICH NICHT. FÜR ALLE ZEIT IST LÄNGER; ALS DU DENKST.

Dann ging der Tod, und ließ Sarva alleine zurück.

Sarva setzte sich wieder in den Sessel, den sie seit ihrer Rückkehr nicht mehr verlassen hatte. Nun hatte sie den Tod besiegt, wahrhaftig. Welch eine Tat! Aber, so recht konnte sie keine Freude empfinden.

Als es an der Tür klopfte, dachte sie kurz darüber nach, aufzustehen und sie zu öffnen, um eine weitere Seele in ihr Netz zu holen.

Aber wozu, fragte sie sich. Wozu?

Und blieb sitzen.

 

 

© 06.07.2007, 3:18 Uhr, „Der NachtPoet“ Stefan Brinkmann

 

<--- Himmelsturm III - Der Sturm          Himmelsturm - Epilog - Der Tod --->

 

 

Die neusten
poetischen E-Cards

Nightly Poem
Gedichte des NachtPoeten mit Epilogen ca. 1x im Monat in Deiner Mailbox.
Hier kostenlos abonnieren.

The Golden Cage
TheGoldenCage_sm

Konzeptalbum, basierend auf der Novelle “Himmelsturm” des NachtPoeten Stefan Brinkmann
Projekt-Seite

NACHTVERTONT
NT-Cover_2
Gedichte des NachtPoeten, vertont und eingelesen/gesungen von professionellen Sprechern und Sängern.
Hier klicken für detaillierte Infos, Hörproben, Vorbestellungen.

NachtPoet-Kalender 2009
Kalender2009_sm

Bücher des NachtPoeten: