Himmelsturm II – Der Ritter

 

Prolog:

 

Sie kniet neben seinem leblosen Körper. Ihr ellenlanges schwarzes Haar umfängt sie beide wie ein Schleier aus schwarzer Seide. Sie beugt ihr Gesicht so nahe über das seine, als wolle sie ihn küssen, blickt neugierig in seine weit aufgerissenen Augen.

Sie sind leer.

Die Hand, mit der sie sich neben ihm abstützt, berührt etwas eckiges, hartes unter seinem Umhang.

Neugierig zieht sie es hervor. Es ist ein Buch, in fleckiges Leder gebunden und mit einem kleinen Schloss versehen.

Sie führt die Spitze ihres Zeigefingers zu den Lippen, küsst sie mit einem Lächeln und legt sie auf das winzige Schlüsselloch.

Es klickt, kaum hörbar für das menschliche Ohr, und das Schloss springt auf.

Vorsichtig, fast ehrfürchtig öffnet sie den groben Einband.

Vorne fehlen ein paar Seiten, jemand hat sie mit wenig Sorgfalt herausgerissen. Dann, die neue erste Seite. Sie ist eng beschrieben, mit Feder und Tinte, eine feine, verspielte Schrift. Wer auch immer die Feder geführt hatte, sah im Schreiben noch ein Abenteuer und keine lästige Pflicht.

Sie lächelt traurig. Ihr Blick gleitet über die weite Ebene zum Horizont und weiter, hinauf in den Himmel.

„Ich hatte alles vergessen“ sagt sie, in die vollkommene Stille. Kein Lüftchen regt sich, kein Tier gibt laut, kein plätscherndes Wasser, keine gurgelnde Quelle. Alles ist stumm.

„Schreibt ihr deshalb diese Bücher? Um nicht zu vergessen?“

Sie lässt die Seitenkanten über ihre Finger springen. So sauber beschrieben, jede einzelne, mit kleinen Zeichen, eng aneinander gereiht. Er war sparsam gewesen im Umgang mit dem Papier, dass ein ganzes Leben reichen sollte.

Doch der Fluss der Zeilen bricht schon nach wenigen Seiten ab. Was folgt, sind gähnende Leere, unbeflecktes Papier, ein anklagendes Nichts.

„Aber warum schreibt ihr alles auf?“ fragt sie den jungen, starken, heldenhaft schönen, glorreichen Sieger und offensichtlich ziemlich toten Ritter. „Nicht nur das Schöne, sondern auch das Erschreckende, Dunkle, Schmerzhafte? Warum wollt ihr euch an die Schmerzen erinnern?“

Sie blätterte wieder zur ersten Seite.

„Ich hatte alles vergessen. Jetzt erinnere ich mich wieder. Es gefällt mir nicht. Es gefällt mir kein bisschen. Wir brauchen keine Bücher, um uns zu erinnern. Was wir einmal gesehen haben, behalten wir für immer. Wie sehr ich euch um eure Gabe beneidet habe... dieses Vergessen. Glaub mir, es ist ein Segen, SEIN größtes Geschenk an euch.“

Sie reißt den Kopf gen Himmel und schreit: „Hörst Du? Ich verstehe es nicht! Ich könnte sie noch mal tausend Jahre beobachten, und tausend mal mehr, und würde es doch nicht verstehen!“

Ein verirrter Vogel stimmt zaghaft sein Abendlied an. Bald würden mehr kommen, vom Wind getragen, angelockt durch ihr Licht.

Eine einzelne Träne fällt auf die erste Seite des Buches und verwischt die Tinte, nicht viel, nur ein einziges Wort. Wind kommt auf, spielt mit ihrem Haar, streichelt über ihre Haut, liebkost ihre Wangen.

„Das ist deine Geschichte“, flüstert sie, und beginnt zu lesen.

 

 

Tagebuch eines Toten, erster Eintrag

 

Mein Tagebuch. Platz für meine Gedanken und Gefühle, die ich in mir einsperre wie in Ungnade gefallene Untertanen. Es mag leichtsinnig sein, sie hier aufzuschreiben, aber besser das, als wenn ich sie eines Tages auf offener Straße hinausschreie, weil ich es nicht mehr ertrage, sie in mir zu halten. Ihre beißenden Bemerkungen. Die sengenden Schuldgefühle. Nicht, weil ich etwas falsches tue. Sondern einfach, weil ich gelernt habe, die Augen zu verschließen. Und doch nicht aufhören kann, zu sehen.

Das kleine Schloss , mit dem ich das Buch versiegeln kann, ist kaum ein Schutz, jedes Kind könnte es aufbrechen. Mein Gott, ich selbst bin ja fast noch ein Kind, kaum 14 Lenze, und schon höre ich mich an wie ein Erwachsener. Das werde ich ihnen nie verzeihen. Sie haben mir meine Kindheit entrissen, mit Zangen und Peitschen und schneidenden Worten.

Mein Herr und Meister, der Ritter, zu dessen Knappe ich morgen geweiht werde, er schenkte mir dieses Buch. Er ist ein raubeiniger Kerl, mit wilden Augen und einem zottigen Bart, der immer ungepflegt aussieht, egal, wie redlich er ihn putzt. Er spricht nicht viel, und wenn, dann mit donnernder Stimme, die einen ganzen Saal ins schweigen stürzt.

Ich bin froh, ihn als Meister zu haben. Er ist ein guter Mensch, das spüre ich, ein ehrlicher Mensch. Anders als jene, die viel sprechen, mit flüsternder Stimme, hinter den Rücken und in den Schatten.

Mein Ritter hat mich wohl sofort ins Herz geschlossen, vielleicht, weil ich so anders bin als er. Wo immer er auftritt, zieht er alle Blicke auf sich. Mich hingegen bemerkt man kaum. Ich habe gelernt, mit der Welt zu verschmelzen, wie dieses Tier, von dem ich in der Bibliothek der Burg gelesen habe, in einem alten, staubigen Buch, begraben in einem Winkel unter anderen Bücher. Ich verbringe viel Zeit in der Bibliothek. Das ist etwas, um das ich dankbar bin: Sie brachten mir das Lesen und Schreiben bei, öffneten mit eine Tür in fremde Welten, in die ich mich flüchten kann vor ihren Worten und Schlägen. In den Büchern stimmt die Welt noch. In ihnen finde ich sie so vor, wie mein Vater sie mir erzählt. Voller Ehre und Stolz und edlen Motiven, Heldentum und Wahrhaftigkeit. Es ist schon komisch. Alle hier reden voller Ehrfurcht von meinem Vater und seinen Heldentaten. Er war einer der Ritter des Königs, seine persönliche Leibgarde, und zu mehr als nur einer Gelegenheit rettete er ihm das Leben. Das letzte mal verlor er dabei ein Bein. Ja, sie loben ihn in höchsten Tönen, aber sie reden auch von ihm, als sei er tot und nicht nur auf sein Altenteil zurückgezogen. Und sie verraten alles, woran er glaubt. Sie rauben. Sie pressen die Bauern. Sie quälen und foltern.

Mehr als einmal war ich nahe dran, meinem Vater einen Brief zu schreiben. Ihm alles zu berichten, als die Gräueltaten seiner Schwertbrüder. Aber wer bin ich, seinen Traum zu zerschlagen? Würde er mir überhaupt glauben? Er hält sich so fest an seinem Bild, seiner Geschichte. Sie ihm zu nehmen wäre schlimmer für ihn als der Verlust seines Beines. Nein, ich glaube, er würde eher mich der Lüge bezichtigen, mich einen Schwächling nennen, einen Versager, der beim ersten Anzeichen von Problemen unter sein Bett flüchtet und sich beschmutzt. Es wäre nicht das erste mal.

Ich glaube, in Wahrheit wollte ich diesen Brief nur schreiben, um meinen Gedanken endlich freien lauf zu lassen. Sie aufzuschreiben, um sie endlich mit eigenen Augen vor mir liegen zu sehen. Ein stummer Schrei.

Mein Herr muss diese Zerrissenheit in mir gespürt haben. Warum sonst sollte er mir das Buch schenken? Er habe es selbst von seinem Herren zum Geschenk bekommen, so sagte er. Aber er sei kein Mensch von vielen Worten, und ich hätte sicherlich mehr Verwendung dafür. Einen Bücherwurm nannte er mich noch, und aus jedem anderen Munde wäre das nur eine weitere Beleidigung gewesen. Aber er sprach es mit im Scherze verstecktem Respekt. Dennoch, solch ein Buch ist ein kostbarer Besitz. Allein das Papier... ich mag nicht daran denken, was man dafür bezahlen würde. Andere hätten es sicher mehr wert geschätzt als mein Leben... Ich werde meinem Herren ein guter Knappe sein, ihn mit meinem Leben beschützen. Schon jetzt schulde ich ihm mehr als das.

Die ersten Seiten fehlen. Sind unachtsam herausgerissen. Es sind nicht viele, kaum ein Dutzend. Wahrscheinlich jene Seiten, in der mein Herr seine Einträge niederschrieb. Ein Buch vergisst nichts, was ihm nicht mit Gewalt entrissen wird. Auch in mir fehlen Seiten, schöne Momente voller Sonne und Vögelgesang, und meinem Vater, der aus einer Schlacht zurückkehrte, und wie die Sonne in seiner Rüstung glänzte. Diese Glänzen, in seiner Rüstung und seinen Augen, gab mir Kraft, all das hier zu ertragen. Aber wenn ich jetzt daran denke, ist die Rüstung stumpf und verbeult, sein rechtes Bein fehlt, und seine Augen sind seltsam leer.

 

 

1. Zwischenspiel

 

Ihr Blick gleitet von den eng beschriebenen Seiten zu dem Gesicht des toten Mannes. Es ist ein schönes Gesicht, wenngleich auch etwas hart, mit scharf geschnittenen, energischen Zügen. Ein Mann, der wusste, was er will, und gewohnt war, es auch zu erreichen. Ein Ritter und Held, fürwahr. Vergeblich sucht sie das Antlitz des Knaben, der diese Zeilen geschrieben hat, schwach, verunsichert, voller Zweifel und Wut.

Keine Spur. Nicht der Funken einer Andeutung. Dieses Gesicht scheint nie einen Zweifel gekannt zu haben. Aber vielleicht lag das auch an den seltsam leeren Augen.

„Nur der Einband“, flüstert sie, dann liest sie weiter.

 

 

Tagebuch eines Toten, zweiter Eintrag

 

Es eilt. Die Herrin wird bald kommen. Noch ist es hin bis zum Sonnenaufgang, aber es ist der Tag meine Weihe zum Knappen, und die Herrin wird früh kommen, um mich bereit zu machen. Sie darf es nicht sehen. Das Messer liegt schon bereit, die scharfe Klinge flackert im Licht der Kerze. Aber noch ist Zeit. Der Traum, er beginnt schon zu verblassen. Muss ihn niederschreiben, bevor er mir ganz entgleitet. Einmal habe ich ihn schon verloren, glaube ich, vor sieben Wintern, als sie mich holten. Ich hatte ihn vollkommen vergessen. Noch so eine fehlende Seite. Genau wie die Feder... aber der Reihe nach.

In dem Traum bin ich wieder ein Knabe von sieben Lenzen. Von Geburt an ward mir bestimmt, meinem Vater nachzufolgen und ein Ritter zu werden. Mein kurzes Leben lang kannte ich keinen anderen Gedanken. All meine Träume drehen sich um glorreiche Schlachten, Schwerter, Ehre und Mut, auch wenn ich kaum begreife, was eines davon bedeutete. Ich träume sehr viel, und das macht meinen Vater oft zornig. Ich verstehe das damals nicht. Es sind doch seine Träume, die in mir leben, wie kann ihn das so wütend machen.

Es ist der Tag, an dem sie mich holen, auf die Burg, um aus mir einen Knappen und dann einen Ritter zu machen. Meine Mutter hat mich fest in ihre Arme geschlossen, flüstert aufgeregt tausend Ratschläge in mein Ohr, aber ich höre nicht zu, ich bin viel zu aufgeregt. Durch meinen Kopf traben die Heldengeschichten wie Schlachtrösser, und als ich die Hufschläge höre, denke ich kurz, sie seien nur das Echo meiner Phantasie.

Dann aber kommt der Reiter auf unseren Hof getrabt. In meinem Traum ist er größer als das alte Herrenhaus, in dem wir leben. Seine riesige Hand, so groß wie ein Kürbis, streckt sich mir entgegen, und ich bemerke gar nicht, dass er kein Gesicht hat. Eilig winde ich mich aus dem Griff meiner Mutter, werfe noch einen Blick auf meinen Vater. Er steht etwas abseits, wie zufällig an den Zaun gelehnt. Er trägt seine Rüstung, und wer es nicht weiß, würde nie vermuten, dass eines der Stahlbeine so leer ist wie sein Blick. Aber jeder weiß es. Wirklich jeder. Nur Vater scheint es manchmal zu vergessen.

Er verzieht keine Miene, als sich unsere Blicke treffen. Ich dachte, sein Gesicht würde erfüllt sein von Freude und Stolz, aber da ist nur ein Schatten, dunkel und schwer, wie ein Vorbote der Dinge, die da kommen werden.

Es ist egal, an diesem Tag vermag auch das meine Stimmung nicht zu trüben. Ich wirble herum und eile auf den Riesen zu, der mir immer noch seine Hand wie zum Gruße reicht. Der schwarze Handschuh füllt meine Welt, ich sehe das Leder, die raue Oberfläche, jede einzelne Kerbe, kann es sogar riechen, das Fett, es hält das Leder weich und geschmeidig.

Ein weißer Fleck steigt vor mir auf. Er muss eben noch an der Stelle gewesen sein, wo jetzt meine guten Stiefel in jugendlicher Hast über den Boden trampeln. Das weiße Etwas, es tanzt hektisch vor meinen Augen, verdeckt den Handschuh, der auf einmal gar nicht mehr so groß ist, kaum mehr als ein Apfel, oder eine Kirsche.

Verärgert schlage ich nach dem Weiß.

Ein gellender Schmerz fährt in meine Hand, und ich reiße sie instinktiv zurück. Tränen schießen mir in die Augen, verschleiern meinen Blick. Ich versuche sie runterzuschlucken, will nicht weinen, nicht schwach sein, nicht vor dem fremden Ritter, und erst recht nicht vor meinem Vater. Es geht, irgendwie. Mit der linken wische ich mir die Tränen aus den Augen, betrachte dann meine brennende rechte.

Ein Halbkreis schwarzer Blutergüsse ziert meinen Handrücken, jeder von ihnen nicht größer als ein Fingernagel. Es tut höllisch weh, jetzt ein dumpfer, pochender Schmerz, und ich muss die Zähne zusammen beißen, um nicht doch noch loszuheulen. Verärgert schaue ich nach dem Ding, dass mir diese Schmach zugefügt hat.

Eine strahlend weiße Feder tanzt nur wenige Meter von mir entfernt im Wind auf und ab. Mir ist, als lache sie über mich. Ja, sie verspottet mich, kleiner schwacher Junge, so ein bisschen Schmerz, und schon weint er, bleib lieber bei deiner Mutter und deinem verkrüppelten Vater, aus dir wird nie ein Ritter.

Diese Worte sollte ich erst viel später hören, und nicht nur einmal. Kinder sind grausam. In meinem Traum aber sind es die Worte der Feder.

Wütend stürme ich auf sie zu, will sie packen und zerdrücken, ihr weh tun, wie sie mir weh getan hat. Aber gerade, als ich sie greifen will, gleitet sie leicht und elegant zurück, gerade so aus meiner Reichweite.

Wieder stürze ich mich nach vorne, und wieder schwebt sie zurück. Ich versuche es mit vorsichtigem anschleichen. Sie gleitet ebenso unauffällig tiefer in den Wald. Der Wald ist neu, es gibt keinen Wald bei unserem Hof, jedenfalls keinen mit so hohen und dunklen Bäumen. Ich bemerke ihn kaum. Mein Blick ist starr auf die Feder gerichtet. Ich springe, tänzle, mache Ausfallschritte. Ich werfe mit Steinen, schlage mit langen Stöcken nach ihr. Aber was ich auch probiere, sie weicht mir immer geschickt aus. Mal tänzelt sie mir frech vor der Nase, mal hält sie respektvollen Abstand. Immer tiefer lockt sie mich mit ihrem Spiel in den Wald. Und dann, als wir gerade das Herz des Waldes erreichen, oder wie immer die Stelle heißt, in der es am finstersten ist, gibt es keinen Wald mehr. Keine Bäume. Nur mich und die Feder, die jetzt wie zu Tode erschöpft auf den Boden gleitet und still dort liegen bleibt.

Ich bemerke es kaum. Mit offenem Mund starre ich zum Horizont, direkt in die untergehende Sonne.

Ein riesiger Pfahl scheint in das Herz der Sonne gerammt und sie an der Erde festzunageln. Das Licht der sterbenden Sonne umwabert den mächtigen schwarzen Weltenspeer wie pulsierendes Blut. Aber das ist kein Pfahl, kein Speer. Ein Turm ist es, wie er nur in Träumen zu bestehen mag, denn er ist viel höher, als Menschenhand ihn jemals bauen könnte, und selbst hier, sicher noch eine Stunde Weg zu Fuß entfernt, höre ich das Heulen des Sturms, der um den Turm wütet und an ihm zerrt.

Mit einem Seufzen vergehen die letzten Strahlen der Sonne. Meine rechte Hand explodiert in blendend weißem Schmerz, zerreißt die Welt. Und so wachte ich auf.

Die Pein in meiner Hand, sie zerbrach nicht nur das Geflecht der Träume, nein, sie folgte mir auch in die Welt des Wachens. Und der Schmerz war nicht das einzige, was mir aus dem Traum gefolgt ist.

Ein Halbkreis dunkler Flecken ziert meinen Handrücken. Und das gerade heute, am Tag meiner Weihe. Wenn meine Herrin das Mal entdeckt, oder ein Priester... es sieht aus wie ein Biss, nur müsste ich schon die Hand von innen durch ein Maul schieben, um diesen Abdruck zu erzeugen. Ich habe Menschen gesehen, die für weniger der Hexerei bezichtigt wurden. Es war kein schöner Anblick. Die Folter dauert an, bis sie gestehen, was immer man ihnen vorwirft. Der Tod, selbst das Verbrennen, ist danach eine Erlösung. Und es sind nicht nur Bauern, nein, die Kirche steht über Rang und Namen. Erst letzten Mond wurde ein Knappe bezichtigt, weil er ein Zigeunermädchen küsste. Sie brannten gemeinsam, Rücken an Rücken gebunden, und ihre Schreie vermischten sich im prasseln der Flammen.

Genug jetzt, es wird Zeit. Die Herrin muss jeden Moment kommen. Sie wird meine Hände sehen wollen, wie jeden Morgen, ob ich sie auch gründlich gewaschen habe. Ein Verband allein reicht nicht. Sie ist misstrauisch wie eine alte Eule. Nein, so leicht komme ich nicht davon.

Es gibt nur einen Weg.

 

 

2. Zwischenspiel

 

Kleine, braune Flecken verzieren diese Seite, schlängeln sich wie Larven im Nest der Buchstaben. Nachdenklich, fast wie in Trance, fährt sie mit ihren perfekten Fingernägeln über die braunen Sprenkel. Ihre Augen sind halb geschlossen, fast so, als träume sie einen Tagtraum. Vielleicht erinnert sie sich auch. Sie hat alles gesehen, oh ja, sie sah sehr viel von dort oben. Sie konnte die ganze Welt überblicken. Aber sie nahm nichts wahr. Schaute auf das riesige Geflecht der Geschichten und war doch unfähig, das Muster zu erkennen, oder gar die einzelnen Fäden. Aber jetzt..

Jetzt erinnert sie sich wieder.

Wie von einer Schlange gebissen reißt sie ihre Rechte Hand zurück, drückt sie an ihre Brust. Das Buch fällt haltlos ins taunasse Gras. Der Blick des Mädchens, diese unergründlich tiefen Augen, suchen die rechte Hand des Ritters, aber sie ist unter den Trümmern begraben, allein sein Gesicht blieb wie durch ein Wunder verschont. Sie entspannt sich wieder, betrachtet misstrauisch ihren Handrücken, als erwarte sie, den Halbkreis dunkler Flecken zu sehen. Aber da ist nichts, ihre Haut ist so rein und makellos wie ein unbeschriebenes Blatt.

Der Wind greift die Seite des Tagebuchs und blättert sie um. Erschrocken hebt sie das Buch auf, wischt den Tau mit ihrem weißen Kleid vom braungefleckten Einband. Und wieder wandern ihre Augen über die Zeilen, während ihre Lippen die Worte des Toten formen und in die Welt entlassen.

 

 

Tagebuch eines Toten, Nachtrag

 

Muss mit der linken Hand schreiben, ein frustrierendes Gefühl. Meine Rechte ist mit dicken Verbänden umwickelt, um die Blutung zu stoppen. Das Blut... es hat die dunklen Flecke gut verdeckt. Meine Herrin fiel in Ohnmacht, als sie das viele Blut sah, und als sie wieder erwachte, hatte ich die Hand schon notdürftig mit ein paar Lumpen verbunden. Und falls dem Doktor, der die Wunde verarztete, sich fragte, warum der saubere, halbmondförmige Schnitt genau durch eine Reihe von dunklen Flecken verläuft, so ließ er sich nichts anmerken. Er kümmert sich sonst mehr darum, jene wieder zusammen zu flicken, die noch atmend vom Schlachtfeld zurückkehrten. Sicher musste er schon weit merkwürdigere Dinge sehen. Er fragte nur einmal, mit mäßigem Interesse, wie zur Jungfrau ich hatte so ungeschickt sein können, und ich faselte etwas von meiner Nervosität vor dem großen Tag, dem Versuch, ein Stück Brot abzuschneiden und wie die Klinge abrutschte und durch meinen Handrücken schnitt.

Sie glaubten mir.

Aber das ist nicht der Grund, aus dem ich jetzt schreibe, ungeschickt mit der Linken, immer noch zittrig, müde und ausgelaugt, während die Salbe des Doktors unter dem Verband brennt wie Säure (Wenn es weh tut, dann heilt es, sagt er immer. Erst wenn es taub wird, haben wir ein Problem). Nein, der wirkliche Grund ist...

... es kommt mir idiotisch vor, es auch nur aufzuschreiben, selbst hier, wo es so Gott will kein anderer bis auf mich jemals lesen wird. Aber ich muss. Es ist wichtig, wie lächerlich es auch klingen mag.

... die weiße Feder.

Sie lag auf dem Weg zur Kirche, den wir Knaben entlang schritten, zur Kirche und unserer Weihe zum Knappen, gesäumt von der andächtigen Menge. Keine zwanzig Schritt entfernt lag sie, die Feder aus meinem Traum, und ich will verdammt sein, die gleiche Feder, welche mich schon als Gör von sieben Lenzen aufgesucht hat. Regungslos lag sie im Staub, lauernd, zum Sprung bereit. Es ist nur eine Feder, ich weiß, es ist lächerlich, aber just in dem Moment, als ich sie erblickte, begann meine verletzte Hand wie Feuer zu brennen.

Ich führte die Prozession nicht an, Gottlob, denn ich schwöre, ich wäre verweilt wie festgewachsen, keinen Schritt hätte ich mehr getan. Aber ich war in der Mitte unseres knappen Dutzend von Knaben, allesamt in ihrem besten Gewande, aufgereiht wie eine Perlenkette, jeder gut drei Schritte vor und hinter dem nächsten. Und diese Kette war es, die mich weiterzog, auch wenn meine Beine mit jedem Schritt an Kraft und Zuversicht verloren und ich mich schwankend glaubte wie ein Betrunkener. Das Brennen in meiner Hand tat sein übriges, ließ mich keinen klaren Gedanken fassen. Ich versuchte krampfhaft, nur auf den Hinterkopf meines Vordermanns zu starren, aber immer wieder wanderte mein Blick auf die Feder. Der Kopf unserer Schlange erreichte sie, seine feinen, frisch polierten Stiefel wirbelten den Staub um sie auf. Die Feder rührte sich nicht. Keinen Fingerbreit. Auch nicht beim zweiten, oder dritten. Verschwand nur kurz in einer Wolke aus Staub, tauchte dann unversehrt und unbewegt wieder auf. Mein Vordermann stieg unbekümmert über sie hinweg, und dann war ich an der Reihe.

Ich wusste, gleich würde sie aufsteigen, würde sich auf mich stürzen und mich zeichnen, wie sie schon meine Hand gezeichnet hatte, nur diesmal würde ich es nicht verbergen können. Alle würden mit den Fingern auf mich deuten und schreien: „Seht nur, der Junge, er ist befleckt. Er ist anders. Er gehört nicht dazu. Er ist des Teufels! Packt ihn! Greift ihn! Nehmt ihn fest!“. Ich wollte nicht weiter und setzte doch einen Fuß vor den anderen, und dann, kurz bevor sich meine nächster Schritt auf die Feder gesenkt, sie zermalmt hätte, kam ein Wind auf, eine leichte, fast liebevolle Böe, griff die Feder auf und trug sie in Höhe meines Gesichts. Dort tanzte sie wie ein Schmetterling, umkreiste meinen Kopf, hüpfte aufgeregt auf und ab.

Mir war schwindlig. Mit aller Kraft unterdrückte ich den Impuls, nach dem Teufelsding zu schlagen, zu schreien, in wilder Panik wegzulaufen, setzte einfach weiter einen Schritt, und dann den nächsten, und noch einen, der rettenden Kirchenpforte entgegen. Ich spürte die Blicke der Meute auf mir haften, gierig, starrend, gleich würde der erste seine Stimme erheben, und alles wäre vorbei.

Aber nichts weiter geschah. Ich erreichte die Schwelle, und kaum setzte ich einen Fuß darüber, sank die Feder zu Boden wie eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt. Keiner hatte es bemerkt, natürlich nicht, und selbst wenn, so maßen sie dem keine Bedeutung bei. Warum auch? Die Menschen sehen doch nur, was sie sehen wollen. Wunder nehmen sie erst dann wahr, wenn sie groß und dunkel sind und mit donnernder Stimme zu ihnen sprechen.

Mehr weiß ich kaum. Alles danach war wie ein Traum, ja, weniger noch, ein Gemisch aus ernsten Blicken und stolzen Mienen, der wilde Bart meines neuen Herren in der Menge, die Weihe, irgendwo dazwischen, verloren in meiner Erleichterung und dem Echo der Angst.

Als ich die Kirche verließ, war die Feder verschwunden.

Ich fürchte nur, nicht auf ewig.

Was hat das nur zu bedeuten? Was will sie von mir? Was nur?

 

 

Tagebuch eines Toten, zweiter Nachtrag

 

Wann immer ich die Augen schließe, sehe ich den Turm vor mir, diesen vergifteten Pfeil im Herzen der Welt. Er macht mir Angst, unfassbare Angst. Ich wünschte, ich könnte ihn vergessen, aber da ist er, in meine Lider eingebrannt, in meine Seele, mein Herz, kein Wimpernschlag ohne sein aufblitzendes Bild.

Ich habe nachgedacht. Über den Traum, und die Feder, und den halbmondförmigen Schnitt auf meiner Hand. Er verheilt nur sehr langsam, und der Doktor schmiert eine sengende Salbe nach der anderen darauf. Wenigstens hat sie sich nicht entzündet, und mit der Zeit wird sie wohl verschwinden, bis auf eine Narbe, natürlich, einen Halbmond.

Zeichen. Der Turm. Die Feder. Der Mond. Meine Zeichen.

Es ist wie mit den fehlenden ersten Seiten... Nur halb im Licht, und halb im Schatten, die eine Hälfte die Nacht zu erhellen, die andere verborgen, wie durch ein scharfes Schwert abgetrennt. Ich bin den Schatten so leid. Vielleicht war dieser Traum ein Warnung Gottes, die Feder sein Bote, der mich ins Licht führen soll. Vielleicht sind beides Teufelswerk, und es geschähe mir recht, durch das läuternde Feuer zu gehen. Ich weiß es nicht. Allein, ich stehe auf der Schwelle zu einem neuen Leben. Ein Knappe meines Herren, den ich über alles schätze. Ich will ihm ein guter Knappe sein, nein, der beste Knappe, den er sich nur wünschen kann, und noch besser. Ich will ein Ritter werden, dem alle Ehre und Respekt gebührt, und der diesem hohen Turm Bild auch wirklich gerecht wird. Ich will, das die Augen meines Vaters nicht mehr so leer sind, wenn er mich sieht, oder sonst irgend etwas. Ich will so hell leuchten, dass mein Licht sich in seinem Blick widerspiegelt. Ja, ich will Licht sein und die Schatten vergessen. Auf ewig!

 

 

3. Zwischenspiel

 

Wieder gleitet ihr Blick von den Seiten des Buches zu dem leblosen Gesicht des jungen Mannes. Sie lächelt, aber da ist etwas bitteres, dunkles in diesem Lächeln.

„Du junger Narr“ flüstert sie, „dummer, dummer Junge. Je näher du dem Licht kommst, um so länger wird dein Schatten. Du kannst ihm nicht entkommen. Du kannst versuchen, ihn zu vergessen, aber er ist da, er ist immer bei dir. Und er wächst, er wächst mit jedem Schritt.“

Sie seufzt, und es klingt wie das Seufzen der Welt, so alt wie die Zeit selbst.

Die Sonne sinkt immer tiefer, aber zum ersten Mal scheint sie es kaum zu bemerken. Ihre feingliedrigen Finger folgen weiter den Zeilen, führen Blick und Stimme auf den Weg der Erinnerung.

 

 

Tagebuch eines Toten, dritter Eintrag

 

Die erste Schlacht steht mir bevor. Ich werde die Fahne meines Herren tragen, werde sie hoch halten, höher als alle anderen. Wir werden siegreich sein.

Meine Hand ist jetzt zur Gänze verheilt. Zu meiner unendlichen Erleichterung deutet nichts mehr auf die dunklen Flecken hin, und auch die Narbe ist nicht so arg, wie ich anfangs dachte, kaum mehr als eine dünne, weiße Linie, nur von nahem wirklich zu erkennen. Verblasst, wie nun langsam auch... nein, ich mag nicht daran denken...

Dennoch, ich erwische mich immer wieder, wie ich ängstlich auf meine Hand starre, fast so, als erwarte ich, die dunklen Flecke könnten wieder sichtbar werden. Und jeden Morgen, kaum dass ich die Augen aufschlage, kann ich nicht anders, als meine Rechte gründlich zu untersuchen. Manchmal juckt sie, und kribbelt, als ob tausend Ameisen dem Pfad der Narbe folgen.

 

Ich bin stark geblieben. Stand aufrecht, die Fahne erhoben. Trotzte dem Gestank des Todes, den Gedärmen, die aus noch lebenden Menschen quollen, den abgetrennten Händen und Armen und Köpfen mit leeren Augen und dem Blut, dem vielen Blut, diesem scharlachroten, nie versiegenden Fluss...

... ich bin stark geblieben, aber Gott weiß, wie nah ich den Schatten war. Wie gerne ich die Augen vor all dem verschlossen hätte. Wie kurz ich davor war, meine eigenen Eingeweide auszuspeien. Wahrlich, das hatte ich mir anders vorgestellt. Dieses Gemetzel... was hat das mit Heldentum und Ehre zu tun? Jedes Vieh auf der Schlachtbank stirbt würdevoller als diese Krieger auf dem Schlachtfeld. Ich weiß, diese Gedanken sind falsch, dunkel, welches Recht habe ich, ein Urteil zu fällen? Aber mir meinen Vater vorzustellen, wie er

 

Vergessen!

 

 

4. Zwischenspiel

 

Sie stockt. Ihre Augen starren auf das einsame Wort auf der nächsten Seite nur ein Wort, sonst ist die Seite leer, springen zurück, wieder nach rechts, wieder zurück... dann in die Mitte. Sie senkt ihren Kopf dicht über das Buch, um in der zunehmenden Dämmerung besser sehen zu können. Streicht mit einem Finger über das Tal zwischen den Seiten.

Ein gläserner Schrei entfleucht ihren Lippen. Blut tropft auf die Seiten des Buches, ihr Blut. Verwundert starrt sie auf den dünnen Schnitt, der sich, kaum sichtbar, quer über ihre Fingerkuppe zieht. Ein weiterer Blutstropfen quillt daraus hervor. Schnell steckt sie den Finger in den Mund.

Anders als die Seiten am Anfang des Buches wurden diese hier mit größter Sorgfalt und Geschick herausgetrennt. Nur ein feiner Steg, nicht viel breiter als ein Haar, blieb zurück. Ein dunkler Schatten markiert jetzt die Stelle, an der er in den Finger des Mädchens schnitt. „Vergessen“, flüstert sie, etwas undeutlich, den Finger immer noch zwischen ihren Lippen. „Wenn das nur so einfach wäre.“

Ein paar Wimpernschläge blickt sie noch auf dieses eine, einsame Wort, dann blättert sie um.

 

 

Tagebuch eines Toten, nach den fehlenden Seiten

 

Ich lebe.

Das war mein erster Gedanke, als ich vor ein paar Tagen die Augen wieder aufschlug. Als ich die schmutzige Decke des Krankenlagers erblickte und der beißende Geruch nach Tod, Blut und Urin mir in die Nase stach. Ich war fast ein wenig enttäuscht. Es wäre ein ruhmreicher Tod gewesen. Mein Leben für das meines Herren.

Ich lebe, und es sieht fast danach aus, als ob ich bald wieder vollständig genesen bin. Der Doktor ist sehr zufrieden, fast schon erstaunt, ob meiner Heilung, „Tut es weh?“ hatte er mich gefragt, als ich die Augen aufschlug. Ich muss wohl genickt haben, oder zustimmend gestöhnt, denn er fuhr fort mit: „Gut. So lange sie den Schmerz spüren, sind sie noch am Leben. Und bleiben sie weg vom Licht.“

Wie sehr das den Worten gleicht, die ich vor Jahren zu hören bekam... es ist jetzt ein anderer Doktor als der, welcher den verängstigten Jungen verarztete. Der alte verstarb letzten Winter, an Altersschwäche, oder einer Krankheit, die ihm einer seiner Patienten als Lohn hinterließ, ich weiß es nicht. Eines Tages kehrte ich vom Feld zurück, und da hatten wir einen neuen. Es ist wie in der Schlacht, die Gesichter ändern sich, aber der Tod bleibt der gleiche. Und keiner erinnert sich später noch an die Gesichter der Toten.

Ich habe lange nicht mehr in dieses Buch geschrieben... dieser Junge, dieses zweifelnde, ängstliche Kind, war ich das? Kann es kaum glauben. All das ist so weit weg.

Ein Wort vielleicht, an dieser Stelle, an das Kind von damals: Du kannst stolz auf dich sein. Du bist stark geblieben, nein mehr noch, stark geworden. Du hast deinem Herren die Stange gehalten, höher als alle anderen, und mehr als nur einmal sein Leben gerettet. Er spricht nur in den höchsten Tönen von dir, bei jeder Gelegenheit, donnert seine Bewunderung für dich mit seiner markerschütternden Stimme in die Runde. Noch ein Mond, und man wird dich zum Ritter schlagen, wobei du nahe dran warst, diesen Tag nicht mehr zu erleben. Aber es scheint fast, als hätte eine höhere Macht etwas dagegen, dass du jetzt schon die Bühne verlässt.

Alle reden jetzt von mir wie von einem Helden. Aber was ist heldenhaft daran, wenn man keine Angst verspürt?

Ich sah die Armbrust, den Bolzen, das Sonnenlicht, wie es sich in der Eisenspitze spiegelte. Die Eisenspitze, auf das Herz meines Herren gerichtet. Zu spät, ihn zu warnen, schon krümmte sich der Finger um den Abzug. Keine Zeit, um Angst zu haben, kaum genug für einen klaren Gedanken.

Die Welt gefror.

Ich bewegte mich unendlich langsam, stieß mich mit aller Kraft vom Boden ab, drückte mich wie durch tiefes Wasser nach vorne.

Ein nie gekannter Schmerz zerriss meine rechte Hand.

Ich glaubte sie von irgend etwas getroffen, ein Pfeil vielleicht, aber das war nicht sonderlich wichtig. Alles, was zählte, war das Leben meines Herren.

Die Sehne der Armbrust schnellte vor. Ich sah, wie sie kurz vibrierte, bevor sie still stand, meinte sogar, es zu hören, diesen hellen, surrenden Ton. Der Bolzen schoss auf uns zu, bei Gott, ich konnte es sehen, seinen Flug, seine Bahn, das Ziel... Aber ich stand ihm im Weg. Er würde mein Herz durchbohren, nicht das meines Herren. Alles war gut.

Ich roch meinen eigenen Schweiß. Hörte ein Todesröcheln, irgendwo neben mir im Staub. Fühlte mein ahnungsloses Herz ruhig seinen ewigen Takt klopfen. Sah den Bolzen, wie er immer näher kam, seltsam zäh und doch viel zu schnell. Hörte das Pfeifen der Luft, die er durchdrang. Ich dachte an einen kleinen Jungen, der auf dem Schoß seines Vaters sitzt und mit bewunderndem Blick seinen Geschichten lauscht, heldenhaften Geschichten, wahren Geschichten. An herausgerissene Seiten. An die Feder vor der Kirche, wie sie leblos zu Boden sinkt. An den Turm, den schwarzen Himmelsturm, ich hatte ihn zur Gänze vergessen...

Ein Beben ging durch den Bolzen, und in sein surrende Pfeifen mischte sich ein Zischen. Etwas war anders. Nur einen Hauch, aber mehr brauchte es nicht, und die Welt kehrte wieder in ihre gewohnte Hast zurück.

Die Faust eines Riesen schmetterte mit voller Wucht gegen meine Brust, wirbelte mich um meine eigene Achse und riss mich zu Boden. Verdutzt starrte ich auf den Bolzen, der da aus meiner Schulter ragte. Hinter mir donnerte die gewaltige Stimme meines Herren. Vor meinem Gesicht sank lautlos eine weiße Feder zu Boden. Dann umfing mich die Nacht.

Der Bolzen hatte mein Herz nicht durchbohrt. Er hätte es tun müssen. Ich weiß es. Ich weiß es einfach. Er verfehlte es nur um zwei Finger breit, das jedenfalls sagte der Doktor. „Bleiben sie weg vom Licht“. Ich kann mich an kein Licht erinnern. Da war nur Dunkelheit. Leere. Kein Licht, keine Engelschöre, nichts. Gar nichts.

Meine Schulter tut jetzt kaum mehr weh, wenn ich mich aufrichte, und in ein paar Tagen kann ich wieder mit dem Schwert trainieren. Der Doktor meinte, sie würde vielleicht etwas steif bleiben, aber das kümmert mich wenig. Was mir viel mehr Sorge bereitet, ist meine rechte Hand.

Die Narbe juckt jetzt andauernd, manchmal ist es, als ob tausend kleine Nadeln in meine Hand stechen. Die ehemals feine, weiße Linie ist stark gerötet und aufgequollen, steht hervor wie die Ader auf der Stirn eines wütenden Mannes. Ich habe mir eine Salbe geben lassen, mit der ich sie jeden Tag abdecke. Nicht etwa, um den Schmerz zu lindern. Vielmehr soll sie die Narbe vor neugierigen Blicken verbergen.

Ich muss immerzu an die Feder denken. Und den Turm. Ich hatte so gehofft...

 

 

Tagebuch eines Toten, vorletzter Eintrag

 

Es ist schon seltsam. All die Jahre quält mich nun dieser Traum vom schwarzen Turm. Oh, er ist mir nicht wieder erschienen, das nicht. Aber jede Nacht, wenn ich die Augen schließe, überfällt mich die Angst, ihn wieder zu träumen. Diese Ungewissheit, sie war schlimmer noch als der Traum selbst.

Heute bin ich ruhig. Es ist die Nacht vor meine Ritterweihe, auf den Tag genau sieben Jahre nach dem letzten Traum vom Turm und der Feder, und noch mal sieben Jahre nach dem ersten. Ich bin mir sicher, er wird heute Nacht wiederkehren. Und doch habe ich dies eine Mal keine Angst. Vielleicht, weil ich weiß, was mich erwartet? Aber das ist nicht richtig. Ich weiß es nicht. So vieles ist ungewiss. Allein der Gedanke an den Turm erfüllt mein Herz, sonst so ruhig und stark und mutig, mit eisiger Furcht. Vielleicht ist es die Ruhe des in die Ecke getriebenen Tieres? Die Unausweichlichkeit, die Gewissheit, es gibt nur einen Weg. Es ist ein dunkler Pfad, voller Schatten und leerer Seiten, aber es ist der einzige, der mir bleibt.

Meine Narbe juckt wie verrückt.

 

 

5. Zwischenspiel

 

Die Sonne ist nur noch ein blutender Halbkreis am Horizont. Ihre Augen suchen das Licht, blicken direkt in ihr Feuer. „Das kenne ich“, flüstert sie, „das kenne ich nur zu gut.“

„Jeden Abend sah ich die Sonne sterben. Es war das erste mal für mich, jede Nacht aufs neue. Die Dunkelheit, und wie sie mich zu verschlingen suchte. Jetzt erinnere ich mich, erinnere mich an jede einzelne Nacht, die ich schlaflos in dem schwarzen Nichts verbrachte, Angsterfüllt, im festen Glauben, die Nacht würde nie wieder enden. Ich wusste es nicht besser.“

Sie seufzt. Da ist so viel Liebe in diesem Klang, und so viel Verzweiflung. „Mit den ersten Strahlen der Morgenröte verblasste die Angst, und mit ihr die Erinnerung. Ich ging zum Fenster und sah der Sonne zu auf ihrem goldenen Pfad über das blauen Himmelsmeer. Sog jeden Lichtstrahl in mir auf, als wäre es der letzte. Und so war es ja auch, denn die Nacht kam, und mir ihr die Ungewissheit um den neuen Morgen, die Angst, die Dunkelheit.“

Sie zögert, blättert die letzten wenigen beschriebenen Seiten vor und zurück, vor und zurück.

„Manchmal,“ sagt sie dann doch, „manchmal, wenn ich in der Dunkelheit lag, die langsam von Schwarz zu grau wurde und die Ahnung des Lichts zu mir trug, wenn die Erinnerungen aufeinander prallten und ich die Wahrheit erahnte...“

Sie schluckt schwer. Schlägt das Buch zu.

„Manchmal habe ich dann gebetet. Ich bat meinen Schöpfer um das schrecklichste Geschenk von allen. Ich bat ihn um...

Ich bat ihn um die ewige Nacht. Nie wieder einen neuen Morgen. Kein Licht mehr, um mich zu quälen. Mir falsche Hoffnung zu schenken. Mich wieder in die Ungewissheit zu stürzen. Ich bat ihn um das Ende von allem.“

Sie wirft noch einen letzten sehnsüchtigen und zugleich bitteren Blick auf die sterbende Sonne.

„Und selbst jetzt, wo ich alles weiß, bleibt ein letzter Funken Furcht.

Dass die Sonne nicht wiederkehrt.

Und mehr noch.

Dass sie es doch tut.“

Mit einem gezielten Griff schlägt sie das letzte Kapitel auf. Ihre Hände zittern kaum merklich.

 

 

Tagebuch eines Toten, letzter Eintrag

 

Ich weiß jetzt, was zu tun ist.

Sicher, ich habe noch hundert Fragen, und noch mal hundert mehr. Warum ich? Wer ist sie? Was ist dieser Turm? Und, vielleicht die wichtigste Frage von allen: Welcher Sinn liegt in diesem grausamen Spiel? Aber genauso gut könnte ich fragen: Welcher Sinn liegt in diesem Leben, in all dem Leid, im Tode, hinter dem trügerischen Schleier der Hoffnung? So sehr ich auch Antwort begehre, ich weiß, dass es keinen Unterschied macht. Ich muss mich dem Turm stellen. Was auch immer mich auf dieses Odyssee geführt hat, ich schulde ihm mein Leben. Der Bolzen hätte mein Herz durchbohrt. Ich weiß es. Nun ist es an der Zeit, diese Schuld zu begleichen.

Und da ist noch Sie.

Nicht mehr als ein kurzes Aufblitzen, ein vages Bild, welches nun in meinem Herzen flattert wie ein aufgeregter Vogel, der seinem Käfig zu entkommen sucht. Könnte ich auch alles andere verwerfen, meine Ehre, mein Gewissen, meine Furcht, so müsste ich mich dennoch auf den Weg machen, den Turm zu suchen, und sei es nur um ihretwillen.

Aber ich greife vor.

 

Der Traum... wie lange ist es nun her? Kaum mehr als ein Tag, und es kommt mir vor wie Jahre. Nur, diesmal verblassen die Bilder nicht, ganz im Gegenteil, sie sind so klar und deutlich vor meinen Augen, als erlebte ich sie in just diesem Moment.

Die Arme meiner Mutter. Wie sie meinen noch so kleinen, schmächtigen Körper umfangen und an sie pressen. So warm und weich und sicher ist es dort. Wie habe ich das vermisst! Ich will nicht weiter. Will einfach nur verweilen, verdammt sei der Turm, die Feder, der Krieg, es soll mich nicht kümmern. Ich bin zu Hause.

Aber Mutter weint. Ein Schluchzen nach dem anderen schüttelt ihren Körper, und mich gleich mit. Ihre Stimme stammelt in mein Ohr, „Du musst sie befreien“, und, „Du musst den Bann fällen“. Aber ich will nicht, ich mag nicht gehen. Der Turm ist kalt. So kalt und schwarz und ohne jedes Licht. Wie die toten Augen meines Vaters, die sich voller Ungeduld in meinen Nacken bohren. Er wird nicht dulden, dass ich bleibe. Seinen Zorn zu ertragen, oder, schlimmer noch, seine wortlose Enttäuschung, ist schlimmer als tausend Türme, und so lasse ich los. Erfreue mich noch einen Moment an dem liebevollen Druck meiner Mutter, die noch nicht bereit ist, mich frei zu geben, und winde mich dann, schweren Herzens, aus ihrer Umklammerung.

Der Ritter steht schon am Rande des Hofes, die Hufe seines Pferdes scharren ungehalten im Kies.

Ich beachte ihn kaum.

Mein Blick flitzt über den Boden, sucht meine alte Bekannte...

... die Feder. Da liegt sie auch schon, keine drei Schritte entfernt, und kaum, dass mein Blick auf ihr ruht, hebt ein leichter Windstoß sie in die Höhe und trägt sie fröhlich tanzend davon.

Ich folge ihr wortlos, ohne auch nur einen Blick zurück.

Diesmal versuche ich erst gar nicht, sie zu fassen. Ich jage ihr einfach hinterher, so schnell mich meine dünnen Beine tragen, achte nicht auf die Zweige, die mir ins Gesicht schlagen, meine Arme und Beine zerkratzen, hab nur Augen für das tanzend weiße Ding. Durch meine Gedanken bohrt sich ein himmelhoher schwarzer Speer, ich weiß nur noch eines ganz genau: Was auch passiert, ich will dem Turm nicht nahe sein, wenn die Sonne den Tag an die Dunkelheit verliert. Muss ihn vorher erreichen, schnell sein, schneller, viel schneller.

Ich stolpere, stürze, raffe mich auf, renne weiter. Kurz fürchte ich, die Feder im Traumwald zu verlieren, aber da blitzt ihr Weiß schon wieder hinter einem Bush hervor, und weiter geht die wilde Hatz. Der Atem brennt in meinen Lungen, meine Muskeln schreien bei jedem Sprung über Stämme und Steine empört auf. War es beim letzten mal auch so weit? E kommt mir vor, als sei ich schon Tage, Wochen, Jahre gerannt. Und wahrhaftig, als ich an mir herabschaue, merke ich erst, dass mein Körper nicht mehr einem sieben Lenze jungen Knaben gehört, vielmehr einem Knappen, eingehüllt in mein Weihegewand. Auch meine Muskeln sind kräftiger, erfahrener, finden schnell in ihren gewohnten Tritt. Die Vernunft verdrängt die Übermut des Kindes, und ich bremse ab, ein wenig zumindest. Es hilft keinem, wenn ich den Turm erreiche und dann vor Erschöpfung tot umfalle.

Noch ein Schritt, und der Wald ist verschwunden, wie es Orte manchmal in Träumen tun. Ich trabe über eine weite Ebene, flach und leer so weit mein Auge reicht, bis auf...

Der Turm. Sein Anblick lässt mich für ein paar Herzschläge das Atmen vergessen. Ich bin ihm dieses mal viel Näher als in meinem letzten Traum, schwer einzuschätzen, wie nahe, bei etwas so gigantischen wie ihm. Sein gigantischer, schwarzer Körper reckt sich endlos in den Himmel hinein, als wolle er das Firmament selbst aufspießen, für alle Zeiten an die Erde nageln. Die Sonne hat er schon verschluckt, sie sinkt irgendwo hinter ihm langsam dem Horizont entgegen, wirft den Schatten des Turmes mit seinem ganzem Gewicht auf mich.

Der Knabe wäre unter seiner Last zusammengebrochen, hätte sich am Boden gekrümmt wie ein Fötus, Blut und Wasser geweint. Aber ich bin kein Knabe mehr, ich bin ein Mann, stählerne Muskeln spannen sich unter meinem Gewand. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen das Verlangen an, vor seiner geballten Macht in die Knie zu gehen. „Du hast mich lange genug gequält“ zischt eine Stimme, ich glaube, es ist die meine. „Ich bin größer als Du.“

Das ist gelogen, noch nie habe ich mich so klein und hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Aber die Lüge hilft. In ihr finde ich die Kraft, einen Schritt in Richtung Turm zu machen. Und dann noch einen. Und noch einen.

Der Schatten färbt den Boden in das Schwarz verbrannter Erde. Selbst das spärliche Gras scheint sich unter ihm zu ducken, und nur verirrt stehen einzelne dürre Holzgerippe von lange schon toten Büschen und Baumkindern, wie die Knochen einer verlorenen Schlacht. Es ist kalt, die Kälte des Todes, sie fährt in meine Glieder, erobert Schritt um Schritt das Feld meines Körpers, bemächtigt sich der Sehnen und Muskeln. Einzig meine rechte Hand glüht wie Feuer, und die Narbe, sie glüht in silbrigen Licht, fast wie ein echter Mond in finstrer Nacht. Ich halte sie hoch, vor mein Gesicht, recke sie dem Turm entgegen, und die Kälte lässt ein wenig nach. Nicht viel, aber es reicht, für noch einen Schritt, und noch einen.

Der Turm heult auf. Wie ein großer, sterbender, alter Bär brüllt er seine Wut in die Welt hinaus. Wind kommt auf, bläst noch mehr Kälte in mein Gesicht, fährt durch meine Kleider, reißt an meinen Haaren.

Und mit dem Wind kommt der Schnee.

Jedenfalls halte ich es für Schnee, zunächst. Weiße Flocken, so groß wie Münzen, wirbeln im Wind auf mich zu. Ich halte die benarbte Hand schützend vor mein Gesicht, und ein paar der Flocken, fangen im silbrigen Licht Feuer und vergehen. Ein paar, aber nicht alle.

Die erste Flocke streift mein Gesicht.

... mein Schwert dringt erschreckend leicht in die Brust des Feindes. Ich fühle durch den Griff, wie Fleisch und Muskeln unter der scharfen Klinge nachgeben. Erstaunt starrt das junge Gesicht auf das Eisen in seiner Brust, dann auf mich, direkt in meine Augen. Und ich weiß, das letzte, was er sieht, ist der Glanz des Triumphs in meinem Blick. Mir ist unsagbar schlecht ...

... ich blinzle verwirrt, stehe wieder im Schatten des Turmes, umzingelt von den weißen Flocken. Immer mehr verglühen, fallen wie kleine Sternschnuppen. Aber es sind zu viele, viel zu viele, und schon jetzt scheint das Fleisch meiner rechten Hand bis auf die Knochen zu brennen. Eine weitere trifft meine Brust ...

... das Mädchen war kaum älter als ich, eine Küchenmagd. Sie bediente uns oft bei den Mahlzeiten, und die Ritter trieben ihre rauen Scherze mit ihr. Sie lächelte, keck, fast anzüglich, wich geschickt den zügellosen Händen aus und sprach nie ein Wort. Bis auf den Abend, an dem sie mich fragt, ob ich nicht später ihre Kammer besuchen wolle.

Am nächsten Tag suche ich vergeblich nach ihr. Ich durchforste jeden Winkel, jede Gasse, stelle Fragen, zu viele, zu unvorsichtig. Sie bleibt verschwunden. Die nächsten Tage sind die härtesten meiner Ausbildung, meine Lehrer treiben mich bis weit über all meine Grenzen hinaus. Aber egal, wie erschlagen ich bin, wie sehr mich jede einzelne Faser meines Körpers schmerzt, ich höre nicht auf, sie zu suchen. Bis mich mein Herr und Ritter zur Seite nimmt. Ich habe ihn oft wütend gesehen, fast wahnsinnig im Kampfesrausch, aber nichts erschreckte mich je so wie dieser kalte, enttäuschte Blick, der nun auf mir ruhte. „Sie ist verbannt“ sagt er nur. Nicht mehr. Ich halte mich an diesem Wort fest, stelle mir vor, wie sie irgendwo ein neues Leben hat, mit einem liebenden Mann, mit Kindern, mit diesem Lächeln, das sie trug, als sie ihr erstes Wort an mich richtete, und auch ihr letztes. Er hat „Verbannt“ gesagt, das weiß ich genau. Es muss so sein ...

... die brennende Fackel, einst meine rechte Hand, reißt mich zurück. Sie ist jetzt kaum mehr zu sehen im blendend weißen Licht der Narbe. Ich brülle auf, vor Schmerz, Wut und Verzweiflung. Brülle ein Wort, aber es klingt nicht wie ein Wort, vielmehr wie der verstandraubende Schrei eines Greifes. Die meisten Fetzen haben sich aufgelöst, nur ein paar halten sich geschickt in meinem Rücken, meinem eigenen Schatten. Aber auch auf ihnen beginnt, die Tusche zu verlaufen, perlt wie schwarze Tränen über ihre zerrissenen Kanten. Einem gelingt es noch, mich im Nacken zu treffen ...

... sie sind sehr nett zu mir, selbst jene, die mich als ihren persönlichen Prügelknaben auserkoren hatten. Ich verstehe zuerst nicht warum.

Dann die Floskeln. „Er war ein großer Mann“, „Schenk den Gerüchten keinen Glauben“, „Du kannst stolz auf ihn sein“, „Halte sein Andenken in Ehren“.

Sie nennen es einen tragischen Unfall.

Auf der Beerdigung, mit allen Ehren, die man sich nur denken kann, großen Reden von Heldentum und Ruhm, sehe ich meinen Vater im offenen Sarg. Ein Mann neben mir lobt flüsternd die Kunstfertigkeit des Leichenbestatters. „Er sieht genau so aus wie zu Lebzeiten“, sagte er. Und mir wird klar, wie schrecklich recht er damit hat. Es macht keinen Unterschied. Ich kann nicht einmal um ihn weinen, zu lange ist er schon tot ...

... der letzte Rest der zerrissenen Seiten vergeht im Licht. Selbst der Schatten des Turmes, der jetzt die ganze Welt einnimmt, scheint ein wenig zurückzuweichen. Und da sehe ich ihn. Er steht am Rand des Turmes, streckt seine hundert und aberhundert abgestorbenen Finger anklagend in die Luft. Er wirkt fast unscheinbar neben dem schwarzen Giganten, perfekt verschmolzen mit Schatten und Stein.

Du musst den Bann fällen.

Aber warum?

Im Augenwinkel sehe ich etwas weißes aufsteigen. Nicht noch einmal, ich kann nicht mehr, schlage mit der gleißenden Hand nach dem vermeintlichen Papier.

Die Feder taucht sachte in das Leuchten ein, berührt wie ein Hauch die Narbe. Der Schmerz löst sich in Wohlgefallen auf. Sie steht am Fenster, kaum eine Armeslänge von mir entfernt. Das blutrote Licht der sterbenden Sonne verleiht ihrem weißen Gewand den Glanz einer Königsrobe. Das lange, schwarze Haar fällt wie ein Wasserfall ihren zierlichen Rücken hinab, lässt nur an einer Stelle das Unschuldsweiß ihres Nackens durchblitzen. Da ist ein Leuchten um sie wie Sternenfeuer, und das Lied von tausend fast unhörbaren Stimmen erfüllt die Luft.

Die Sonne verlischt irgendwo hinter dem Fenster und mit ihr die ganze Welt. Einzig ihr Seufzen, unendlich traurig, enttäuscht und verängstigt, durchdringt das Nichts und zerreißt mein Herz.

 

Ich erwachte mit Tränen in meinen Augen. Ihr Seufzen hallte noch in meinen Ohren, wieder und wieder und wieder. Ich weiß nicht, ob eine Seele das verstehen kann, aber als ich sie sah, ihr Licht, da machte all dieser Wahnsinn auf einmal irgendwie Sinn. Kein Sinn wie Verstand, den man darlegen kann wie einen fein ausgearbeiteten Schlachtplan. Es bleibt Wahnsinn, mit ihr nur um so mehr. Aber es macht Sinn für mich! Sie ist bei Gott das wundervollste, was ich mein Lebtag erblickt habe. So wie die Feder den Schmerz in meiner Hand heilte, so schloss dieser kurze Blick auf sie alle Wunden meiner Seele. Dabei kenne ich noch nicht einmal ihr Gesicht... Nur ihre Trauer. Und ihren Schmerz. Und ihre Angst. Ich würde mein Leben geben, um ihr nur ein einziges Lächeln zu schenken. Ihr seufzen, es klang, als habe sie jedes Lachen schon lange verloren.

So vertieft war ich in dem Nachhall meines Traumes, dass ich das fehlen meiner rechten Hand gar nicht bemerkte. Das heißt, sie fehlt nicht wirklich. Ich konnte sie nur nicht mehr fühlen. Nicht nur das Jucken und Stechen ist verschwunden, nein, jegliches Gefühl scheint ihr abhanden gekommen. Erst als ich mich wie ein Schlafwandler von meiner Pritsche erhob, fühlte ich etwas fremdes, kühles, gegen meine Hüfte schlagen.

Erschrocken starrte ich auf meine Hand. Die Narbe war weiter gewachsen, war nun dick wie ein Daumen und zog sich quer über die ganze Hand. Kleine Adern schlängelten sich wie Giftefeu von ihr weg, auf meine Finger zu und mein Handgelenk.

Und sie war schwarz. Wie ausgebrannt.

Zu Anfang klammerte ich mich an die vage Hoffnung, vielleicht nur falsch auf der Hand eingeschlafen zu sein, das Gefühl würde sich schon wieder einstellen. Weit gefehlt. Es ist bis jetzt noch nicht zurück gekehrt. Zum Glück hatte ich noch genug Vorrat der Salbe, mit welcher der Doktor meine Narbe immer so reichlich bedenkt. Ich trug sie so dick wie möglich auf das Narbengeflecht, und ringsum, mindestens zwei Finger breit. Meine Hand sah danach aus, als habe sie in Haferschleim gebadet, aber diesen Anblick waren schon alle gewohnt, und durch den Tod meines Vaters, meiner Heldentat und knapp entronnenen Tode... nun, selbst wenn es jemandem auffiele, würde er es kaum zur Sprache bringen.

Ich war nicht überrascht, als ich die Feder erblickte, kaum, dass ich mein Quartier verlassen hatte.

Sie lag auf dem Pfad von meiner Tür zum Badehaus, still wie aus Blei gegossen, obwohl ein kräftiger Wind wehte. Wartete auf mich.

Nichts anderes hatte ich erwartet, und dennoch erschreckte mich ihr Anblick ein wenig. Ich dachte an die zerrissenen Seiten, an die eisige Kälte, das tote Land, und all das nur, um nicht an ihn zu denken, den Turm selbst.

Ich stand einfach nur da, regungslos wie die Feder selbst, und starrte sie an. Schließlich sagte ich, mit so fester Stimme wie mir möglich war: „Du bist zu früh. Ich bin nur ein Knappe. Sie ist eine Prinzessin, in einen hohen Turm gesperrt. Ein Knappe ist dieser Geschichte unwürdig.“

Vorsichtig ging ich auf die Feder zu. Sie regte sich immer noch nicht.

„Komm morgen wieder. Mit den ersten Strahlen der Sonne. Dann will ich dir folgen, als Ritter, als würdiger Held. Morgen, hörst du?“

Der Wind legte sich. Leicht wippte der weiche, weiße Flaum mit der letzten Böe. Kurz erhob sie sich ein wenig, aufgewirbelt vom festen Schritt meiner Stiefel, aber sie folgte mir nicht, blieb zurück, nur eine gewöhnliche Feder.

Ich ging ins Badehaus und wusch meinen Körper rein von allem Schmutz der Welt. Dann zum Priester, und entblößte meine Sünden, meine tiefsten Geheimnisse und dunkelsten Gedanken, alles bis auf die Narbe (versteckt unter einer neuen Lage Salbe) und den Turm, aber darin sah ich auch nichts verwerfliches, nicht mehr. Mit reinem Körper und reiner Seele ging ich in die Kirche, kniete mich vor den Altar und betete, um Kraft und Mut und Wahrhaftigkeit, suchte meinen Geist von allen unreinen Gedanken zu befreien. Das war nicht schwer, denn ich konnte nur an das Mädchen mit dem Sternenfeuer denken, und Gott weiß, sie ist so rein wie die Unschuld selbst.

Irgendwann, als die Zeit anfing, ihre Bedeutung zu verlieren, holten sie mich und brachten mich zum Burgherren. Der Moment, auf den ich all die Jahre hingefiebert hatte, war endlich gekommen. Ich wurde zum Ritter geschlagen.

Es bedeutete mir nichts.

Der Burgherr schenkte mir ein scharfes Schwert, eine schimmernde Rüstung und ein rauschendes Fest. Leere Zeichen, die eine bedeutungslose Zeremonie beschlossen und von sinnlosen Glückwünschen, falschem Lächeln und ungelenkem Händeschütteln geziert wurden (ich gab ihnen die linke Hand, und sie nahmen sie dankend entgegen, wenn auch manchmal erst nach einiger Verwirrung, denn keiner wollte gerne in die salbenbeschmierte Rechte greifen). Ich lächelte viel und nickte oft und fragte mich, warum ich nicht schon am Morgen mit der Feder aufgebrochen war. Aber Sehen heißt Begreifen, und Begreifen heißt Glauben, und der Glaube allein weiß auch den letzten Zweifel zu besiegen.

Auch hatte ich einen letzten Wunsch.

Das Fest war laut und ungezügelt, der Wein floss in Strömen, und bald schon gaben meine Kameraden es auf, mich in ihr wildes treiben mit einzubeziehen. Sie schoben meine Zurückhaltung wohl auf meine gerade erst restlos verheilte Wunde und meine fehlende Begeisterung auf den , wie nennen sie es, „tragischen Tod“ meines Vaters.

Ich hatte ihn nie als einen Feigling...

Nein. Dafür ist keine Zeit mehr. Und es ist auch egal. Wichtig ist nur, dass ich mich letztendlich kurz nach Mitternacht vom Fest stehlen konnte, ohne großes Aufsehen zu erregen. Mein Herr und Ritter sah mich, glaube ich, als einziger, und er hob sofort seine Stimme, nicht, um mich zu rufen, sondern um die Aufmerksamkeit aller mit einer seiner berüchtigten Geschichten zu fesseln. Als ich die ersten allzu vertrauten Worte der anzüglichen Anekdote hörte, was das Lächeln auf meinen Lippen zum ersten mal an diesem Abend echt.

Seitdem sitze ich hier und schreibe, wieder einmal mit links. Die rechte Hand ist jetzt bis zum letzten Finger bedeckt von einem feinen Netz aus schwarzen Narben, und die ersten Ausläufer haben die Grenze des Handgelenks schon überschritten. Es sind noch drei Stunden bis Sonnenaufgang. Vielleicht hätte ich schlafen sollen, anstatt all das hier noch zu schreiben, aber ich bin es mir schuldig, mir all das noch einmal vor Augen zu führen. Nach dem Fest wird es ein leichtes sein, sich bei Sonnenaufgang aus der Burg zu stehlen, aber mein Fehlen wird kaum unbemerkt bleiben, und wer weiß, wie lange ich fort bin. Ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach meine Ritterehren schneller wieder verlieren als sie mir verliehen wurden. Und das wäre noch der kleinste Verlust. Da wäre noch mein Arm. Mein Leben. Und, meine Seele.

All das bin ich bereit, einzusetzen. Aber nur um einen Preis. Horch auf Feder, was ich dir nun zu sagen habe. Morgen werde ich mit dir gehen, aber jetzt, die letzten Stunden bis Sonnenaufgang, will ich sie sehen. Bring mich zu ihr, so wie du es schon einmal getan hast.

Mehr verlange ich nicht.

 

Endspiel:

 

Die nächste Seite ist leer, und auch jede andere, die noch folgt.

Sie schlägt das Buch zu, legt es auf die Brust des erschlagenen Helden und faltet vorsichtig seine Hände darüber, wie um es fest an sein Herz zu pressen. Irgendwo in weiter Ferne vergehen langsam die letzten Sonnenstrahlen.

Vorsichtig steht sie auf, streift selbstvergessen den Staub und die Erde von ihrem weißen Kleid. Lässt ihren Blick kreisen, rings herum, über die weit verstreuten Trümmer des Himmelsturms, nicht mehr als vage Schatten im Dämmerlicht.

Dann wendet sie sich der Leiche zu, die halb begraben unter den Trümmern liegt, doch nicht mehr lange, die Tiere und Insekten werden kommen und die leere Hülle von neuem einbinden in den Kreis des Lebens.

„Ich erinnere mich“, sagt sie, fast entschuldigend. „Aber es ist anders als in deinem Buch. Nicht so geordnet. In mir passiert alles gleichzeitig, tausend deiner Leben in nur einem Moment. Es ist schwer...“

Sie schluckt, wendet sich ab, dreht sich dann doch wieder um. Unruhig streicht sie über ihr Kleid, dass schon längst wieder so strahlend weiß leuchtet wie eh und je.

„Es tut mir leid“, flüstert sie, und greift an ihre Stirn, „Du bist da drinnen, irgendwo. Ich kenne dich, ja, vielleicht mochte ich dich auch. Aber ich kann dich nicht finden. Du bist wie eine Faser in einem riesigen Teppich, ein Teil seiner Schönheit, begraben unter all der Erinnerung, aber...“

Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Schaut überrascht auf die glänzende Träne, die darauf zurückbleibt und dann, langsam, an der Seite hinabrinnt.

Etwas dunkles verzerrt ihr Gesicht. Ihre Augen werden hart, die Lippen schmal wie Striche, und sie schreit, „Warum?“ schreit sie, grell und beißend, „Warum hast du das getan? Du hast ja keine Ahnung...“ und so schnell, wie der Schatten gekommen ist, verschwindet er auch wieder, spurlos, lässt sie rein und unbefleckt zurück.

„Nein,“ und wieder flüstert sie, „du hattest keine Ahnung. Und ich hatte es vergessen. Hatte alles vergessen. Es tut mir leid.“

Sie beugt sich noch ein letztes Mal über seinen zerschlagenen Körper. Streift mir ihrem Handrücken über seine Wange, hinterlässt die Spur der Träne auf seiner kalten Haut. Fährt mit den Fingerspitzen noch kurz über das Buch.

„Ich werde Dich niemals vergessen.“

Dann geht sie, geht in die Nacht. Kein Blick zurück. Lässt uns zurück, als stumme Wächter auf diesem Feld der Seelen.

 

 

Epilog:

 

Er schaut ihr noch lange nach. Die Dunkelheit stört ihn nicht, er hat ja keine Augen mehr, die das Licht reflektieren. Hätte er noch sein Herz, es würde ihm in der Seele zerspringen, und er würde ihr nachlaufen, wenn er noch Beine hätte. So aber kann er nicht anders, als über seinem Körper zu wachen, der ihn an sich bindet, und ihr mit seinem Sehen zu folgen.

Etwas scheint ihn zu irritieren, und er lässt ab von ihr, richtet seine Aufmerksamkeit um sich herum, und dann, auf mich.

„Du bist die Feder“

Keine Frage. Eine Feststellung, sachlich, kühl.

Ich bejahe.

„Wo sind die anderen?“

Er spielt auf die tausend und abertausend Seelen an, den Sturm. All jene, die, wie nun auch er, ihr Leben für sie gaben. Sie haben ihm übel mitgespielt auf dem Weg zum Turm. Doch als der Turm fiel, lösten sie sich auf, so schnell wie ein Gedanke. Nur ich blieb. Vielleicht, weil ich gelernt habe, mich von dem Turm zu lösen, ein Stück weit zumindest. Vielleicht, weil ich von Anfang an anders war. Oder einfach, um die Seele des Ritters heimzuführen. Ich weiß es nicht.

Er nickt, oder hätte genickt, wenn er über Hals und Kopf verfügen würde. Es ist schwer, von diesen Vorstellungen abzulassen, diesen Gesten, der Sprache des Körpers, die wir ein Leben lang verwenden, ohne es wirklich zu merken. Aber ich spürte sein Verständnis auch so.

„Warum das alles?“

Er wird schwächer. Wie eine Kerze, die sich flackernd dem Ende nähert.

Ihr Bild, wie sie am Fenster steht. Ihr endlos trauriger Blick auf die sterbende Sonne, die maßlose Enttäuschung, wenn die Dunkelheit sie umfängt. Und ihr Seufzen, ein Klang wie das Zerbrechen aller Hoffnung der Welt.

Er nickt, erinnert sich. Aber er hat es nur einmal gesehen, nur kurz, und nicht ihre Augen, nicht immer und immer und immer wieder ihre Augen, wie das Licht aus ihnen schwindet und sie leer zurück lässt. Jeden Tag aufs neue. Und dann, ein Bild, das er noch nicht kennt. Die ersten Strahlen der Morgensonne, wie sie über ihre Augen gleiten, wie ihre Lider aufspringen, flattern wie zwei Schmetterlinge, und ihr Lächeln... nur ganz zart, fast unmerklich, heben sich ihre Mundwinkel. Wie schön dieses Lächeln sie macht.

Ich ertrug es nicht mehr. Dafür liebte ich sie zu sehr. Vielleicht war das der Unterschied? Vielleicht liebte ich sie als einziger wirklich? Ich wollte sie einfach nur befreien. Den Bann fällen. Die Traurigkeit aus ihrem Blick reißen. Sie wieder vollkommen machen.

Seine Seele ist kaum mehr ein Funken, aber noch lässt er nicht los. Ich spüre die unzähligen Fragen in ihm, aber eine, eine letzte, brennt heller als alle anderen.

„Warum ich?“

Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, und so antworte ich direkt.

„Ich weiß es nicht. Sie hat dich auserkoren.“

Bei diesen Worten strahlt seine Seele, und leuchtet hell wie ein Stern, und steigt auf. Und vergeht.

Dann ist auch er verschwunden, lässt mich allein zurück, im Feld der Seelen.

Ich warte ein wenig. Und noch ein wenig länger.

Keine Engelsscharen, die mich mit sich nehmen. Kein Auflösen im Nichts.

Es scheint noch nicht vorbei.

Nun denn, es bleibt noch eine Geschichte zu erzählen, und auf die bin ich selbst sehr neugierig.

Und so folge ich ihr.

 

© Der “Der NachtPoet” Stefan Brinkmann, 03.04.2003, 10:55 Uhr

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